«Die Ausgrenzung und die Scham vergisst man nicht einfach so»

Späte Anerkennung – nach 63 Jahren

Als Abgeordneter im kalifornischen Parlament setzte sich Tom Ammiano jahrzehntelang für die Gleichstellung ein. (Bild: Flickr. Kelly Huston)
Als Abgeordneter im kalifornischen Parlament setzte sich Tom Ammiano jahrzehntelang für die Gleichstellung ein. (Bild: Flickr. Kelly Huston)

In seiner Highschool wird Tom Ammiano jahrelang schikaniert. Er rennt seinen Peinigern davon, so schnell, dass er zu einem der besten Läufer seines Jahrgangs wird. Doch die Schule will seine Leistung nicht anerkennen und verweigert ihm eine bedeutende Auszeichnung. 63 Jahre später erhält der Aktivist und ehemalige Weggefährte von Harvey Milk ein symbolisches Geschenk.

Tom Ammiano hält eine Schachtel in den Händen. Es ist ein schöner Morgen und der lebhafte 79-Jährige steht vor seinem Haus im Bernal-Heights-Viertel in San Francisco. Ob vielleicht ein Geburtstagsgeschenk drin sei, fragt er und lacht. Dann verstummt er und geniesst den Moment, andächtig.

Die Schachtel ist ein Geschenk. Aber sie weckt auch Erinnerungen. An einen 60-jährigen Leidensweg, an Angst, Scham und Schmerz. Tom wurde sein Leben lang schikaniert, weil er schwul ist. «Die Ausgrenzung und die Scham vergisst man nicht einfach so», sagt er. «Ob ich ein Label dafür hatte oder nicht, ich weiss es nicht. Aber du denkst an all die Schimpfwörter zurück und weisst genau, dass sie dich damit gemeint hatten.»

Tom wiegt die Schachtel in seinen Armen. Er weiss, dass auch der gute Wille von Unbekannten darin steckt. Und noch bevor er sie öffnet, erkennt er sie als Zeichen dafür, dass es nie zu spät ist, etwas zu ändern – egal, wie lange es her ist.

Im Kleid den Cowboys nachgeträumt Tom wusste schon immer, dass er anders war als die anderen Jungs. Mit acht Jahren träumt er davon, nach Kalifornien oder Texas zu ziehen und mit einem Cowboy zusammenzuleben. «Damals waren Cowboys besonders angesagt», sagt er.

tom ammiano
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Mit zehn Jahren zieht er ein Kleid und Stöckelschuhe an und geht aus dem Haus. «Die Familie beobachtet mich, wie ich die Orange Road zur Bloomfield Avenue hinauf stolziere und eine wunderbare Unterhaltung mit mir, mit dem grossen Hut und den Perlen und den Schuhen meiner Mutter führe», sagt er. «Die Familie sagt: ‹Du holst ihn – nein, du holst ihn.›» Tom kichert: «Ich glaube, das war eine klare Ansage.»

An diesem Ort und in dieser Zeit vor mehr als 60 Jahren wird nie darüber gesprochen, dass Tom schwul ist. Diejenigen, die versuchen, freundlich zu sein, beschreiben Tom als «weird» – seltsam. Die anderen – darunter auch ein Onkel, der Tom unablässig in einer hohen Stimm­lage und mit «Tomasina» anspricht – geben ihren Hass viel deutlicher zu verstehen.

«Mein Gott, ich wiege 48 Kilo – warum gehen sie immer zu viert oder zu fünft auf mich los? Was zum Teufel soll das?»

Wir schreiben das Jahr 1958. Tom besucht die Highschool Immaculate Conception, eine katholische Schule in Montclair, New Jersey, und fühlt sich fehl am Platz. Bei einem Basketballspiel wird er einmal von einer Gruppe Jungs umzingelt und zur Bushaltestelle gejagt. Jeden Tag wird er im Flur der Schule schikaniert. Tom ist dünn und schmächtig, und die anderen Jungs, vor allem die Sportler, die «Jocks», scharen sich um ihn, wenn er versucht, an ihnen vorbeizugehen. Sie stossen ihn gegen die Schliessfächer – wie den Ball im Flipperautomaten. «Was mir immer wieder durch den Kopf ging», sagt Tom, «war: ‹Mein Gott, ich wiege 48 Kilo – warum gehen sie immer zu viert oder zu fünft auf mich los? Was zum Teufel soll das?›»

Lehrkräfte greifen nicht ein, im Gegenteil. Vielmehr sei das Mobbing, wie Tom sagt, vom Footballtrainer der Schule «genährt» worden. Dieser hatte seinen eigenen Stil der Einschüchterung. Jedes Mal wenn sich der Trainer in seine Richtung bewegt, zuckt Tom zusammen, weil er genau weiss, was auf ihn zukommt. «Na, Ammiano, wie gehts?», brüllt der Trainer, gefolgt von einem Stoss in die Nieren und dem schlimmen Gelächter aller Anwesenden. Dann gibt es einen Schlag auf das Genick, «Rabbit punches», «Kaninchenschläge», sagt Tom mit leiser Stimme. «Nicht sehr schön, aber die gibt es häufiger, als den Leuten lieb ist.» Er schüttelt den Kopf. «Es war der Lehrer – das machte es bedeutender und beängstigender.»

Als junger Mann schwankt Tom zwischen dem Wunsch, sich selbst treu zu bleiben, und der Sehnsucht, mehr als alles andere einfach dazuzugehören. Bei einer katholischen Jugendveranstaltung fängt er einmal an zu tanzen, nur um dann aufgefordert zu werden, damit aufzuhören, weil «du wie ein Mädchen aussiehst». Trotz der Grausamkeiten, die ihm von den Sportlern an der Highschool zugefügt werden, beschliesst Tom in einem Jahr, sich für das Footballteam anzumelden. Bis heute erinnert er sich daran, dass «alle lachten» und «der Trainer sehr, sehr verärgert war und fragte, warum ich überhaupt dort war.» Tom hört nach einem einzigen Tag auf.

Die schnellste Meile In seinem ersten Schuljahr an der Highschool erfährt Tom, dass die Immaculate Conception eine Leichtathletikmannschaft für Jungs aufbauen will. Er ist neugierig. Laufen kann er ziemlich schnell, «weil ich vor all den Tyrannen davonlaufe», und der Trainer des Teams ist ein ruhiger, freundlicher Lehrer. Tom entdeckt, dass auch einige der anderen Läufer wissen, wie es ist, verspottet zu werden. Einer seiner Teamkameraden ist Albino und wird von allen in der Schule «Whitey» genannt. Ein anderer mit Wurzeln im Nahen Osten wird überall «Ali Baba» genannt. Angesichts des Elends finden die Jungs Trost in der Stärke der anderen.

tom ammiano
tom ammiano

An der Highschool gibt es ein Punktesystem, mit dem ermittelt wird, wer am Ende des Schuljahres mit einem Varsity Letter ausgezeichnet werden. Als solche werden in den USA die aufnähbaren Buchstaben – meist die Abkürzung des Schulnamens – bezeichnet, die aussergewöhnliche Athlet*innen für ihre sportlichen Leistungen erhalten. Die sogenannten «Lettermen» tragen den Varsity Letter auf der Sportuniform oder auf der Collegejacke, meistens auf der Herzseite. Wer die Bestleistungen nicht mehr erbringt, muss den Buchstaben wieder abgeben.

Tom glaubt, dass er niemals eine Chance habe in diesem Punktesystem – solche Auszeichnungen sind nur etwas für echte Sportler*innen –, aber gegen Ende der Saison, während eines nassen, verregneten Wettkampfs gegen Rutherford, läuft Tom die Meile wie nie zuvor. «Es hat einfach Klick gemacht», sagt er. «Gibt es bei Pferde­rennen nicht so etwas wie den Mudder – ein Pferd, das trotz nassen Verhältnissen gut läuft? Ich glaube, ich war der Mudder.» Er hängt die anderen ab und überquert als erster die Ziellinie.

Sein Trainer erzählt ihm aufgeregt, dass der Sieg genug Punkte für einen Varsity Letter bringt. Tom ist fassungslos. «Sind Sie sicher?», fragt er nervös, aber voller Stolz. Er denkt: «Tom Ammiano ist ein Letterman.» Dann kann er wenigstens mit demselben Schulemblem – das schwarze IC für Immaculate Conception – auf seinem Pullover unter den Footballspielern, den Basketballspielern und dem Trainer herumlaufen.

Ein junger Athlet in der Verzweiflung Der Letterman-Pullover kostet 40 Dollar, was für eine Arbeiterfamilie wie die Ammianos eine Menge ist, aber Tom und seine Eltern kratzen das Geld zusammen. Sie bitten einige Verwandte um einen Zustupf. Stolz erzählt Tom allen, wofür es ist. «Ich ritt auf einem High», sagt er. «Ich dachte: ‹Das können sie mir nicht wegnehmen.›»

Nur: Sie konnten es. Kurz vor der Zeremonie erfährt Tom, dass er den  Varsity Letter tatsächlich nicht bekommen wird. Es sei ein «Fehler», wird ihm gesagt. Das Sportkomitee der Schule – eine Gruppe unter der Leitung des Footballtrainers – hat entschieden, dass der Wettkampf, den Tom gewonnen hatte, nicht «legitim» war. Die Ergebnisse sind ungültig. Die Punkte, die er dort gesammelt hat, zählen nicht.

Tom ist am Boden zerstört. Er versteht es nicht. Ausser dass er es doch versteht. «Ich war die Schwuchtel», sagt er. An einer katholischen Schule in den 1950ern gibt die Vorstellung, dass jemand wie er einen Varsity Letter bekommt – die ultimative Bestätigung der Männlichkeit – den anderen Sportlern das Gefühl, irgendwie «weniger wert» zu sein. Indem sie ihm den Letter verweigern, bestätigen sie ihre vermeintliche Überlegenheit.

«Es war definitiv ein Gefühl der Verzweiflung», sagt Tom und fügt hinzu, dass er sich daran erinnert, wie er immer wieder dachte: «Warum habe ich es überhaupt versucht? Warum habe ich es nicht besser gewusst?»

Tom behält sein Elend für sich. Er gibt das geliehene Geld zurück. «Es hat sich herausgestellt, dass ich es doch nicht brauche», sagt er seinen Verwandten und versucht trotz seiner Verlegenheit zu lächeln. Als sie ihn fragen, was passiert ist, tut er so, als sei es keine grosse Sache. Warum bekommt Tom seine Ehrenbuchstaben nicht? «Oh, ich weiss es nicht einmal», sagt er.

Kämpfen an der Seite von Harvey Milk 1963 flüchtet der 21-jährige Tom aus dem Nordosten der USA. Er kratzt nochmals 40 Dollar zusammen, nimmt einen Greyhound-Bus quer durchs Land. Nach drei Tagen kommt er in San Francisco an und geht davon aus, dass er nie wieder etwas über Immaculate Conception, Leichtathletik, Varsity Letters oder «Rabbit Punches» hören wird.

«So viel Scham und so viel Wut . . . das hat mich dazu gebracht, es nicht weiter hinzunehmen.»

Die Erfahrung mit dem Letter ist jedoch ein Feuer, ein Motivator. Das Gefühl der Ungerechtigkeit, das er an seiner Highschool empfand, treibt ihn an. Er arbeitet als Lehrer, wird aber schnell zum Aktivisten und kämpft an der Seite von Harvey Milk – «wir waren Kumpel, wir waren, wie wir es nannten, Schwestern» – in der Frühphase der Schwulen- und Lesbenbewegung. 1975 outet sich Tom als einer der ersten offen schwulen Lehrer in San Francisco. 1978 setzt er sich gemeinsam mit Milk und vielen anderen gegen die Briggs-Initiative ein, ein Gesetz, das Homosexuellen die Lehrtätigkeit in Kalifornien verbieten will. Nach der Ermordung von Milk im selben Jahr überwindet Tom seine Trauer und konzentriert sich mehr und mehr auf die Forderung nach Fortschritt.

«Die Ungerechtigkeit», die mit dem Verlust des Varsity Letters einherging, sagt er, «trug ich lange mit mir herum, und ich glaube, das schlug sich in meiner politischen Karriere nieder. So unglaublich viel Scham und so viel Wut . . . das hat mich dazu gebracht, es nicht weiter hinzunehmen.»

Er versucht sich als Stand-up-Comedian, wechselt aber in die Politik und bringt sich in Gesetzesdiskussionen oder angespannten Sitzungen ein. Er wird in den Bildungsausschuss und den Aufsichtsrat der Stadt gewählt. Er kandidiert zweimal für das Amt des Bürgermeisters. Er verbringt sechs Jahre in der California State Assembly, dem Unterhaus des kalifornischen Parlaments, wo er sich für Reformen in wichtigen Bereichen wie allgemeine Gesundheitsversorgung, Bildungsgerechtigkeit, Anerkennung von Lebenspartner*innen und Mindestlöhne einsetzt.

2014 zieht sich Tom aus dem Unterhaus zurück. Im Dezember 2020 tritt er beim KQED, dem öffentlichen Radiosender San Franciscos, auf und spricht über seine kürzlich veröffentlichten Memoiren «Kiss My Gay Ass». (Der Titel ist eine Anspielung auf eine berühmte Rüge, die Tom dem damaligen Gouverneur Arnold Schwarzenegger über ein Jahrzehnt zuvor erteilt hatte). Tom ist in der Sendung zu Gast, um über sein Buch und über sein Leben in der Politik zu sprechen. Als der Moderator ihn nach seinen Highschoolerfahrungen fragt, erwähnt Tom kurz den Vorfall mit dem Varsity Letter. Das Interview geht dann zu anderen Themen hinüber.

tom ammiano harvey milk
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Ein uraltes jüdisches Prinzip kommt zur Anwendung In einem Haus in Hayward, etwas ausserhalb der Stadt, setzt ein Mann namens Stephen Saxon gerade in dem Moment seine Kopfhörer auf, als Tom mit seiner Geschichte beginnt. Stephen, ein professioneller Musiker und jüdischer Kantor, lauscht ihm zu, als er den Schmerz beschreibt, nachdem ihm sein Varsity Letter weggenommen wurde. Er hört ihn sagen: «Diese Dinge tun immer noch weh . . . sogar hundert Jahre später.» Diese Worte setzen sich in Stephens Gehirn fest. Er denkt an den Schmerz, den wir alle in uns tragen, von unseren jüngsten Tagen bis zu unseren ältesten. Er denkt an das jüdische Konzept des «Tikun Olam» – ein Prinzip, das wörtlich «die Welt reparieren» bedeutet und alle Menschen dazu verpflichtet, die Risse und Löcher um sich herum zu flicken.

Stephen erfährt, dass Tom auf der Highschool Immaculate Conception in New Jersey war. Er googelt die Schule, findet den Namen und die E-Mail-Adresse eines Hauptverantwortlichen und schickt einen Brief. «Ich habe keine direkte Verbindung zu Ihnen, zu ihm und gehöre auch nicht zu seiner primären politischen Wählerschaft», schreibt er, «aber ich habe mich gefragt, ob Sie vielleicht in Erwägung ziehen könnten, Tom zu kontaktieren und ihm seinen Varsity Letter zu verleihen, um alte Wunden zu heilen und einem Ihrer ehemaligen Studenten, der ein vorbildliches und positives Leben geführt hat, Respekt zu zollen.» Stephen hat keine besondere Hoffnung, dass irgendetwas dabei herauskommt, keinen besonderen Glauben daran, dass mit seiner E-Mail etwas anderes geschieht, als in einem schwarzen Loch im Internet zu verschwinden. Er unterschreibt den Brief «mit freundlichen Grüssen, Stephen Saxon».

Ein Brief lässt die Vergangenheit hochkommen Im Februar 2021 erhält Tom einen Brief von der Immaculate Conception High School. Er denkt, es sei ein Spendenaufruf, ein Formbrief, und wirft ihn fast weg. Dann öffnet er ihn.

«Lieber Tom», steht dort, «wir haben kürzlich eine E-Mail von einem Hörer erhalten, der zufällig ein Radiointerview von Ihnen gehört hat . . . »

Toms Augen werden gross. Der Brief ist von Patrick Dyer, dem Vizepräsidenten der Schule, und Nora Bishop, der Direktorin für Alumni-Beziehungen. Sie schreiben, dass die derzeitige Schulverwaltung «bestürzt» über die Situation sei, die sich vor so vielen Jahren ereignet habe, und dass sie dieses «Unrecht wieder gut machen», wollten.

Tom fühlt sich beim Lesen «zunächst ein wenig ratlos». Allein der Briefkopf der Schule lässt das vor sechs Jahrzehnten Geschehene wie gestern erscheinen. Im Brief steht weiter, dass die Schule mit einem ehemaligen Teamkameraden gesprochen habe, der gesagt habe, dass es Tom «auf jeden Fall» verdient habe, Mitglied des Teams zu sein, und dass er ein wichtiger Bestandteil der Leichtathletikmannschaft gewesen sei. Die Schule sprach auch mit Ed Kirk, Toms ehemaligem Leichtathletiktrainer. Dieser bestätigte, dass Tom mit seinen Leistungen den Varsity Letter verdient habe.

Er habe nie gewusst, dass Tom seine Auszeichnung nicht bekommen habe, sagte der heute 90-jährige Kirk in einem Interview. Er erinnere sich deutlich daran, dass der Sportdirektor – vielleicht nicht zufällig, wie er jetzt feststellt – ihn just in dem Moment darum gebeten habe, etwas auf dem Flur zu besprechen, als die Empfänger des Varsity Letters bekannt gegeben wurden. «Tommy hat es damals verdient, und er verdient es auch jetzt», sagte Kirk.

Eine späte Ehre Die Highschool schreibt Tom, dass sie ihm einen speziell für ihn angefertigten Varsity Letter inklusive Pullover zukommen lassen will als offizielle Auszeichnung, weil diese «längst überfällig» sei. Im Brief steht weiter, dass die Immaculate Conception die wichtige Arbeit anzuerkennen wisse, die Tom während seiner Karriere geleistet habe, und stolz darauf sei, ihn einen Alumnus nennen zu dürfen. «Sie sind eine Inspiration», schreibt die Schulverwaltung.

«Das ändert nicht die Welt. Aber es verändert etwas.»

«Ich hätte das niemals selbst versucht oder jemand anderes darum gebeten», sagt Tom. «Für mich war die Sache abgeschlossen. Sie verfolgten es weiter. Sie sprachen mit dem Trainer und mit anderen Leuten. Und sie entschieden, dass man das Vorgefallene so nicht stehen lassen kann.» Als Tom den Brief erhält, weiss er noch nichts von Stephen Saxon. Er weiss auch nichts von der Odyssee, die die Schulverwaltung der Immaculate Conception auf sich genommen hatte, um die katholische Erzdiözese, der die Highschool angehört, von ihren Absichten zu überzeugen. In diesem Moment weiss Tom nur das, was er fühlt – und das ist ein bisschen von allem auf einmal. Da ist das vertraute Stechen, das unangenehme Gefühl, das er in New Jersey längst hinter sich gelassen zu haben glaubte. Da ist die Angst, die aufkommt, sobald er an Immaculate Conception und das Teenagerdasein denkt. Aber da ist auch eine Wärme. Die Freude über einen Ort, von dem er nicht wusste, dass er ihn jemals glücklich machen könnte, der es aber nach so vielen Jahren vielleicht tatsächlich kann. «Wenn man älter wird, denkt man, dass einige Türen geschlossen sind, aber das ist nicht der Fall», sagt Tom. «Ich war vorher noch nie alt. Ich wusste es also nicht.» Lachend fügt er hinzu: «Das ändert nicht die Welt. Aber es verändert etwas.»

Die Übergabe Stephen Saxon wartet vor Toms Haustür. An diesem Morgen, als er im Sonnenlicht steht, ist es schwer, nicht an die seltsame Abfolge von Ereignissen zu denken, die ihn – und die Schachtel in seinen Händen – an diesen Ort gebracht haben.

Wie viele Menschen haben das Interview gehört? Hunderte? Tausende? Und Stephen war der Einzige, der etwas getan hat? Der Einzige, der sich gezwungen fühlte, mehr zu tun, als zum nächsten Sender zu klicken und weiterzuhören? Stephen hört, wie Tom zur Tür kommt. War es etwas aus seiner eigenen Vergangenheit? Oder war es die Erkenntnis, dass manchmal die kleinsten Dinge, die wir tun, den grössten Unterschied machen? «Ich glaube», sagt Stephen, «ich würde wollen, dass es jemand für mich tut.»

Die Tür öffnet sich. Die beiden Männer begrüssen sich. Tom macht einen Witz über einen Geburtstagskuchen. Sie vereinbaren, sich eines Tages wieder zu treffen, beim nächsten Mal bei einem Martini. «Das ist dein Cardigan . . . und dein Varsity Letter», sagt Stephen. Die Schule konnte niemanden nach Kalifornien schicken, um das Paket zu liefern, aber er was gerne bereit, für sie einzuspringen. Er überbringt den Karton, tritt zurück und winkt. Dann fährt er weg.

tom ammiano
tom ammiano

In seinem Haus öffnet Tom vorsichtig die Schachtel. Er schlüpft in den weichen, weissen Cardigan und murmelt ein paar Takte des Schullieds der Immaculate Conception. Er posiert für seinen Mann, Carolis Dean, der ein Foto macht. Mit seinen Händen fährt Tom über das dunkle IC. «Ich glaube, ich spinne», sagt er. «Nur 63 Jahre . . . »

Tom macht die Knöpfe zu, richtet den Kragen. Er glättet die Ärmel und schaut in den Spiegel. Tom Ammiano ist ein Letterman.

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