«Transatlantic»: Ist es wichtig, ob Varian Fry schwul war?
Zur Sexualität des Weltkriegshelden ist eine spannende Debatte entbrannt
Jetzt ist also Varian Fry (1907-1967) als der schwule Retter von tausenden Juden vor der Nazi-Verfolgung in aller Munde, dank der neuen Netflix-Miniserie «Transatlantic» (MANNSCHAFT berichtete). Aber wie kann es sein, dass Fry zwar schon lange berühmt, aber nie als LGBTIQ-Held gefeiert wurde?
Im Berliner Bezirk Tiergarten wurde 1997 am Potsdamer Platz bei der Neubebauung des Areals ein Stück Strasse umbenannt in Varian-Fry-Strasse. Jede*r Besucher*in der Filmfestspiele kommt daran zwangsläufig vorbei. Eine Gedenktafel erinnert daran, dass der US-amerikanische Journalist aus begüterten Verhältnissen in den Jahren 1940/41 in Frankreich das Emergency Rescue Committee leitete und Flüchtlingen half, Visa für die USA zu bekommen, darunter extrem prominente Namen, denn das ERC wollte gezielt bedeutende Künstler*innen, Intellektuelle und Schriftsteller*innen retten von der totalen Vernichtung, bei der das Vichy-Regime in Südfrankreich unrühmlich mithalf.
1945 veröffentlichte Fry unter dem Titel «Surrender on Demand» («Auslieferung auf Verlangen») ein Buch über seine Zeit in Frankreich. 1968 gab der amerikanische Schulbuchverleger Scholastic eine Taschenbuchausgabe unter dem Titel «Assignment: Rescue» heraus; in der Folge sind viele Auflagen unter beiden Titeln erschienen.
Ein «amerikanischer Schindler» In seinem Todesjahr wurde Fry 1967 für seinen «heldenhaften Beitrag für die Freiheit» in die französische Ehrenlegion aufgenommen. Danach geriet er lange in Vergessenheit, bis seine Taten durch die Veröffentlichung des Buchs «Crossroads Marseilles 1940» von seiner ERC-Mitstreiterin Mary Jayne Gold 1980 wieder bekannter wurden. Man bezeichnete ihn nun teilweise als «amerikanischer Schindler». 1994 war Varian Fry der erste US-Bürger, der unter die Gerechten unter den Völkern in Israels Holocaust-Mahnmal Yad Vashem aufgenommen wurde.
Das Aktive Museum Faschismus und Widerstand in Berlin zeigte 2007 in der Akademie der Künste am Pariser Platz die Ausstellung «Ohne zu zögern. Varian Fry: Berlin-Marseille-New York». Das Schwule Museum (SMU), das sich unter den Kuratoren Wolfgang Theis und Andreas Sternweiler sehr ausführlich und wiederholt mit der NS-Geschichte auseinandergesetzt hat, bot derweil nie eine Fry-Ausstellung. Er kam auch als Name bislang nicht in den diversen Übersichtsausstellungen zur LGBTIQ-Geschichte vor. Selbst 2015 nicht im Deutschen Historischen Museum (DHM), wo’s bei «Homosexualität_en» (in Kooperation mit dem SMU) sogar einen eigenen Raum zum Thema Nationalsozialismus und LGBTIQ gab. Auch Robert Beachy nennt Fry nicht in seinem Buch «Gay Berlin: Birthplace of a Modern Identity», gleichwohl Fry 1935 nach Berlin kam und von dort für die New York Times schrieb.
Wusste niemand, dass Fry schwul war? Und ist es überhaupt wichtig, wie die New York Times dann 2019 in einer prägnanten Überschrift fragte?
Wie im DHM in «Homosexualität_en» zu erfahren war, verweigerten sich nach dem Krieg viele Opferverbände Plänen, in den ehemaligen KZs Gedenktafeln für die ermordeten Homosexuellen aufzustellen. Man wollte mit solche «Perversen» nicht in einen Topf geworfen werden (MANNSCHAFT berichtete).
Sorge darüber, dass das Andenken beschmutzt werden könnte Noch 2018 berichtete die tschechische Historikerin Anna Hájková im Tagesspiegel von ihren Rechercheversuchen zum schwulen KZ-Liebespaar Jan Mautner und Fredy Hirsch. «Die einzigen Menschen, die sich heute (an Mautner und Hirsch) erinnern könnten, sind Theresienstädter Überlebende. Doch eine Anfrage an die Theresienstädter Initiative, die tschechische Vereinigung der Holocaustüberlebenden, in ihrem Newsletter nach Zeugen des Paares suchen zu wollen, wurde überraschenderweise zunächst zurückgewiesen. Eine Überlebende legte ihr Veto ein. Auch wenn alle wüssten, dass Hirsch schwul gewesen war, so sollte darüber nicht gesprochen werden. Das würde ‹sein Andenken beschmutzen›», so Hájková.
Sprachen auch die vielen prominenten Menschen, denen Varian Fry bei der Flucht aus Frankreich half, später nicht über ihn, weil sie nicht mit einem Homosexuellen assoziiert werden wollten – Leute wie Hannah Arendt, Franz Werfel, Jacques Lifschitz, Golo Mann, Lion Feuchtwanger, Max Ernst, Marc Chagall, Arthur Koestler, Marcel Duchamp, André Breton, Alma Mahler, Claude Lévi-Strauss, Max Ophüls usw.? Hätte Fry die verschiedenen Ehrungen erhalten in den homophoben 1960er und 80er Jahren, wenn seine Nicht-Heterosexualität bekannt gewesen wäre? Hätte das Wissen darüber seine herausragende humanistische Leistung in irgendeiner Weise geschmälert? An diesen Fragen erkennt man, dass das Reden und Schweigen über Homosexualität durchaus ein Politikum ist bzw. war.
«The Flight Portfolio» Wirklich öffentlich machte das Thema erst Julie Orringer in ihrem Roman «The Flight Portfolio» 2019, der die Basis für die neue Netflix-Serie liefert. Ihr fiktional erweiterter Varian Fry hat im Roman einen Liebhaber, der in der Serienfassung Thomas Lovegrove heisst und fiktiv ist. (Im Roman ist sein Name Elliott Grant, ebenfalls fiktiv.) In ihrer Rezension des Buchs kritisierte Cynthia Ozick in der New York Times diese künstlerischen Freiheit von Orringer bei einer Figur, die so stark auf wahren Begebenheiten beruht. Zwar habe es zu Frys Homosexualität «hier und da» Gerüchte gegeben, aber diese seien nicht belastbar. Daraus nun eine das ganze Buch durchziehende Lovestory zu machen, findet Ozick bedenklich. In der Serie ist diese Lovestory gleichfalls omnipräsent.
Mehr noch: Im «Making of» zur Serie (ebenfalls bei Netflix abrufbar) erzählt der Lovegrove-Darsteller Amit Rahav, dass man versucht habe, die Zuschauer*innen dazu zu bringen, sich auf die Seite von Fry und seinem Partner zu schlagen – «sie sollen sich wünschen, dass diese Beziehung erfolgreich endet», so Rahav. Der auch sagt, ein solches positives Gefühl für die beiden Figuren stehe im Kontrast zu einer Zeit, «die nicht wirklich wohlwollend zu Homosexuellen war».
Nach der Rezension von Cynthia Ozick gab es eine öffentliche Debatte zur Homosexualitätsfrage rund um Fry. Es ging und geht dabei auch um die Grundsatzfrage, wie man in Biografien oder biografischen Romanen über Nicht-Heterosexualität von realen Charakteren sprechen soll, wenn diese in Zeiten lebten, wo eine entsprechende sexuelle Orientierung kriminalisiert wurde und Familien bzw. Freunde alles taten, um jegliche Hinweise zu vernichten.
«Halbseidene Atmosphäre» In ihrem Buch «Staging Desire» schrieben Kim Marra und Robert A. Schanke 2002, dass man als LGBTIQ-Forscher*in gezwungen sei, zwischen den Zeilen zu lesen und nach Codes zu suchen, die Hinweise auf queere Aspekte eines Lebens enthalten. Marra und Schanke schliessen hier Gerüchte explizit ein und meinen, Gerüchte seien die «inoffizielle Geschichtsschreibung» von LGBTIQ, weil die entsprechenden Themen in offiziellen Geschichtsbüchern bewusst ausgeblendet wurden, da tabu. Aus deutscher Forschungsperspektive widersprach die lesbische Wissenschaftlerin Eva Rieger vehement: «Der Hinweis, man dürfe Gerüchte nicht ignorieren, führt (…) zu unbelegten Mutmassungen.» Riegers Befürchtung ist, dass eine dadurch kreierte «halbseidene Atmosphäre» von der heterosexuellen Mehrheitsgemeinschaft «verächtlich lächelnd goutiert und zugleich moralisch verurteilt» werden könnte.
In einem Leserbrief an die New York Times erläuterte 2019 der mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete LGBTIQ-Romancier Andrew Sean Greer die Problematik in Bezug auf Varian Fry. Er schreibt: «Ozick ist besorgt, weil der fiktionale Fry hier als schwul dargestellt wird, obwohl es dafür nur vage Hinweise gibt und sicher keine echten Beweise.»
«Es ist fast unmöglich die persönlichen Geschichten von LGBTIQ zu dokumentieren, weil sie diese verbrannt, unterdrückt, nicht aufgeschrieben, nicht mitbedacht oder ausradiert bzw. ihnen ein Existenzrecht abgesprochen wurde», so Greer. «Queersein wurde absichtlich ausgelöscht, deshalb ist es in den meisten Fällen richtig zu behaupten, es gäbe keine Beweise.» Darum hält Greer das, was Orringer in ihrem «gut recherchierten Roman» tut, für wichtig und absolut gerechtfertigt.
«Humanität statt Homosexualität» Dem widerspricht in der New York Times Sheila Isenberg, Frys Biografin und Autorin des Buchs «A Hero of Our Own». Sie behauptet, sie habe mit Frys zweiter Ehefrau Annette Riley Fry gesprochen und auch die Korrespondenz mit seiner ersten Frau, Eileen Hughes, genau studiert. Ausserdem habe sie mit vielen Menschen gesprochen, die mit Fry im Emergency Rescue Committee gearbeitet hätten. Sie fand «keine Beweise für Homosexualität». Auch nicht in Gesprächen mit den Menschen, die Fry vorm Holocaust rettete. Deshalb habe sie ihr Buch vollständig auf Frys «Humanität» fokussiert, sagt Isenberg, und auf den Mut, mit dem Fry «die vielen Männer, Frauen und Kinder vor Gefängnis und Tod» bewahrt habe.
Hier stehen sich die oben beschriebenen Positionen unversöhnlich gegenüber. Allerdings liegt der Fall Fry insofern anders, als sich hier in der New York Times auch sein Sohn James D. Fry prominent zu Wort meldete und tatsächlich öffentlich konstatierte: «Ja, mein Vater war ein ungeouteter Homosexueller.» Das habe Fry Jr. als junger Mann begriffen, nachdem sein Vater gestorben war – «durch etliche Hinweise, viele davon waren Forschenden niemals zugänglich», so der Sohn.
James Fry schreibt weiter, dass er nicht erkennen könne, wie die Homosexualität seines Vaters in irgendeiner Form «die moralische Klarheit seiner Arbeit» in Marseilles 1940/41 trüben könnte oder «seinen Nachruhm beschmutzen» würde: «Sind wir nicht über den Zeitpunkt hinaus, wo wir Homosexualität als etwas Beschämendes ansehen?», fragt James Fry.
«Geistigen Zusammenbruch besser verstehen» «Für mich war der wichtigste Aspekt daran, dass mein Vater ein Doppelleben führte, dass mir die Erkenntnis dazu geholfen hat, das menschliche Wrack, als das ich meinen Vater erlebte (er starb als ich neun war), mit dem Helden zu versöhnen, der Leben rettete», so James Fry. «Mein Vater hatte gut dokumentierte Anzeichen von Bipolarität. Wenn man den psychologischen Stress dazurechnet, dem ungeoutete homosexuelle Menschen Mitte des 20. Jahrhunderts in den USA ausgesetzt waren, dann versteht man seinen geistigen Zusammenbruch ganz gut.»
In der Serie «Transatlantic» – die ausschliesslich in den Jahren 1940/41 spielt und nichts von Frys späterem Leben erzählt, als er wieder in den USA war – sieht man von diesem Zusammenbruch nichts. Aber man sieht sehr wohl, wie er sich entscheiden muss zwischen einem Leben mit Lovegrove und einer vorgespielten Heteronormativität. Der grandiose Cory Michael Smith als Varian Fry fragt seinen Liebhaber in einer der beklemmendsten Szenen am Schluss der Serie, wie das mit den beiden denn funktionieren solle «im wirklichen Leben» jenseits von Marseille und dem ERC. Lovegrove antwortet, eine neue Zeit sei herangebrochen, eine «neue Welt» tue sich auf: «Die alten Regeln gelten nicht mehr – wir müssen unseren Kompass in uns selbst finden!»
In dieser Hinsicht ist «Transatlantic» sicher auch eine Metapher fürs Hier und Heute, wie’s im «Making of» heisst. Und man darf gespannt sein, ob das SMU Varian Fry in die neue geplante Dauerausstellung aufnehmen wird, als überragenden LGBTIQ-Held.
Ein Verdienst der Netflix-Serie ist es, die gesamte Geschichte und (!) die schwule Liebesgeschichte bei aller Tragik der Ereignisse permanent in wunderbare Feelgood-Bilder zu fassen, die einen als Zuschauer*innen nicht in die Depression ziehen, sondern ein «Gefühl von Leichtigkeit» vermitteln, inmitten dieses «Alptraums im Paradies».
Entsprechend beissen Fry und Lovegrove am Ende auch in einem paradiesischen Garten in einer roten Apfel.
Derzeit wird die tiefbewegende und tragische Liebesgeschichte von zwei schwulen Männern in Zeiten der homophoben McCarthy-Ära in den USA der 1950er Jahre verfilmt mit Matt Bomer und Jonathan Bailey, Titel: «Fellow Travelers» (MANNSCHAFT berichtete).
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