«Die 120 Tage von Sodom» – Wer tötete Pier Paolo Pasolini?
Bis heute wurden die wahren Umstände seines Todes nicht aufgeklärt
Am 5. März 2022 wäre der italienische Filmemacher Pier Paolo Pasolini 100 Jahre alt geworden. Bis heute gibt seine Ermordung im Jahr 1975 Rätsel auf. Eine Würdigung von Sabine Göttel und Olaf Neumann
Am 5. März wäre Pasolini 100 Jahre alt geworden: «PPP 100» steht auf Bildschirmen an Flughäfen, es gibt Sonderbeilagen in den Zeitungen, ihm gewidmete Sendungen im Fernsehen. Gut 46 Jahre nach seinem Tod feiert Italien einen seiner prägendsten Intellektuellen. «Es wundert mich nicht, dass er noch so bekannt ist. So eine intellektuelle Figur gibt es in Italien nicht mehr», sagt der deutsche Regisseur und Oscar-Preisträger Pepe Danquart («Schwarzfahrer»). Er drehte 2017 die Pasolini-Doku «Vor mir der Süden» – eine Auto-Reise um den italienischen Stiefel auf den Spuren Pasolinis. Danquart nennt Pasolini einen Helden: «Er stand zu dem, was er von der Welt hielt.»
Aufgewachsen im Nordosten Italiens, wo er zunächst als Lehrer arbeitete, zog er später nach Rom. Er habe sich immer näher beim Subproletariat, also denen, die in der Gesellschaft unter den schlechtesten Bedingungen leben, gesehen, sagt Danquart. Mit der Bourgeoisie habe Pasolini nichts anfangen können. Er war Kommunist, wegen seiner Homosexualität schloss ihn die Partei jedoch aus. Im Fernsehen sagte er einmal, die Menschen, die er wohl am meisten möge, seien die, die nicht mal die vierte Klasse geschafft hätten.
Der Tod und das Nachdenken darüber begleiteten Pasolini seit seiner Jugend. Für ihn bedeutete Sterben «nicht die Unmöglichkeit zu kommunizieren, sondern nicht mehr verstanden zu werden“. Liebe und Verständnis findet der am 5. März 1922 in Bologna geborene Sohn eines Leutnants und einer Grundschullehrerin vor allem bei der Mutter, zu der er zeitlebens eine symbiotische Beziehung pflegte. Zu ihr flüchtet sich der früh Begabte vor der Strenge des Vaters und den Zumutungen ständiger Umzüge und Entwurzelungen. Bei ihr und in Casarsa, einem kleinen Ort im Friaul, wo die Grosseltern mütterlicherseits leben, findet Pier Paolo so etwas wie Heimat und Glück. Hier entstehen die ersten Verse, hier lernt er, die Furlanische Sprache zu lieben, und hier sollte er später begraben werden. Bereits mit 17 Jahren – in Italien herrschen Mussolini und seine faschistischen Schergen – schreibt er sich an der Universität ein, gründet Literatenzirkel, schreibt Artikel und veröffentlicht seinen ersten Lyrikband «Gedichte in Casarsa». Das Buch wird von der Zensur verboten; das Furlanische gilt den Faschisten als Form des Widerstands.
Im Krieg überschlagen sich die Ereignisse: 1943 desertiert Pasolini aus der Armee und flüchtet nach Casarsa; 1945 wird sein jüngerer Bruder und Herzensfreund Guido nach innerparteilichen Partisanenkämpfen hingerichtet – ein Verlust, der Pasolinis Leben fortan prägt.
Bereits vor 1945 hat Pasolini Schüler unterrichtet; nach dem Krieg und der Erfahrung des Faschismus wird er vollends zum überzeugten Pädagogen und fordert eine antitotalitäte, an der Persönlichkeit des einzelnen Kindes orientierte Erziehung. In Udine arbeitet Pasolini zunächst als Mittelschullehrer und beginnt, sich gesellschaftspolitisch zu engagieren. 1947 tritt er in die Kommunistische Partei Italiens ein. Dort hat er einen schweren Stand; er ist homosexuell und er drückt sich bewusst in der Sprache des einfachen Volkes statt in den Theoremen des sozialistischen Realismus aus. Die Anschuldigung, er habe sich an zwei minderjährigen Jungen vergangen, führt 1949 schliesslich zum Parteiausschluss und zum Verlust seines Lehramts. Pasolini hat sich einem langwierigen und beschämenden Gerichtsverfahren zu unterziehen, unter dessen Eindruck er Zeit seines Lebens steht. An der Seite seiner Mutter zieht der als Schwuler Gebrandmarkte nach Rom, um ein neues Leben zu beginnen.
Als er mit 31 Jahren in der Filmszene Fuss fasst, werden diese Erfahrungen zum Zentrum seiner cineastischen Visionen. Sie kreisen um Welten, so schreibt Pasolini später, in denen «christliche Verhaltensweisen wie Vergebung, Unterwürfigkeit usw. gänzlich unbekannt sind und der Egoismus legitime, männliche Gestalt annimmt.»
Im Jahr 1955 wird Pasolinis bei Kritik und Lesern gleichermassen gefeiertes Romandebut «Ragazzi di vita“ ein Jahr lang aus den Buchhandlungen verbannt; sein Autor wird wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften angeklagt. Zur Zielscheibe der Presse gewordern, sieht sich Pasolini den absurdesten Verdächtigungen ausgesetzt; so soll er etwa an einem bewaffneten Raubüberfall auf eine Bar teilgenommen haben. Seine künstlerische Karriere jedoch ist unaufhaltsam: Als Drehbuchautor arbeitet er zunächst mit Kino-Koryphäen wie Federico Fellini und Franco Rossi zusammen, bis er sich dazu entschliesst, selbst Regie zu führen.
Immer wieder muss sich der Regisseur wegen seiner seiner Werke vor Gericht verantworten: «La Ricotta» aus dem Jahr 1963 wird als blasphemisch gebrandmarkt und eine zeitlang verboten; «Teorema – Geometrie der Liebe» von 1968 zieht Proteste des Vatikans nach sich. 1972 erhält er für «Pasolinis tolldreiste Geschichten» den Goldenen Bären der Berlinale; aber der Film wird vorübergehend beschlagnahmt, weil sich ein katholischer Orden verleumdet fühlt.
Rom, am 2. November 1975: In den frühen Morgenstunden findet die Hausfrau Maria Teresa Lollobrigida die Leiche Pier Paolo Pasolinis auf einem unbebauten Grundstück an der römischen Küste bei Ostia. Der 53-Jährige wurde erschlagen und danach mehrfach mit seinem eigenen Wagen überfahren. Bald darauf verhaftet die Polizei den 17-jährigen Stricher Guiseppe Pelosi. Der gesteht die Tat, wird wegen Mordes verurteilt und sitzt bis 1982 im Gefängnis. 2005 widerruft er sein Geständnis und gibt an, von den eigentlichen Mördern, die er nicht kenne, zum Stillschweigen gezwungen worden zu sein. Pier Paolo Pasolini sei nicht von ihm, sondern von Unbekannten getötet worden.
Bis heute wurden die wahren Umstände des Todes eines der bedeutendsten Filmemacher des 20. Jahrhunderts nicht aufgeklärt. Bei der römischen Staatsanwaltschaft liegt noch immer ein Gesuch nach Wiederaufnahme des Falls – bisher ohne Erfolg. Einige seiner Anhänger beharren auf der Vermutung, Pasolini sei Opfer eines Auftragsmordes geworden, weil er kurz vor seinem Tod Hinweise über kriminelle Machenschaften des italienischen Geheimdienstes gesammelt habe. Diese Spekulationen werden genährt von der Tatsache, dass der Regisseur wegen seines letzten Films «Die 120 Tage von Sodom» Todesdrohungen von rechtsextremen Organisationen erhalten hatte.
(mit dpa)
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