«Nelly & Nadine» und «Nico» bei Pink Apple Film Festival 2022 geehrt

Das sind die Preisträger*innen der 25. Ausgabe

«Egúngún»
«Egúngún»

Die Jubiläumsausgabe des Pink Apple Filmfestivals ist am Sonntag nach zwei Tagen Programm in Frauenfeld erfolgreich zu Ende gegangen. Zuvor fand das Festival vom 26. April bis zum 5. Mai in Zürich statt.

Von Sarah Stutte

Nach zwei reduzierten Jahren aufgrund der Pandemie konnte diesmal wieder in gewohntem Rahmen stattfinden, mit Begegnungen vor Ort und einem umfangreichen Rahmenprogramm. Insgesamt besuchten rund 9.000 Besucher*innen die knapp 150 Veranstaltungen in Zürich und Frauenfeld und zeigten damit – so die Veranstalter – wie sehr ihnen das Pink Apple als queerer Begegnungsort gefehlt hätte. Den Pink Apple Award Festival Award ging dieses Jahr an die Berliner Regisseurin und Drehbuchschreiberin Angelina Maccarone* (siehe unten). Den Kurzfilmpreis gewann der nigerianische «Egúngún» von Olive Nwosu. Die Publikumspreise sicherten sich in Zürich der deutsche Spielfilm «Nico» und der Dokumentarfilm «Nelly & Nadine». Letzterer wurde auch in Frauenfeld zum Lieblingsfilm ernannt.

Nico
Nico

«Nico» Die Deutsch-Perserin Nico lebt in Berlin und ist eine lockere Frohnatur, die ihren Job als Altenpflegerin liebt und sich durchzusetzen weiss. Ihr Selbstwertgefühl wird aber jäh erschüttert, als sie am hellichten Tag von zwei Männern und einer jungen Frau erst beschimpft und dann brutal zusammengeschlagen wird. Der unerwartete Angriff – gefilmt in Unschärfen und Schnitten – schockiert Nico so massiv, dass der Geist der Rebellion, der in ihr schlummert, daran zerbricht. In der Folge zieht sie sich von ihrer besten Freundin Rosa zurück und ist auch auf der Arbeit nicht mehr dieselbe. Erst durch ein Karatetraining und der Begegnung mit der Mazedonierin Ronny wird sie allmählich wieder selbstbewusster. Bis sie herausfindet, dass Ronny ihr gegenüber nicht ganz ehrlich war. Das Langfilmdebüt von Eline Gehring wurde von ihr, zusammen mit Francy Fabritz sowie Sara Fazilat geschrieben. Letztere spielt gleichzeitig die Hauptrolle und zeigt darin authentisch ihren inneren Kampf auf.

«Nico» ist eine energetisch-schmerzvoll erzählte Geschichte über die Folgen eines Traumas, die keinen einfachen Ausweg aus der Wut und Frustration bietet, sondern aufzeigt, dass Stärke aus einem selbst erwachsen muss. (ab 12. Mai in deutschen Kinos)

«Nelly & Nadine» Nelly Mousset-Vos und Nadine Hwang lernen sich während des Zweiten Weltkriegs im Konzentrationslager Ravensbrück kennen und verlieben sich dort ineinander. Später werden sie getrennt, unabhängig voneinander befreit und finden sich wieder, um gemeinsam in Venezuela zu leben. In der Dokumentation des schwedischen Filmemachers Magnus Gertten macht sich die Sylvie Bianchi, die Enkelin von Nelly Mousset-Vos, auf Spurensuche dieser unglaublichen Geschichte. Zwar zögert sie erst, sich der Vergangenheit zu stellen, die sie selbst emotional bewegt. Dann aber öffnet sie die alten Holztruhen auf ihrem Dachboden, sieht die Fotos und Dokumente durch und reist zu Gesprächen mit Weggefährten. Dadurch schafft Gertten eine berührende Brücke in die Gegenwart, in der Bianchi und andere Angehörige vieles in Erfahrung bringt, was vorher lange im Verborgenen ruhte.

Schon 2015 versuchte der Regisseur mit seinem Dokumentarfilm «Every Face Has a Name», Überlebende des 2. Weltkriegs ausfindig zu machen. Der Film zeigte Archivmaterial der schwedischen Frauen, die 1945 nach ihrer Rettung aus den Konzentrationslagern im Hafen von Malmö ankamen. Diesen sah Sylvie Bianchi, erkannte darauf Nadine Hwang und rettete so ihre Geschichte vor dem Vergessen.

«The World to Come» 1856 in den noch unbebauten Weiten von Shoharie County/New York. Hier bewirtschaftet Abigail zusammen mit ihrem Mann Dyer eine Farm. Das Ehepaar hat sich nach dem Tod ihrer kleinen Tochter zunehmend entfremdet und flüchtet sich in die tägliche Arbeit. Das Leben ist mühsam, die Winter sind hart. Abigails Melancholie wird durchbrochen, als sie eine neue Nachbarin bekommt – die freigeistige Tallie. Zwischen den beiden Frauen entwickelt sich erst eine zarte Freundschaft, dann eine leidenschaftliche heimliche Liebe. Doch dann verschwinden Tallie und deren kontrollsüchtiger Ehemann eines Tages und Abigail verzweifelt aus Sorge und Sehnsucht.

Mona Fastvolds Drama mit Katherine Waterston, Vanessa Kirby und Casey Affleck in den Hauptrollen (der den Film auch mitproduziert hat) ist eine wunderschön fotografierte, poetisch-tragische Liebesgeschichte, die der Schroffheit der Landschaft tiefe Gefühle entgegensetzt. Die schauspielerischen Leistungen sind herausragend, doch besonders Waterstons kraftvoll-sensible Darbietung prägt das Gefühl für die Geschichte und das Leben in einer Zeit, die von Männern bestimmt und gelenkt wird. Die Hoffnung offenbart sich hier in wenigen gestohlenen Stunden des Glücks und in der Erinnerung. (Als Streaming verfügbar, bspw. YouTube)

«Flee» In dem animierten Dokumentarfilm des dänisch-französischen Filmemachers Jonas Poher Rasmussen erzählt ein Mann mittleren Alters, der inzwischen in Dänemark zusammen mit seinem Freund lebt, von seiner Kindheit in Afghanistan und traumatischen Erfahrungen. Die Geschichte beruht auf einer wahren Begebenheit. Rasmussen führte dazu eine lange Reihe intimer Interviews mit dem im Film pseudonymisierten «Amin Nawabi», den er seit der Mittelschule kannte, der aber seine Vergangenheit für sich behalten hatte. Dessen Erinnerungen sind lebendig und voller Details, die sich wunderbar auf die Leinwand übertragen lassen: das Drachensteigenlassen über den Dächern von Kabul, das sehnsuchtsvolle Betrachten von Postern mit Jean-Claude Van Damme; der stoische Mut seines Vaters gegen die Mudschaheddin. Diese Szenen sind in scharfen, schnörkellosen 2D-Animationen dargestellt, deren Klarheit einer eher abstrakten Darstellung weicht, wenn Amin sich an die Schrecken erinnert, die er und seine Familie auf der Flucht aus Afghanistan erlebten.

«Flee» gewann zahlreiche internationale Preise und war dreimal für den Oscar nominiert. Ohne die kunstvolle Form der Animation, die ihm Anonymität bietet, hätte sich der Protagonist vielleicht nie mit seinen Gespenstern konfrontiert. (Kinostart Schweiz: 21. Juli)

«Les Meilleures (Besties)» Nedjma verbringt den Sommer in Paris damit, mit ihren Freundinnen im Park abzuhängen und Ausflüge zum Strand zu planen. Dann zieht Zina neu in ihren Block, deren Cousine die Anführerin einer rivalisierenden Mädchengang ist. Dass sich die beiden auf Anhieb gut verstehen, birgt schon sehr bald Konflikte. Erst recht, als sich aus dieser anfänglichen Sympathie ernstere Gefühle entwickeln. Erfrischend ist an dieser Coming of Age-Story über junge Frauen mit Migrationshintergrund, dass die sexuelle Orientierung hier nicht vorderhand mit traditionellen Werten kollidiert. Die Zuneigung der beiden füreinander wird fast als natürliche Begebenheit dargestellt, die Probleme äussern sich im familiären und freundschaftlichen Umfeld anderweitig. Der Alltag und Umgang miteinander in einem Viertel, das als sozialer Brennpunkt dargestellt wird, wirkt realistisch und eröffnet einen interessanten Einblick in die sozioökonomischen Unterschiede der Stadt. Auch die beiden Hauptdarstellerinnen stellen nuanciert die Zerrissenheit ihrer Figuren dar und verlieren sich zum Schluss nicht in einer aufgesetzten Unglaubwürdigkeit, sondern in einer queeren Lebensrealität, die irgendwo dazwischen liegt.

Neptune Frost» Der in Ruanda gedrehte und dort spielende Film erzählt von zwei Männern, die sich auf zwei parallele Reisen begeben: Neptun und Matalusa. Beide Aufbrüche beginnen mit Gewaltakten und der Erfahrung des Verlusts. Schon die Eröffnungsszene lässt erahnen, welchen poetischen Weg «Neptune Frost» einschlägt. Vergangenheit und Zukunft, Fantasie und Realität, Trauer, Tod und andere Dimensionen vereinen sich hier. Das Regiedebüt von Saul Williams und Anisia Uzeyman widersetzt sich der Bequemlichkeit des linearen Geschichtenerzählens. Während die Handlung schwer fassbar ist, sind die musikalischen Zwischenspiele beeindruckend. Bergleute singen einen Sprechgesang, zu dem Trommler in der Nähe den Takt halten. Studenten drängen mit einem rhythmischen Protest, den Neptun zu summen beginnt, gegen die Polizei. Der afrofuturistische Spielfilm vereint Science-Fiction, Tanz und allegorische Elemente miteinander und setzt sich mit Themen wie Krieg, Kapitalismus, Identität und Befreiung auseinander. Auf diese Weise ist er wie ein Traum: unruhig und fiebrig, ergreifend schön und rätselhaft.

Die Berliner Filmemacherin Angelina Maccarone wurde während des Festivals mit dem Pink Apple Award ausgezeichnet. Zudem zeigte eine Retrospektive sechs ihrer Filme. Mit dem Preis ehrt das Festival jährlich Filmschaffende, die sich um das queere Kino verdient gemacht haben. In ihrem Fall trifft das unbedingt zu. Angelina Maccarone schrieb mit ihrem Debüt «Kommt Mausi raus?!» 1995 ein Stück queere TV-Geschichte und schuf auch in der Folge immer wieder Figuren, die bis dato im deutschen Fernsehen unsichtbar waren. Im Gespräch mit ihr erzählte sie, dass sie nach wie vor das Bewusstsein für natürliche Diversität im deutschen Film und TV vermisse und sich mehr greifbare Lebensrealität wünsche.

«Ich empfinde die Diskussion darüber noch als sehr schleppend. Oft höre ich: Wir hatten doch gerade erst einen Film mit einer lesbischen Hauptfigur. Na und? Es liefen auch gerade ganz viele Filme mit heterosexuellen Charakteren. Wenn der Film eine Thematik berührt, die uns alle in unserer Generation beschäftigt, beispielsweise wie wir mit unseren alten Eltern umgehen, dann kann die Hauptfigur doch auch schwul, lesbisch oder was auch immer sein. Kino ist für mich ein Raum, der unser Leben spiegelt. Bleibt es zu allgemein, ist es uninteressant. Es geht doch darum, an das Spezifische heranzukommen». «Klandestine», der neue Film von Maccarone, soll im nächsten Jahr in die Kinos kommen.

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