John Singer Sargent: Der Maler und seine schwarze Muse

Als der damals teuerste Porträtmaler der Welt 1916 nach Boston zurückkehrte, lernte er den jungen afroamerikanischen Liftboy Thomas McKeller kennen. Die erotische Beziehung der beiden steht im Zentrum der Ausstellung «Boston’s Apollo», zu der’s auch einen tollen Katalog gibt

Das einzige Ölgemälde von Thomas McKeller, zwischen 1917 und 1921 von John Singer Sargent gemalt (Foto: Museum of Fine Arts, Boston)
Das einzige Ölgemälde von Thomas McKeller, zwischen 1917 und 1921 von John Singer Sargent gemalt (Foto: Museum of Fine Arts, Boston)

Bevor auch in den USA die Museen wegen der Corona-Pandemie schliessen mussten, machte eine Ausstellung in Boston Schlagzeilen. Denn es ging darin um den berühmten (weissen) Gesellschaftsmaler John Singer Sargent (1856-1925), der jahrelang den schwarzen Hotelliftboy Thomas McKeller (1890-1962) als Modell benutzte – für Wand- und Deckengemälde, auf denen McKeller in hellhäutige Götter der Antike verwandelt wurde. Was war die Beziehung der beiden Männer zueinander? Wieso hat die Kunstgeschichte diese über 100 Jahre totgeschwiegen? Und wie geht man damit um in Zeiten von Rassismus- und Dekolonialisierungsdebatten, auch innerhalb der LGBTIQ-Community?

Zuerst die gute Nachricht: Auch wenn das Isabella Stewart Gardner Museum in Boston derzeit geschlossen und Reisen in die USA sowieso unmöglich sind, kann man sich den 256-Seiten-Katalog zur Ausstellung bestellen und sich über die vielschichtige Geschichte informieren. Eine Geschichte, die in vielerlei Hinsicht typisch ist für die schwuler Männer zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

John Singer Sargent
John Singer Sargent

Darauf geht der irische Starautor Colm Tóibin in seinem Essay «Secrets & Sensuality» ein. Darin vergleicht er das Privatleben von John Singer Sargent mit dem seines Freundes und Zeitgenossen Henry James (1843-1916). Beide waren US-Amerikaner, beide kamen nach Europa. Beide verkehrten in elitären Gesellschaftskreisen – der merkantilen Hautevolee von Boston und London – und spiegelten diese in ihren Arbeiten: James in Romanen wie «The Europeans», «The Turn of the Screw/Die Unschuldsengel» oder «The Wings of the Dove/Die Flügel der Taube» (viele davon von Hollywood verfilmt), Sargent mit einfühlsamen Society-Porträts. Beide hielten sich extrem bedeckt, was ihr Privatleben betrifft. Die zahllosen Briefe, die James jungen Männern zwischen 1899 (als er 65 war) und 1915 schrieb, ein Jahr vor seinem Tod, wurden erst 2001 veröffentlicht. Davor hatte die James-Familie immer auf «Diskretion» gepocht und alles Material, das «den armen Onkel Henry» in einem Licht zeigen würde, das zu «bösartigen Interpretationen» bezüglich seiner Beziehungen zu den jungen Männern führen könnte, aus dem Umlauf gezogen.

Zu Lebzeiten nie öffentlich ausgestellt Bei Sargent ist die Situation ähnlich. Man muss also oft zwischen den Zeilen und Pinselstrichen lesen. So erschien beispielsweise erst im Jahr 2000 das Buch «The Sensualist», in dem die Zeichnungen von nackten Männern vereint waren, die Sargent zu Lebzeiten nie öffentlich ausgestellt, aber in einer gesonderten Mappe aufbewahrt hatte. Er nannte die Mappe sein «Album of Figure Studies». Sie gingen 1937 an ein US-Archiv und blieben lange unbemerkt, bis in den 1980er-Jahren Trevor Fairbrother einen Artikel über die offen sexuelle Seite der Werke schrieb, was dann später zu seinem «Sensualist»-Buch führte.

Genauso «offen sexuell» sind die Thomas-McKeller-Zeichnungen, die nun im Zentrum der Ausstellung in Boston stehen. Und die Kurator Nathaniel Silver 2017 in einem Lager des Museums fand. Es sind zehn grossformatige Blätter, alle signiert, die Sargent seiner Mäzenin und Freundin Isabella Stewart Gardner gegeben hatte.

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Sargent war im Frühjahr 1916 aus Europa nach Boston zurückgekehrt, als damals teuerster und meist begehrter Porträtmaler der Welt, um in der Public Library einen umfangreichen Bildzyklus zu installieren. Den Fahrstuhl seines luxuriösen Hotels bediente McKeller, ein damals 26-jähriger Afroamerikaner von athletischer Gestalt. Als die Installation des Wandschmucks in der Public Library Sargent den Auftrag einbrachte, auch die Rotunda und das Treppenhaus des neuen Museum of Fine Art zu schmücken, wurde McKeller für Sargent zum wichtigsten Modell. In drei Produktionsphasen arbeiteten sie neun Jahre lang zusammen bis zu Sargents Tod 1925.

«Ich male nur Berge und Nigger» Als Sargent 1916 bei einer Party im Haus von Isabella Steward Gardiner von einem britischen Gast gefragt wurde, ob er auch weiterhin Porträtaufträge annehmen würde, antwortete der Künstler: «Nein, ich male nur Berge und Nigger.» [«No, I’m only painting mountains and niggers.»]

Das N-Wort hatte 1916 vermutlich nicht die extreme rassistische Bedeutung wie heute, es kann aber auch sein (wie der Katalog suggeriert), dass Sargent mit dieser Bemerkung den britischen Gast vor den Kopf stossen wollte. Denn er transformierte McKellers Körper zu Achilles, Chiron, Ganymed, Eros, Atlas, Arion, Apollo, verschiedene Musen, eine ägyptische Sphinx und eine weibliche Chimäre, die «wie zum Kuss blütenweiss auf ihn niederschwebt», wie’s in einer Besprechung zur Ausstellung heisst.

Wer war dieser Thomas McKeller? Der Katalog weist darauf hin, wie schwer es ist, das «einfache gelebte Leben» von Afroamerikanern jener Jahre zu rekonstruieren, für homosexuelle Beziehungen gilt das noch mehr. Während es zu Sargent wenigstens Briefe und Zeitungsartikel gibt zu seinem öffentlichen Leben und seiner Arbeit, existiert zu McKeller so gut wie nichts. Ausser, dass er aus den Südstaaten kam und diese Richtung Norden verliess, um ein freieres Leben in Boston zu führen. Sargent stellte McKeller seiner Mäzenin Isabella Steward Gardiner vor, und die Zeichnungen von McKeller zeugen von «grosser Zartheit» – ein Akt der «Sympathie, Empathie und voller erotischer Nähe», wie Tóibin schreibt. Wir erfahren im Katalog, dass McKeller später heiratete und scheinbar keine Kinder mit seiner Frau hatte. Paul Fischer sammelt in seinem Essay «Atlas, with the World on His Shoulders, This Was My Body» alle auffindbaren Informationen, auch die, die von McKellers Neffen kommen und aus F.B.I.-Akten.

Neues Kapitel in der Geschichte des Museums Dass eine betont «konservative» Institution wie das Isabella Stewart Gardner Museum sich nun diesen Aktzeichnungen widmet und zwar mit einem Titel, bei dem McKeller als «Boston’s Apollo» an erster Stelle genannt wird, ist bemerkenswert. Direktorin Peggy Fogelman schreibt im Vorwort zum Katalog, dass diese Ausstellung «ein neues Kapitel in der Geschichte des Museums» einleite: «Es ist das erste Mal, dass eine Ausstellung sich mit den Bildern eines schwarzen Mannes beschäftigt und das erste Mal, dass wir auf die Lebenswirklichkeit von Afroamerikanern in Boston eingehen». Weiter heisst es: «Wir glauben, dass es unsere Aufgabe ist, diese komplexe Vergangenheit zu erforschen und damit Licht in unsere ebenso komplexe Gegenwart zu bringen, zu der auch marginalisierte Individuen gehören, deren Stimmen in der traditionellen Geschichtsschreibung nicht berücksichtigt wurden.»

John Singer Sargent
John Singer Sargent

Allein die Tatsache, dass ein schwuler Starautor wie Colm Tóibin im Katalog einen grossen Essay zur schwierig zu beweisenden schwulen Seite des Lebens von Sargent beisteuern darf, zeigt, dass man in Boston auch die Berücksichtigung von zuvor vielfach marginalisierter LGBTIQ-Geschichte berücksichtigen will. Auch wenn Sargent – in den Worten des Malers Jacques-Émile Blanche – sich die grösste Mühe gab, «keine Spuren seiner wirklichen Individualität» zu hinterlassen.

Über die «wirkliche Individualität» von McKeller wissen wir noch weniger. Aber: «Sein Körper und die Art, wie daraus seine Seele hervortritt, wird in diesen Arbeiten ungefiltert vor uns ausgebreitet. Es ist ein Beispiel für eine der faszinierendsten Beziehungen zwischen Maler und Modell, die es je gab. Es entsteht ein Bild, so intensiv, nachhallend und verwirrend, dass wir vielleicht noch nicht so weit sind, die alles mitreissende Kraft, die daraus spricht, in unserer Kultur voll wahrzunehmen», so Tóibin.

John Singer Sargent
John Singer Sargent

Von der mitreissenden Kraft spricht im Katalog auch die Kunsthistorikerin Nikki A. Greene. Sie stellt Sargents Arbeit in eine Reihe «subversiver Transformationen»: Caravaggio machte Prostituierte zu Heiligen, Sargent erhob einen schwarzen Körper zum Apoll, zu dem kunstbeflissene Bostoner aufsahen, wenn sie in ihrem Kulturtempel die Treppe hinaufstiegen.

Statements von heutigen jungen Afroamerikanern In der tatsächlichen Ausstellung im Museum wurden Sargents Studien übrigens von Zitaten flankiert. Diese bestehen aus Statements von heutigen jungen Afroamerikanern, die im Vorfeld von den Kuratoren gebeten wurden, sich mit der Beziehung Sargent/McKeller zu beschäftigen. Da liest man beispielsweise: «Es überrascht nicht, dass ein schwarzer Körper die Muse für Sargents Meisterwerke abgab. Seine Darstellung von Göttern und Göttinnen konnte nur die eines schwarzen, schwulen Körpers sein, denn wer sonst trägt solche Poesie in sich? Wer sonst konnte völlig unbekannt solche Meisterwerke gebären?» Oder: «Weiss-Sein ist unvollkommen, ein Werkzeug, geschaffen, um zu unterdrücken. Es ist unmöglich, aus diesem Werkzeug Schönheit zu ziehen. Du, Thomas, bist die Antwort. Nur dein schwarzer Köper ermöglichte eine Vision des Paradieses.»

John Singer Sargent
John Singer Sargent

Zu Sargent liest man: Er «verstümmelt die Identität eines jungen, schönen Schwarzen Mannes und verwandelt ihn zur Unterhaltung des Publikums. Als Künstler dominiert er seine Muse; er war McKellers Master, eine Beziehung, die an die Sklaverei erinnert.» (Mehr zum Thema Rassismus und Beziehung in der LGBTIQ-Community hier.)

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Im Katalog sind diese Statements nicht enthalten, die von einer Geschichtsvergessenheit zeugen, die man auch in Europa vielerorts bemerken kann. Sie verhindert, sich detailliert mit der Geschichte zwischen McKeller und Sargent und ähnlichen «Partnerschaften» – egal ob künstlerisch oder privat – nuanciert auseinanderzusetzen. Stattdessen führen solche Äusserungen in eine «Sackgasse», wie eine Rezensentin meinte, wo doch ein neues Kapitel eingeläutet werden soll.

In der FAZ erfährt man, dass die Diskussionen im Vorfeld mit den jungen Afroamerikanern «schockierend aggressiv» gewesen seien und Lernangebote als «kulturimperialistisch» abgelehnt wurden. Von all dem merkt man im subtilen Katalog nichts. Und der ist in jeder Hinsicht empfehlenswert, besonders wenn man aktuell Zeit hat in der Selbst-Isolation, um die acht Essays zu lesen und sich in die vielen Abbildungen zu vertiefen. Man kann dann gleich weitermachen mit dem grossartigen Tóibin-Roman «The Master», über die späten Jahre von Henry James.

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