Leben als trans Mann im Irak – Versteckt unter dem Kopftuch
Alleine kann Romeo er selbst sein, für alle anderen ist er Sara
In Bagdad lebt Romeo in ständiger Unsicherheit. Die allermeiste Zeit muss er Sara sein. Im Irak fürchtet sich die Community sogar vor der eigenen Familie.
Sara (Name der Redaktion geändert) war 20, als ihre Mutter ihr endlich erlaubte, die Haare kurz zu tragen. Sie freute sich so sehr, dass sie mit einer Schere mitten im Wohnzimmer begann, Strähne für Strähne abzuschneiden. Jahrelang hatte sie ihre Mutter angefleht und ihr gesagt, wie sehr sie ihre langen Haare hasse. Doch die Antwort war immer wieder: Nein, du sollst wie ein Mädchen aussehen.
Damals war sich Sara noch nicht sicher, wer genau sie ist. Seit einem Jahr weiss sie: Ich bin Romeo. Doch der 23-jährige trans Mann lebt in einer Gesellschaft, in der er nicht sein kann, wer er ist. Und so bleibt er für die Aussenwelt meistens Sara, die ihre kurzen Haare mit einem Kopftuch bedeckt.
Es gibt nur wenige LGBTIQ-Menschen im Irak, die mit Medien sprechen. Die allermeisten versuchen, ihre Identität zu verstecken. Romeo wolle seine Geschichte erzählen, weil sich sonst nie etwas ändern werde. Das sagt er an unserem ersten Treffen Mitte Mai in Karrada, einem teuren Viertel im Stadtzentrum Bagdads. Hier treffen sich junge Menschen mit Laptops in Kaffeehäusern, Familien kaufen Eis, Freundinnen schlendern an Kleiderläden vorbei. Uniformierte Männer am Strassenrand erinnern an die vielen Jahre nach der US-Invasion 2003, als in Bagdad immer wieder Bomben explodierten.
Romeo trägt an diesem Tag ein Kopftuch, was ihn als Frau erscheinen lässt. Vor ihm auf dem Tisch liegen zwei Smartphones. Eines braucht er für die Arbeit als Werbetexter, mit dem anderen kontaktiert er seine Freund*innen. Zuhause versteckt er das zweite Telefon, sein älterer Bruder darf nie davon erfahren. Als dieser vor zwei Jahren seine privaten Chats und LGBTIQ-Channels auf Telegram entdeckte, ist er ausgerastet.
Romeo sitzt breitbeinig im Kaffee in Bagdad und gibt sich keine Mühe, leise zu sprechen – was im sozialen Skript für Frauen im Irak als unanständig gilt. Für eine breite Bevölkerung sind die Ideale von Weiblichkeit und Männlichkeit klar definiert. Und zu diesen Genderrollen gehört auch der Haarschnitt.
Folter für die falsche Frisur Human Rights Watch schreibt in einem Bericht über LGBTIQ-Menschen im Irak: «Die Folgen einer nicht normgerechten Frisur können von Verhaftung über Folter bis hin zum Tod reichen.» Die Menschenrechtsorganisation dokumentierte, wie Mitglieder einer Miliz einen Mann mit langen Haaren an einem der unzähligen Strassen-Checkpoints festhielten. Sie liessen ihn erst weiterfahren, als sie ihm die Haare abgeschnitten hatten.
Für Aufsehen im Sommer 2017 sorgte der Mord des irakischen Schauspielers und Models Karar Nushi, der für sein langes blondes Haar und auffällige Kleidung bekannt war. Sein verstümmelter Körper wurde in Bagdad gefunden, die Haare abgeschnitten. Freund*innen von ihm glauben, dass ihn eine islamistische Miliz wegen seines Aussehens tötete.
In so einem Umfeld zu seiner Identität als trans Mann zu finden, war für Romeo ein langer und schwieriger Prozess. Vieles entdeckte er dank des Internets, das Menschen wie ihm, die kaum irgendwo sein können, den Raum zum Existieren gibt.
Als sie es plötzlich wusste Sara ist 15 Jahre alt, wenn sie ein Smartphone erhält. Sie scrollt auf Facebook, und auf einmal wird ihr ein Video vorgeschlagen, in dem sich zwei bekannte arabische Schauspielerinnen küssen. Sie denkt: «Holy shit, das ist heiss!», und sucht auf Youtube nach ähnlichen Videos. Schliesslich findet sie verlinkte lesbische Pornos. Über ihre eigene Sexualität macht sie sich keine Gedanken. Sie weiss über das Thema Homosexualität nur, dass schwule Männer Sex miteinander haben und dass ihre Religion das verbietet.
Einige Wochen später schlägt ihr Youtube ein Video vor, in dem zwei junge Frauen über den Moment sprechen, als sie realisierten, dass sie lesbisch sind. Eine erzählt, dass sie eine attraktive Schauspielerin im Fernsehen sah, und plötzlich habe sie es gewusst. Sara starrt in den Bildschirm und denkt: «Das ist es, ich stehe auf Frauen. Jetzt macht alles Sinn.»
Zum ersten Mal verliebt war sie in der Grundschule in eine Klassenkameradin. Ihr Name war Noor – «Licht» auf Arabisch. Sara malte sich aus, wie sie ihr zum Tschüss-Sagen einen Kuss geben würde. Doch dann zog Noor in ein anderes Quartier von Bagdad.
Als Sara ihre Sexualität entdeckt, ist sie zuerst kurz begeistert, dann versucht sie das Thema zu verdrängen. «Ich hatte Angst, es vor mir selbst zuzugeben, und dann zu merken, dass ich im Irak festsitze, wo mich meine Familie nie akzeptieren würde», sagt Romeo rückblickend.
Er beschreibt das Umfeld, im dem er aufgewachsen ist, als «sehr religiös». Seine Familie sind schiitische Muslime, wie die Mehrheit der Bevölkerung im Irak. Im blutigen Konflikt, der nach dem Sturz des sunnitischen Diktators Saddam Hussein ausbrach, starb Romeos Vater. Damals lebte die Familie in einem sunnitisch geprägten Quartier ausserhalb von Bagdad. Im Sommer 2006 wurde er von Extremisten erschossen. Romeo sagt, langfristig gesehen sei der Tod wahrscheinlich etwas Gutes gewesen, weil sein Vater die Mutter und seine Brüder misshandelt hatte.
Vom Schiiten-Schrein in den Telegram-Channel Als Sara 15 Jahre alt war, reiste sie mit ihrer Mutter in den Iran zu einem wichtigen Schrein für die Schiiten. Sie stand in der Gebetshalle, weinte, und bat Gott, sie heterosexuell werden zu lassen. «Überraschung!», sagt Romeo und lacht über sich selbst damals, «ich wachte am nächsten Morgen auf und stand immer noch auf Frauen.»
Sara begann, sich selbst zu hassen. Sie verteidigte ihre Religion, sagte sich, Gott wüsste es am besten. Gerettet hat sie ein Telegram-Channel für inspirierende Zitate: Per Zufall freundete sie sich darin mit einigen Iraker*innen an, die atheistisch sind. Durch Gespräche mit ihnen begann Sara langsam, ihre Religion zu hinterfragen: «Wenn Gott keine Fehler macht, wieso kreierte er mich dann, und will mich nun dafür bestrafen?»
«Falls es Gott gibt, macht er einen wirklich schlechten Job.»
Heute ist Romeo an einem Punkt angekommen, an dem er alle Religionen ablehnt – trotzdem bleibt eine ganz kleine Unsicherheit, ob Gott vielleicht doch existiere. «Falls es ihn gibt, macht er einen wirklich schlechten Job», sagt er.
Im Irak ist Homosexualität nicht illegal. Allerdings dürfen Männer nur Frauen heiraten, und Beziehungen ausserhalb der Ehe sind verboten. Als im Frühling 2020 ein paar ausländische Botschaften zum Internationalen Tag gegen Homophobie Regenbogenflaggen an ihren Gebäuden in Bagdad aufhängten, beschwerten sich irakische Politiker*innen, Geistliche und das Aussenministerium: Die Botschaften würden lokale Werte missachten und eine westliche Agenda durchdrücken wollen.
Die Ehre der Familie über alles Im gleichen Zeitraum passierte, wovor sich Sara schon lange gefürchtet hatte. Sie verwendete zuhause manchmal ein iPad und gab immer besonders acht, sich bei allen Accounts abzumelden. Eines Abends vergass sie es. Am nächsten Morgen habe ihr älterer Bruder empört zu ihr gesagt: «Wie kannst du es wagen, mich anzuschauen?» In diesem Moment wusste Sara, dass er es wusste. Ihr Bruder hatte den Chat mit ihrer damaligen Freundin gelesen, die sie dank Twitter kannte, wo die queere irakische Community aktiv ist. Das Pärchen ging zwar zusammen ins College, aber Treffen waren schwierig, da sich kaum Orte mit Privatsphäre fanden.
Saras Bruder war aufgebracht, schrie, sie müsse sich ändern. Ihr Hirn fühlte sich wie gelähmt an, doch sie antwortete, ohne zu überlegen: «Das kann ich nicht.» Sara war in diesem Moment erleichtert, aber sie hatte auch Angst. Früher hatte ihr Bruder manchmal auf sie eingeschlagen, wenn er schlecht gelaunt war. An diesem Morgen aber begann er zu weinen, verliess dann das Haus und übernachtete eine Woche lang bei einem Freund.
Ihre Mutter wollte wissen, was los war. Zuerst log Sara, sagte, sie hätte Pornos geschaut. Doch die Mutter wusste, dass es etwas Schlimmeres sein müsste. Als Sara sagte, sie sei in einer Beziehung mit einer anderen Frau, antwortete sie: «Habt ihr etwas zusammen gemacht?» Sara verneinte.
Seither werde das Thema in der Familie ignoriert, sagt Romeo. Er glaubt, dass die Mutter Wörter wie lesbisch vielleicht nicht einmal kennt. Sie hoffe einfach, dass ihre Tochter eines Tages einen Mann heiraten werde. So, wie sich das gehört.
Frauen tragen im Irak viel Verantwortung für die Ehre der Familie. Das schränkt ihre Freiheiten ein. Saras Mutter und der grosse Bruder wollen seit dem Vorfall noch genauer wissen, wo sie hingeht, mit wem sie sich trifft. Nach der Arbeit muss sie zügig nach Hause zurückkehren.
Die Ehre der Familie ist im Irak für viele Menschen wichtig, sie ist eine Art sozialer Währung. Gute Kontakte sind wichtig in einem Staat mit einer korrupten Bürokratie und Politiker*innen, die lieber um Macht streiten, als sich um das Leben der Bürger*innen zu kümmern. Man braucht Beziehungen, um zum Beispiel einen Job oder rascher ein Dokument bei einer Behörde zu erhalten. Romeo sagt, wenn sich in gewissen ländlichen und konservativen Gebieten Gerüchte verbreiten würden, dass eine Tochter eine Beziehung mit einem Mann habe, müsse der Vater oder Bruder sie umbringen. Ansonsten sei die Ehre der Familie zerstört und es könne sein, dass ihnen Menschen auf dem Markt kein Essen mehr verkaufen würden oder sie die Arbeit verlören.
«Männer fragen sich, wie sie die Muschi ihrer Schwester am besten beschützen können.»
Romeo kann deshalb die Reaktion seines Bruders, den er überhaupt nicht mag, teilweise nachvollziehen. Seit dem Tod des Vaters laste eine grosse Verantwortung auf ihm. «Er will uns und unsere Ehre beschützen.» Gleichzeitig findet Romeo die gesellschaftlichen Normen lächerlich: «Das ist das, was dieses Land antreibt: Männer wachen auf und fragen sich, wie sie die Muschi ihrer Schwester an diesem Tag am besten beschützen können», sagt er und grinst.
Raus aus dem Irak Für unser zweites Treffen schlug uns Romeo die Mutanabbi-Strasse vor. Eng aneinander gereihte Buchläden und Marktstände machen diese Fussgängerzone zu einem Zentrum der Literatur- und Intellektuellenszene. In einem Kaffee erzählt er, wie er seiner Playstationfigur den Namen Romeo gab, und merkte, dass es ihm gefällt, wenn ihn die Mitspieler*innen so nannten.
Er begann, auf Instagram einer Seite zu folgen, die Bilder von trans Athlet*innen teilte. Vor einem Jahr lag er auf seinem Bett, scrollte durch das Profil, und las die Bildunterschrift: «Self made». «Ich wurde so emotional und wusste, ich bin trans», sagt Romeo, «wir machen uns selbst zu dem, was wir sind». Über seine Identität gesprochen hat er mit engen Freund*innen, seiner Cousine, und einigen Kolleg*innen bei der Arbeit. Es gibt sie, die Verbündeten. Eine Ex-Freundin, mit der er ein halbes Jahr zusammen war, konnte er bei ihr zuhause in ihrem Zimmer treffen, weil ihre Schwester sie unterstützte.
Als er mit uns darüber redet, fällt ihm auf, dass neben ihm ein junger Mann sitzt, der ein englisches Buch liest. Leise sagt Romeo: «Oh, der versteht uns. Aber egal, ich sehe ihn nie wieder. Und wer Englisch liest, sollte einigermassen gebildet sein.»
«Sobald ich den Irak verlasse, gibt es Sara nicht mehr.»
Beim letzten Mal, als wir Romeo treffen, trägt er kein Kopftuch. Die kurzen Haare sind fast so dunkel wie sein schwarzes Hemd. Mit einer alten Schulfreundin geht er am Fluss Tigris entlang und steigt auf eines der Boote, das kurze Touren anbietet. Er stellt sich ganz vorne an den Bug, sieht das Ufer vorbeiziehen. Seit er ein Kind gewesen sei, träume er immer wieder das Gleiche: Er rennt und rennt und sein Bruder verfolgt ihn. Dann erreicht Romeo eine Tür, dreht sich um, und sein Bruder ist weg.
Romeo will ins Ausland. «Sobald ich den Irak verlasse, gibt es Sara nicht mehr», sagt er. Sein Wunsch ist es, eines Tages ein Vater zu sein. Von seinem neuen Leben könnte er seiner Familie kaum erzählen. Für sie wird er für immer Sara bleiben. Wenn er darüber nachdenkt, bedrückt ihn manchmal der Gedanke an seine Mutter. Sie liebe ihn, das spüre er, wenn sie ihn pflege oder ihm Essen koche, das er möge. Doch sie akzeptiere ihn nicht so, wie er sei, obwohl sie sich dafür entscheiden könnte. «Ich werde nicht mein Leben verschwenden, um sie glücklich zu machen.»
Romeo hofft, entweder einen Studienplatz oder einen Job im Ausland zu finden, am liebsten London, Irland, oder Kanada. Um diesen Plan umzusetzen, muss er erstmals viel Geld sparen. Dafür arbeitet er hart, neben seinem Job erledigt er als Freelancer zusätzliche Aufträge, und er bildet sich weiter. Wie lange es dauern wird, bis er flüchten kann, weiss Romeo nicht. Doch er sieht keinen anderen Weg.
Nach der Bootstour steht er neben dem Fluss im Schatten einer Mauer, die ihn vor Blicken der Strasse schützt. Er zieht ein lachsfarbenes Kopftuch aus dem Rucksack. «Goodbye Romeo», sagt er, während seine kurzen Haare unter dem Stoff verschwinden, «nun bist du wieder Sara». Dann bestellt er sich ein Taxi und fährt nach Hause.
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