Richard Dawkins und der transphobe Tweet: Canceln? Aufklären!

Der ehemalige Oxford-Professor muss Lernbereitschaft signalisieren.

Richard Dawkins verliert wegen eines transphoben Tweets seinen Titel als «Humanist des Jahres». Weshalb man den berühmten Evolutionsbiologen nicht gleich «canceln» sollte, schreibt Silvan Hess in seinem Samstagskommentar.*

Es tut immer weh, wenn ein Mensch, den man aufrichtig bewundert, mal so richtigen Bockmist von sich gibt. Vor allem, wenn er es eigentlich besser wissen sollte. Richard Dawkins: Evolutionsbiologe, bekanntester Verfechter des «Neuen Atheismus», Oxford-Professor und gemäss Prospect-Magazin seit 2013 «der wichtigste Denker der Welt». Ein Mann, der wissenschaftliche Texte in Poesie verwandelt und mit bewundernswerter Geduld und rhetorischem Geschick mit starrsinnigen Kreationist*innen debattiert. Ein Meister der langen Form, der auf Twitter mit wenigen Zeichen viele seiner Fans irritiert und enttäuscht hat.

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Verletzender Vergleich Im Tweet vom 10. April vergleicht Richard Dawkins trans Menschen mit Rachel Dolezal. Die Bürgerrechtsaktivistin gab sich als Afroamerikanerin aus, behauptete, dass ihr Vater schwarz wäre. Als 2015 publik wurde, dass sowohl ihre Mutter als auch ihr Vater weiss sind, sagte Dolezal, sie würde sich jedoch «als schwarz identifizieren». Nicht diese Aussage ist das Problem bei Dolezal, sondern der Umstand, dass sie gelogen hat – vermutlich, um ihre Laufbahn als einflussreiche «afroamerikanische» Bürgerrechtsaktivistin zu begünstigen.

Und hier wird klar, weshalb Dawkins’ Vergleich für die trans Community so verletzend ist: Trans Menschen wollen nicht einfach eine Geschlechtsangleichung, weil es ihnen gerade danach ist. Oder weil sie sich davon einen Vorteil erhoffen. Im Gegenteil entscheiden sie sich für eine Transition gerade trotz den bestehenden Vorurteilen und Diskriminierungen in der Gesellschaft.

Schier unverzeihliche Wissenslücke Dawkins tweetet weiter: «Einige Männer entscheiden sich, sich als Frauen zu identifizieren, und einige Frauen entscheiden sich, sich als Männer zu identifizieren. Man wird verunglimpft, wenn man leugnet, dass sie wortwörtlich das sind, als was sie sich identifizieren.» Dann endet er den Tweet mit einer Aufforderung: «Diskutiert.»

Ich kann es kaum glauben, dass ich das über Richard Dawkins schreiben muss: Diese Aussage ist ignorant. Trans Personen entscheiden sich nicht dafür, ein Mann oder eine Frau zu sein, sie sind es! Für den «wichtigsten Denker der Welt» eine schier unverzeihliche Wissenslücke.

Parallelen zu Rowling Diese Geschichte weist einige Parallelen zum Twitter-Debakel vom J. K. Rowling auf. Auch sie für Hunderttausende ein Vorbild, auch sie twittert sich völlig unmotiviert transphob ins Abseits (MANNSCHAFT berichtete). Doch man darf nicht die Intention aus den Augen verlieren – und da gibt es zwischen den beiden doch signifikante qualitative Unterschiede.

Rowling ging es um Provokation und um billige Lacher aus der rechten Ecke. Dawkins indes stellt mit seinem Imperativ «discuss» seine Ansichten zur Debatte. Diese vermeintliche Absicht wird natürlich von der Entschiedenheit seiner Aussage unterwandert. Die Aufforderung zur Diskussion erscheint dann eher wie ein Schutzwall, der ihn vor Transphobie-Anschuldigungen bewahren sollten. Das hat nicht funktioniert.

In einem zweiten Tweet zwei Tage später schrieb Dawkins, dass es nicht seine Absicht sei, trans Personen herabzusetzen. Er wolle sich auch nicht mit republikanischen Fanatiker*innen zusammenschliessen, die dieses Thema instrumentalisierten.

Aufklären statt canceln! Anfang Woche verkündete die American Humanist Association, dass Dawkins aufgrund des Tweets vom 10. April nicht länger den Titel «Humanist des Jahres 1996» trägt. Die konservativen Medien frohlocken schadenfroh: «Atheisten canceln Dawkins!»

Nein, man sollte Richard Dawkins für diesen Tweet nicht «canceln». Dazu fehlt schon eine eindeutig bösartige Absicht. Aber der 80-jährige Herr Professor muss Lernbereitschaft signalisieren – und zwar schnell und deutlich. Sonst steht er auf einer Stufe mit den Fakten-Verweiger*innen, die er in seinem Lebenswerk so oft angeprangert hat.

Einige Weggefährt*innen nehmen Dawkins öffentlich in Schutz; beispielsweise der Philosoph Sam Harris. Aus Kollegialität? Oder muss Richard Dawkins zwecks Aufrechterhaltung seines Heldenstatus einfach immer recht haben? Das wäre das Gegenteil von kritischem Denken und damit das Gegenteil von dem, was Dawkins ein Leben lang lehrte.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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