«Wir akzeptieren nicht mehr, dass man uns mit Mitleid begegnet»

Autor Pierre Stutz über die Bewegung #OutInChurch

Pierre Stutz (Foto: www.pierrestutz.ch)
Pierre Stutz (Foto: www.pierrestutz.ch)

Der Schweizer Autor und Theologe Pierre Stutz ist Mitinitiant der Aktion #OutInChurch. Im Interview mit MANNSCHAFT+ spricht er über sein eigenes Coming-out und erklärt, weshalb die sexuelle Orientierung eben nicht nur Privatsache ist.

Pierre Stutz (68) gehört zu den Initiant*innen von #OutInChurch: 125 Mitarbeitende der katholischen Kirche in Deutschland outeten sich dabei als LGBTIQ (MANNSCHAFT berichtete). Der Schweizer Autor und Theologe selbst hatte sein Coming-out bereits vor 20 Jahren – und legte damals gleichzeitig sein Priesteramt nieder. Heute lebt er mit seinem Mann in Osnabrück. 2020 erhielt Pierre den Preis der Herbert-Haag-Stiftung, der jeweils an Menschen und Institutionen geht, die sich durch freie Meinungsäusserung und mutiges Handeln im christlichen Diskurs exponieren.

MANNSCHAFT: Weshalb braucht es #OutInChurch? Pierre: Die Aktion war überfällig, weil im religiös-spirituellen, wie im künstlerischen Bereich überdurchschnittlich viele queere Menschen tätig sind. Es wird angenommen, dass mehr als ein Drittel der Priester schwul ist und nicht wenige pastorale Mitarbeitende sind LGBTIQ-Personen, die sehr darunter leiden, in einem Klima der Angst leben und arbeiten zu müssen. Dabei gehört es zur Kernaussage meines Lebensfreundes aus Nazareth, Menschen zu ermutigen, der Angst nicht mehr die Regie im Leben zu überlassen und mit Zivilcourage den aufrechten Gang zu gehen.

Was sind eure Ziele? In unseren sieben Kernforderungen protestieren wir gegen die homophob-diskriminierenden Dokumente aus dem Vatikan. Und wir verlangen, dass das kirchliche Arbeitsrecht geändert wird, damit niemand mehr aufgrund der sexuellen Orientierung oder der geschlechtlichen Identität und der Lebensform entlassen werden kann. Wir haben in der Basisgruppe seit Juni 2021 intensiv in Zoom-Konferenzen und Untergruppen an diesem Manifest gearbeitet.

Bist du mit den bisherigen Auswirkungen zufrieden? Die Resonanz übertrifft all unsere Erwartungen. Es zeigt erfreulicherweise, dass sich auf der Ebene der Gemeinden sehr viel geändert hat und queere Menschen meist willkommen sind. So wurden trotz des Verbots aus Rom im Mai 2021 über 100 Segensfeiern für alle gestaltet und nun sind viele Bistümer bereit, ihr Arbeitsrecht zu korrigieren.

Du kennst ja sowohl die Schweiz als auch Deutschland sehr gut. Gibt es zwischen den beiden Ländern Unterschiede, was den Umgang mit LGBTIQ-Menschen in der Kirche betrifft? Die Schweiz ist in vielen Bereichen – je nach Bistum – viel liberaler. Durch die Vielfalt der verschiedenen Kirchenordnungen in den Kantonen werden die Mitarbeitenden in der Kirche nicht wie in Deutschland direkt vom Bischof bezahlt, sondern von den Kirchgemeinden. So haben die Bischöfe in der Schweiz weniger Macht, was sehr gut ist. In beiden Ländern hat sich auf der Ebene der Pfarreien viel verändert, die Tabuisierung der Homosexualität wird immer mehr aufgebrochen. Es gibt jedoch noch viel zu tun, um eine menschenwürdige Gleichberechtigung zu erhalten.

Kann ein #OutInChurch wie in Deutschland jetzt auch in der Schweiz stattfinden? Ich hoffe sehr, dass #OutInChurch in der Schweiz und auch vielen anderen Ländern – Österreich, Frankreich, Italien – weitergeführt wird. Ich bedaure, dass sich in der Schweiz so wenige Priester und pastorale Mitarbeitende outen, weil ich die Meinung nicht teile, dass dies Privatsache sei. Wir hätten niemals die Ehe für alle, wenn nicht jahrzehntelang Menschen für dieses Recht öffentlich gekämpft hätten…

Nun zu deiner persönlichen Geschichte: Wie kam es, dass du vor 20 Jahren dein Amt als Priester niedergelegt hast? Der Leidensdruck war gewaltig. Äusserlich war ich immer sehr erfolgreich und ich konnte in meinem Leben viele meiner Träume verwirklichen: Buchautor sein, ein offenes Kloster gründen. Mein Inneres liess sich nicht von meinem Erfolg blenden und schrie immer lauter durch psychosomatische Beschwerden. Ich wurde immer depressiver, lebensmüde, gekrümmt in meinem Gehen. In meiner Verzweiflung schrieb ich meistens nachts in den vielen schlaflosen Stunden an einem Buch mit dem Titel «Verwundet bin ich und aufgehoben» – in der Hoffnung durch das Schreiben nochmals die Kurve zu kriegen, um meinem Coming-out entgehen zu können! Das Gegenteil trat ein.

Du hast dann die Amtsniederlegung mit einem öffentlichen Coming-out verbunden. Ich wagte in einem Mutanfall öffentlich zu sagen, dass ich immer schon mit der tiefen Sehnsucht unterwegs war, das Geschenk der Liebe mit einem Mann erleben zu dürfen. Kurz vor diesem Schritt waren meine Ängste nochmals sehr gross. Als ich es zuerst dem Team mitteilte, hoffte ich einen kurzen Moment, durch einen Herzschlag verschont zu werden vor den Worten: «Ich bin schwul, weil die göttliche Schöpferkraft mich so wunderbar geschaffen hat.»

Welche Reaktion hast du auf das Coming-out erhalten? Ich bekam über 800 Briefe, in denen mir fast alle ihre Wertschätzung ausdrückten. Kaum ein Dutzend verdammte mich («Du bist Judas») und wollte mich in die Hölle schicken. Das konnte niemand, weil ich aus der Hölle kam! Indem ich mein Priesteramt niederlegte, wollte ich bewusst aus der Opferrolle hinaustreten. Statt «Ich kann nicht mehr» selbstbewusst sagen «Ich will nicht mehr». Seither bin ich ein befreiter Mensch und seit ich ein Jahr nach meinem Coming-out die Liebe meines Lebens kennengelernt habe, bin ich endlich glücklich, auch mit all den Herausforderungen, die zu einer Partnerschaft gehören. Im Januar 2013 haben wir im Standesamt in Lausanne unsere Partnerschaft eintragen lassen, im Juli 2018 haben wir im Standesamt in Osnabrück geheiratet und nun können wir sogar am 1. Juli 2022 in der Schweiz nochmals heiraten.

Du hast kürzlich in einem Interview gesagt, dass du weiterhin gegen «die homophobe Lehre im Katechismus» kämpfst. Wie sieht dieser «Kampf» oder vielleicht besser dieses «Engagement» aus? Es bleibt noch sehr viel zu tun, solange in den offiziellen Dokumenten immer noch steht, dass queere Menschen keine gesunden Beziehungen leben können und dass es nicht gottgewollt sei, dass zwei Frauen, zwei Männer sich lieben… Nächstes Jahr feiern wir das 75-jährige Jubiläum der Verkündigung der Menschenrechte, für die ich mich seit meiner Jugendzeit engagiere. Empörend ist, dass der Vatikanstaat sie immer noch nicht unterschrieben hat, deshalb kämpfen wir weiter.

Welche Forderungen hast du noch an die Kirche? Ich fordere nicht nur Segensfeiern für queere Menschen, sondern für jene, die es möchten, auch die «Ehe für alle in der katholischen Kirche», weil ich die Liebe mit meinem Mann als Sakrament, als etwas Heilendes und Heiliges erfahre. Sehr erfreulich ist, dass sich 30 katholische Verbände mit #OutInChurch öffentlich solidarisieren, weil es ja um einen grossen Reformstau in der katholischen Kirche geht: neue Sexualethik, Priestertum der Frau, Teilung von Macht und so weiter. So versuche ich weiterhin, in kämpferischer Gelassenheit mich mit vielen anderen für eine ökumenisch-interreligiöse Kirche zu engagieren, auch in der Haltung nicht alle Früchte ernten zu können. Dank der Erfahrungen mit #OutInChurch werden wir, die nicht mehr akzeptieren, dass uns «mit Mitleid» begegnet werden soll, immer mehr. Dazu stehen wir nicht mehr zur Verfügung.

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