«Alle Menschen dürfen so sein, wie sie sind»
Ein Gespräch über Rollenstereotype, Selbstwert und Konversionstherapien
Sexuelle Identität und Kritik an klassischen Rollenstereotypen – das sind zentrale Bestandteile vieler Diskussionen und Diskursen in der LGBTIQ-Community. Mit der Wiener Psychotherapeutin Katrin Hofer haben wir das Ganze aus therapeutischer Perspektive beleuchtet.
Katrin, wir schlagen ein Kinderbuch auf, sehen Vater, Mutter und Kind. Die Mutter kocht, der Vater geht arbeiten. Ist das ein Rollenstereotyp? Was macht das mit uns? Das ist sicher ein Beispiel für eine Rollenzuschreibung, wie wir sie häufig erleben. Rollen per se sind nicht immer schlecht, aber sind sie zu festgefahren und werden zu wenig kritisch hinterfragt, können Ängste entstehen. Das hemmt uns wiederum in unserer individuellen Weiterentwicklung.
Warum beschäftigt das Thema «Sexuelle Identität» Menschen? Wer bin ich? Was macht mich aus? Wie nehme ich mich selbst wahr? Wie fühle ich mich in meinem Körper? Zu wem fühle ich mich hingezogen? Das sind Grundfragen der menschlichen Identität. Die Formung der sexuellen Identität beginnt schon mit dem zweiten Lebensjahr, beschäftigt dann aber vor allem Jugendliche, wenn sie erste intime Erfahrungen mit anderen Menschen erleben und sie merken, wie es ihnen dabei geht. Aber auch bei erwachsenen Menschen bleibt die sexuelle Identität oft ein Thema, das beschäftigt. Häufig, wenn Menschen selbst Eltern werden und das Geschlecht ihres Kindes erfahren. Dann kommen oft persönliche Erfahrungen, Erinnerungen und Emotionen auf.
Inwiefern beeinflusst die Frage nach sexueller Identität das Selbstbild sowie den Selbstwert eines Menschen? Das hängt unweigerlich zusammen, denn je bewusster ich mir meiner eigenen sexuellen Identität bin, desto ausgeprägter ist auch mein Selbstwert. Oder umgekehrt: Je weniger ich im Reinen mit meiner sexuellen Identität bin, desto geringer mein Selbstwertgefühl. Das bewusste Fühlen und Auseinandersetzen mit der eigenen sexuellen Identität trägt zu einem stärkeren Selbstwert bei.
Welche Ängste stecken hinter dem Akzeptieren der eigenen sexuellen Identität? Ein Urbedürfnis aller Menschen ist die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe, das Gefühl akzeptiert, anerkannt und geliebt zu werden. Insofern definiert sich jeder Mensch, ob bewusst oder unbewusst, ob gewollt oder ungewollt, teilweise über die Gesellschaft. Und genau darin liegt der Ursprung der Angst seine eigene sexuelle Identität zu akzeptieren und zu leben.
Bringt uns das zurück zu den Rollenstereotypen, die uns in unserer sexuellen Identität hindern? Gewissermassen ja, denn die erste soziale Gruppe, die wir als Menschen kennenlernen ist die Familie, die wiederum von der Gesellschaft geprägt ist. Abhängig davon, wie festgefahren Rollenstereotypen in einer Familie sind, kann Angst entstehen. Die Angst nicht akzeptiert zu werden.
Aus einer psychotherapeutischen Perspektive – sind Rollenstereotype gut, schlecht oder beides? Psychotherapie ist ein wertfreier Raum. Wir beurteilen hier nichts als gut oder schlecht. Es geht darum, Menschen zu unterstützen ihre individuellen Bedürfnisse neutral zu sehen und auszuleben. Problematisch sind Rollenstereotype, in die Menschen geschoben werden, obwohl sie sich selbst in dieser Rolle nicht sehen. Andererseits profitieren wir alle auch von Rollenaufteilungen, beispielsweise in einer Wohngemeinschaft, in der manche kochen und andere bügeln. Der Begriff Rollenstereotypen ist häufig negativ behaftet, allerdings bedienen wir uns alle vieler Rollen und profitieren auch davon.
Gibt es überhaupt eine Gesellschaft ohne Rollenstereotype? Das ist idealistisch. Jedes Individuum hat eine Herkunft und ist Teil einer Gesellschaft. Ich lerne viele Menschen kennen, die sich intensiv mit sich sowie ihrem Umfeld auseinandersetzen und reflektieren. Und doch hat jeder blinde Flecken und verfällt in stereotypische Denkmuster. Rollenbilder wird es immer geben, es geht aber vielmehr um die Frage, wie wir damit umgehen und wie offen wir anderen gegenüber sind. Das ist entscheidend.
In deiner Arbeit begleitest du auch LGBTIQ-Personen. Spielen Rollenstereotype hier häufig eine Rolle? Der Wunsch von den traditionellen weiblichen und männlichen Eigenschaften und Rollen wegzugehen ist sicher vorhanden. Und dennoch bleibt auch bei LGBTIQ-Personen der Wunsch zu einer Gruppe dazuzugehören. Auch das ist eine Rollenzuschreibung, die zu hinterfragen ist. Wenn wir Klischees aufweichen möchten, müssen wir uns vor allem die Frage stellen, welchen Nutzen Rollen haben und wo wir uns dieser selbst bedienen.
Ganz allgemein: Haben LGBTIQ-Personen in der Therapie bestimmte Anliegen? Im Grunde geht es um ähnliche Urängste und Grundbedürfnisse. Es geht häufig um Akzeptanz und so sein zu dürfen, wie man ist. Aber das betrifft alle Menschen und ist nicht spezifisch für LGBTIQ-Personen.
Was rätst du Mitgliedern der LGBTIQ-Community, die Probleme mit ihrer sexuellen Identität oder Rollenstereotypen haben? Einerseits den Kontakt zu Gleichgesinnten und zur eigenen Community zu suchen. Dort wird man gestärkt und diese Stärke kann man in andere Lebenssituationen einbringen. Andererseits kann Psychotherapie helfen in einem wertfreien Raum ein unbeschwertes und auf die eigenen Bedürfnisse abgestimmtes Lebensmodell zu schaffen.
Stichwort Konversionstherapien (die in Österreich nicht ausdrücklich verboten sind, in Deutschland dagegen schon – MANNSCHAFT berichtete). Sind schon Menschen zu dir gekommen mit dem Ziel ihre geschlechtliche oder sexuelle Identität zu ändern? Mit dem direkten Ziel einer Konversionstherapie nicht. Es sind vielmehr Menschen, die Angst haben nicht normal zu sein. Menschen, die versucht haben ein Leben zu leben, welches nicht ihren Bedürfnissen entspricht. Ich würde das als Therapeutin auch nie machen, denn Konversionstherapie bedeutet: Ich verändere mich, um in ein Schema reinzupassen. Dadurch werden Bedürfnisse unterdrückt und die eigene Identität wird verleumdet. Insofern fördert eine Konversionstherapie Störungen und Ängste. Mein Ansatz ist immer, dass Menschen ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und akzeptieren dürfen. Sie dürfen so sein, wie sie sind.
Schutz vor Hass im Netz – «ein längst überfälliger Schritt!»
Inwiefern fördert die Kirche Rollenstereotypen? Die Religion ist eine von vielen Communities in unserer Gesellschaft. Genauso, wie Sportvereine, Familien oder auch die queere Community, gibt es bewusste und/oder unbewusste Gebote und Verbote. Überall dort, wo eine Community ist, zu der ein Mensch dazugehören möchte, kann auch die Angst vor Ausschluss entstehen.
Als Psychotherapeutin bist du in Wien und Niederösterreich tätig. Wie sehr wird die österreichische Gesellschaft von Rollenstereotypen geprägt? Österreich ist auf einem guten Weg. Vieles wird hinterfragt, das Gesellschaftsbild wird vielfältiger. Ich merke allerdings einen Unterschied zwischen Stadt und Land. In Wien ist die Akzeptanz höher, weil auch die Anonymität höher ist. Communities haben mehr Möglichkeiten und Plattformen sich zusammenschliessen. Auf dem Land ist die Anonymität geringer, es wird mehr geredet. Das ist nicht immer förderlich für individuelle Bedürfnisse und Wege. Sowohl in der Stadt als auch am Land sehe ich viele aufgeschlossene Menschen, allerdings können Rollenstereotype, die sich über Jahrhunderte hinweg etabliert haben, nicht von heute auf morgen aufgebrochen werden. Das braucht Zeit.
Nun erleben wir aber immer noch Diskriminierung von LGBTIQ-Menschen und nicht-heteronormativen Lebensformen (in Wien zerrissen Corona-Demonstrant*innen im Sommer die Regenbogenfahne – MANNSCHAFT berichete). Warum? Wenn es eine Bewegung gibt, gibt es auch eine Gegenbewegung. Der Grund dafür liegt in der Angst vieler Menschen vor Unbekanntem. Das Gewohnte gibt Sicherheit und um diese Sicherheit nicht ins Wanken zu bringen, wird alles abseits von Stereotypen verurteilt. Häufig wird die Diskriminierung anderer auch durch Neid motiviert, dass andere Menschen sich trauen offen nach ihren Bedürfnissen zu leben und diese aktiv auszuleben.
Bedeutet das: Je bewusster ich mir meiner selbst und demzufolge auch meiner sexuellen Identität bin, umso toleranter bin ich? Das kann man so sagen. Wenn ich mir meiner sexuellen Identität und meiner Persönlichkeit bewusst bin und diese auch hinterfragen kann, dann ist die Akzeptanz gegenüber anderen Lebensformen höher. Je unsicherer mein eigenes Selbstbild ist, umso weniger Toleranz kann ich gegenüber anderen aufbringen.
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