Wie queer ist … Mylène Farmer?
Mit ihren queeren Songtexten und spektakulären Konzerten entwickelte sich die Musikerin zur Ikone
Sie kann alles von gepflegter Tristesse bis hin zu Porno Chic. Wie queer ist Schauspielerin und Musikerin Mylène Farmer?
Von Mayo Velvo
#1 Prolog Mylène Farmer ist bis dato die erfolgreichste, weibliche frankophone Popkünstlerin (hinter Céline Dion, welche allerdings den erfolgreicheren Teil ihrer Karriere mit englischsprachigen Aufnahmen absolvierte). Auch wenn Farmers kaum steigerbare Popularität sich, von den 1980ern bis heute, kaum jenseits der französischsprachigen Areals in Europa und Kanada ausbreitete (abgesehen von Russland und Belarus) besitzt sie dennoch eine treue Fangemeinde rund um den Globus.
Internationale Künstler wie u.a. Elton John, Kylie Minogue, Salman Rushdie, George Clooney, die Band Muse, aber auch Sting und Seal (mit denen Mylène Farmer jeweils Duette einsang) äussern sich nachhaltig beeindruckt.
#2 Das Team Farmer/Boutonnat Nicht umsonst wird Mylène Farmer oft als die französische Version von Madonna wahrgenommen, was oberflächlich stimmen mag. Doch bei genauerer Betrachtung, sind die Unterschiede doch nur zu deutlich: Wo Madonna eher als interpretierende Entertainerin, mit wechselnden Autoren- und Produzententeams, gerne provokant Trends bestimmt, aber auch mal hinterherläuft (MANNSCHAFT berichtete zum neuen Remix-Album), ist Mylène Farmer wie eine eigenständige «Marke». Sie ist sowohl Autorin, Komponistin und Regisseurin ihres eigenen Kosmos, grösstenteils und langjährig im Team mit Komponist und Produzent Laurent Boutonnat, der das damals Anfang zwanzigjährige Model Mitte der 1980er Jahre entdeckte und förderte.
Dass Mylène Farmer, mit ihrer Spannbreite von Melancholie bis raffiniert erotischer Nabelschau, recht schnell eine weitere Ikone der (nicht nur französischen) Queer-Szene wurde, begründet die Künstlerin persönlich darin, dass eben das LGBTIQ-Publikum durchaus scharfsinniger, feinfühliger und avantgardistischer ist, und sie mit eben jenem Publikum das Gefühl teilt, anders zu sein.
#3 Unter Frauen Schon mit ihrer ersten, noch komplett von Boutonnat konzipierten, Hitsingle «Maman a tort» (Mama hat Unrecht/1984) sendet die, sich durchaus als heterosexuelle Frau verstehende, Künstlerin textliche zarte Signale gleichgeschlechtlicher Zuneigung aus: «Ich mag, was mir verboten ist / unmanierliche Freuden / Ich liebe es, wenn sie mich anlächelt / Ich liebe die Krankenschwester, Mama».
2012 intonierte sie mit «Elle a dit» (Sie hat gesagt) thematisch ein lesbisches Coming-out, und 2018 sang sie im Duett mit der öffentlich lesbisch lebenden Sängerin LP (Laura A. Pergolizzi, «Lost on you») den Song «N’oublie pas» (Vergiss nicht)
#4 Androgynes Nach anfänglich kleinen Rückschlägen war das Team Farmer/Boutonnat 1986/87 auf der Erfolgsspur. Mylène, vormals brünett nun mit schimmernd orange-rotem Schopf, inszenierte sie sich mit nicht zu übersehender androgyner Note – und das in zum Teil 20-minütigen, sehr freizügigen Videos. In Songs wie «Libertine» (Ausschweifend) und «Pourvu qu’elles soient douce» (Solange sie süss sind), spielte Mylène die, leicht mit einem zarten Jungen zu verwechselnde, frivole Libertine, zwischen Landschaften aus Pobacken und einem recht maskulinen Grabenkampf mit ihrer Rivalin. In «Sans Contrefaçon» (Ohne Fälschung), mutiert die Künstlerin durch den Zauber einer Hexe von der (durchaus als männlich wahrzunehmenden) Handpuppe zur ephemeren Geliebten des Puppenspielers.
Kurz darauf veröffentlichte sie aber noch ein neues Lied zum Thema, «Que mon cœur lâche» (in etwa: Lass meinem Herz freien Lauf). Im Video, gedreht von niemand anderem als Luc Besson, verkörpert Mylène einen Engel, der von Gott auf die Erde geschickt wird, um zu schauen, was denn wohl so aus der «Liebe» geworden ist. In diesem vielleicht humorvollsten Video im Farmer’schen Kanon, nimmt dieses Lied dennoch Bezug auf das Thema AIDS: Sex mit Kondomen, die sich eher störend zwischen die Liebenden zwängen – «Angst fällt auf unsere Eskapaden», heisst es da treffend im Text.
1999 spendete sie alle Einnahmen des Verkaufs ihres umstritten Videos zu «Je te rends ton amour» (Ich gebe dir Deine Liebe zurück) der Aids-Hilfe Organisation Sidaction. Diverse TV-Kanäle hatten sich geweigert, das umstrittene Video zu zeigen, solange Madame Farmer dieses nicht schneiden oder sendegerecht bearbeiten liesse. Das Farmer-Team blieb unbeeindruckt: Kurzerhand konnte jede/r dieses Video als VHS-Kassette am Kiosk erwerben, da die Einnahmen schliesslich einem guten Zweck zugeführt wurden.
#6 Aussenseiter*in In vielen ihrer Songs, in denen Farmer nicht müde wird, exzentrische Künstler wie Edgar Allan Poe, Beaudelaire, Egon Schiele oder Virginia Woolf (u.v.a.) zu zitieren, können sich gerade queere Menschen wiederfinden, denn diese beinhalten oft den Blickwinkel einer Aussenseiterin. In ihrem wohl grössten (Verkaufs-) Erfolg, «Désenchantée» (Desillusioniert), geht es z.B. um die Befreiung internierter Kinder und Jugendlicher aus einem Lager. In «Comme j’ai mal» (Mir geht es so schlecht) verkriecht sich die Protagonistin in einer Art Schrank (sic!) und lebt dort mit Insekten in einer Traumwelt, von der sie, durch eine Art Mutation, am Ende ein Teil wird. Und wer kennt den ʻVerwandlungsprozess’ eines Coming-out nicht besser als die LGBTIQ-Szene.
2012 ging es in «Dégénération» ähnlich euphorisch zu wie in Kylie Minogues «All The Lovers»-Video, als eine Art Mylène-Klon überraschend «Ekstase» unter ihre Erschöpfer bringt, die offensichtlich ganz andere Pläne mit ihr hatten.
#7 Im Konzert Besonders wenn es um die spektakulär inszenierten Farmer-Konzerte geht, die sich auf einer Skala zwischen heiliger Messe und durchtanzter Disconacht bewegen, erhöht sich der Queer-Faktor um einiges.
Eingekleidet von Top-Couturiers wie Thierry Mugler, Paco Rabanne, Dominique Borg, Franck Sorbier und seit 2009 Jean-Paul Gaultier, zaubert Mylène, eingerahmt von Tänzer/innen, unvergleichliche Spektakel auf die grössten Bühnen Frankreichs. Ok, das können Cher, Kylie und Madonna auch. Doch wenn Mylène vom grossen Bumm-Bumm, bei dem man bevorzugt vom männlichen Anteil des Corps de Ballet jede Menge nackte Haut zu Sehen bekommt, auf einen intimen Balladenteil mit Klavierbegleitung herunterschaltet, wird es weitestgehend still im Saal, und man hört nur noch gelegentliches Seufzen im Publikum und das leise Schluchzen der Künstlerin selber. Diese mit «Pleure pas, Mylène!» (Mylène, weine nicht!) angefüllten Momente sind fast wie ein Reiki-Austausch bei einer königlichen Privataudienz und jede/r Zuschauer*in fühlt sich persönlich angesprochen und berührt.
Am Ende ihrer«Avant que l’ombre … à Bercy (2006)»-Konzerte, wenn sich die zu einer Wand aufgetürmte Version der Pforte des Baptisteriums in Florenz krachend geschlossen hatte und der letzte Applaus verklungen war, verliess das Publikum beinah schweigend, tief beeindruckt das sakrosankte Event.
#8 Kritischer Epilog Natürlich war Mylène im französischen Queer-Magazin N°1 Têtu (Trotzig) oft ein heiliges Thema inklusive Titelseiten. Dennoch geriet sie durchaus hin und wieder (und nicht nur dort) in die Kritik. Besonders 2010, als die sonst öffentlichkeitsscheue Künstlerin ausgerechnet zum Empfang des damaligen russischen Präsidenten Medvedev im Elysée Palast erschien. Die Strafe folgte sprichwörtlich auf dem Fusse: Sie blieb mit einem ihrer Schuhe an eine der Teppichstangen hängen und brach sich einen Zeh.
Auch wegen ihrer, über lange Zeit eher neutralen, Haltung zur Öffnung der Ehe, wurde sie von Fans immer wieder aufgefordert, ihr sonst so bewundertes, mythisches Schweigen zu brechen und eindeutiger Stellung zu beziehen – für diejenigen, die sie letztendlich zum Star gemacht hatten.
Immerhin war wenig später in einem Têtu-Interview von Mylène zu lesen, dass es durchaus an der Zeit sei, sich mit dem Thema dieser Gleichberechtigung auseinanderzusetzen. Nun, seit 2013, mit der gesetzlichen Gleichstellung der beiden Ehemodelle in Frankreich, steht dieses Thema zumindest nicht mehr zwischen der Künstlerin und ihren Fans.
2023 geht Mylène Farmer unter dem Titel «Nevermore» noch einmal (ein letztes Mal?) auf Tour. Russland und Belarus stehen jedenfalls nicht mehr auf der Tour-Agenda: Wie so oft ein leises Statement der unkonventionellen Künstlerin.
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