Sex im Gefängnis: Menschenrecht oder unverdienter Luxus?

Erst nach einem schweren Verbrechen findet Stefan im Gefängnis zu seiner Sexualität

Symbolbild: Unsplash/Victor B
Symbolbild: Unsplash/Victor B

In vielen Gefängnissen sind sexuelle Kontakte zwischen Häftlingen untersagt und werden mit Disziplinar- oder Therapiemassnahmen geahndet. Ein solches Verbot ist aber für die Resozialisierung hinderlich, argumentieren ein Experte und eine Selbsthilfeorganisation für Strafgefangene.

Zum ersten Mal Sex mit einem anderen Mann hatte Stefan im Gefängnis. Die beiden arbeiteten alleine in einem Zimmer – der Zufall wollte es, dass sie Kondome für die Schweizer Aids-Hilfe einpacken mussten –, als sich ihre Hände zufällig streiften. «Man spürte förmlich die Elektrizität in der Luft», erinnert sich Stefan heute. Die beiden fielen übereinander her. Für Stefan war die Erfahrung eine Erlösung, endlich wusste er mit Sicherheit, dass er schwul war.

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Für den anderen, einen Heterosexuellen, war der Zwischenfall eine willkommene Abwechslung in einer Anstalt, die die Sexualität ihrer Häftlinge auf ein absolutes Minimum reduziert. Der Mann war so begeistert, dass er einem Mitinsassen davon erzählte. Dieser forderte Stefan bald darauf zum Oralsex auf. Als er sich weigerte, fühlte sich das Gegenüber gekränkt. Die Affäre kam ans Licht und die Anstalt belegte Stefan mit einer Disziplinarmassnahme. Während drei Monaten wurde er von seinen Mitinsassen und sämtlichen gemeinschaftlichen Aktivitäten isoliert. Sexuelle Kontakte unter Häftlingen sind im Massnahmenzentrum Bitzi in der Ostschweiz nämlich verboten.

In der Gruppentherapie arbeitete Stefan seine Vergangenheit auf und suchte nach Antworten. Seine Kindheit und Jugend verbrachte er in einem Heim, in dem es keinen Platz gab für Sexualität, schon gar nicht für gleichgeschlechtliche Liebe. Das gelegentliche Rummachen mit einem Gleichaltrigen hielt er unter Verschluss, homosexuelle Neigungen wurden missbilligt und entsprechend unterdrückt. Er absolvierte eine Ausbildung, heiratete eine Frau und zeugte mit ihr einen Sohn. Doch irgendetwas stimmte immer noch nicht.

Stefan hörte von einer Autobahnraststätte, an der sich Männer zum Cruisen trafen. Immer wieder fuhr er dorthin, traute sich aber nie, auszusteigen. Er fühlte sich in einer emotionalen Sackgasse und fiel in eine Zeit zurück, in der er sich wenigstens annähernd glücklich fühlte: die Jugend im Heim.

An Stefans Straftat gibt es nichts schönzureden. Er wurde erwischt, als er sich an seinem knapp siebenjährigen Sohn verging. 2009 trat der damals 37-jährige Schweizer noch vor seiner Verurteilung freiwillig den vorzeitigen Massnahmenvollzug im Massnahmenzentrum Bitzi an.

Im Bericht stand, dass man die anderen Insassen vor mir schützen müsse.

Stefan wurde nach acht Jahren Freiheitsentzug im November 2017 aus der Haft entlassen. Sein Name ist aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes frei erfunden, sein richtiger Name ist der Redaktion bekannt. «Es war der grösste Fehler meines Lebens», sagt er im Gespräch mit der MANNSCHAFT. «War ich wahnsinnig? Wie konnte ich so etwas nur tun?»

Die Selbstkastration als einziger Ausweg Stefan wurde bei seinem Eintritt ins Massnahmenzentrum klar, dass er in seiner sexuellen Entwicklung stehen geblieben war. Er schämte sich so sehr für seine Tat, dass er mit sich selber nicht mehr leben konnte. «Ich hatte so viel Schaden angerichtet, ich musste einfach wissen, welche Gefühle ich über die Jahre hinweg unterdrückt hatte und ob ich wieder auf den richtigen Weg finden würde», sagt er. Als er schliesslich mit dem anderen Mann alleine im Zimmer war, nahm er seinen ganzen Mut zusammen und machte den ersten Schritt.

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Stefan wurde nicht mit einer Geldbusse bestraft, sondern mit einem Entzug. Während drei Monaten hatte er keinen Kontakt zu den anderen Häftlingen, selbst die Mahlzeiten muss er alleine einnehmen. Für Stefan kam die Entfernung aus der Gruppe und die Unterbringung in einem kargen Zimmer mit minimalem Kontakt zum Personal einer Isolationshaft gleich.

«Im Bericht stand, dass man die anderen Insassen vor mir schützen müsse. Dass ich den Sex provoziert hätte», sagt Stefan. Er beteuert, niemals etwas getan zu haben, wenn es der andere nicht gewollt hätte. «Den Entzug erlebte ich als psychische Gewalt. Die Leitung hätte den Vorfall anders angehen sollen. Mir ist es wie eine Teufelsaustreibung vorgekommen.»

In den drei Monaten plagten Stefan weiterhin Unsicherheit, Scham und Schuldgefühle. Er knickte ein, verzweifelte, weil er glaubte, sein sexuelles Begehren nach Männern sei falsch. Vom Personal, dem einzigen Menschenkontakt, den er in dieser Zeit hatte, kassierte er eine Rüge. Er sei nicht freundlich zu ihnen. Die Therapie bezeichnet Stefan als Zumutung, immer wieder sei er abgekanzelt worden, die Sexualität habe man aus dem Spiel gelassen. Einzig die Gruppentherapie, die er gemeinsam mit den anderen Insassen besucht hatte, sei «für etwas» gewesen. Im Entzug blieb ihm dieser Zugang jedoch verwehrt.

Aus Hoffnungslosigkeit versuchte sich Stefan eines Nachts die Hoden abzubinden. Mit einer Kastration könne er nichts Verbotenes mehr tun, so seine Überlegung. «Die ganze Nacht stand ich höllische Schmerzen aus», erinnert er sich. Am Morgen rief er nach einem Arzt, damit man ihm die Hoden entferne. Doch diese waren noch intakt, Stefans Plan war gescheitert.

Im Knast die Liebe gefunden

Eine gesunde Sexualität als Teil der Resozialisierung Stefans Geschichte ist kein Einzelfall. Im Herbst 2017 wurden im Massnahmenzentrum Bitzi zwei Häftlinge beim Sex erwischt und je mit einer Busse von 100 Franken (86 Euro) belegt. Der Betrag mag gering klingen, in Anbetracht der monatlichen Zulage von wenigen hundert Franken ist er für einen Strafgefangenen allerdings nicht so einfach wegzustecken. Bei den Insassen handelt es sich um pädosexuelle Straftäter, die aufgrund von sexuellen Handlungen mit vorpubertierenden Kindern eine mehrjährige Haftstrafe absitzen.

Die Häftlinge wandten sich an Peter Zimmermann, Sprecher von Reform 91, einer Selbsthilfeorganisation für Strafgefangene und Ausgegrenzte. Dieser kann das geltende Verbot in der Anstalt nicht nachvollziehen, findet, es stehe gar im Widerspruch zum gesetzlich verankerten Auftrag, wonach ein Freiheitsentzug Strafgefangene auf ein straffreies Leben in der Gesellschaft vorbereiten soll. Im Schweizer Strafgesetzbuch ist an keiner Stelle ein Verbot von sexuellen Handlungen unter Insassen zu finden. Dieses wird meist in der Hausordnung von der Anstalt festgelegt.

Gemäss Zimmermann ist es sogar zu begrüssen, wenn zwei pädosexuelle Männer ihr sexuelles Begehren auf Erwachsene ausrichten und so ein gesundes Sexualverhalten entwickeln können. «Mit ihrer sexuellen Beziehung haben sich die beiden Insassen in der Legalität bewegt», sagt er im Gespräch mit MANNSCHAFT. «Wir von Reform 91 behaupten, dass diese Entwicklung vom therapeutischen Aspekt her ein Erfolg ist und die beiden Männer ein Stück näher an die Resozialisierung bringt. Stattdessen wird ihnen fehlerhaftes Verhalten attestiert und eine Busse angehängt.»

«Homosexualität wird in jedem Knast praktiziert.»

Sexverbot als Form «weisser Folter» Mit seinem Verbot von sexuellen Kontakten steht das Massnahmenzentrum Bitzi nicht alleine da. Sex unter Gefangenen ist in vielen Anstalten sowohl in Deutschland als auch in der Schweiz nicht erlaubt. Mit welcher Gründlichkeit dieses Verbot umgesetzt wird, ist natürlich eine andere Frage. «Einige Anstalten schauen bei homosexuellen Aktivitäten in die andere Richtung, andere nicht», sagt Zimmermann. «Homosexualität wird in jedem Knast praktiziert. Genauso, wie es in jeder Anstalt Drogen gibt. Wer das abstreitet, verschliesst sich vor der Realität.»

Die Unterbindung jeglicher Form von Sexualität sei nicht nur kontraproduktiv im Resozialisierungs­prozess, sondern auch ein Beispiel «weisser Folter», so Zimmermann. Unter dem Begriff sind Methoden zu verstehen, die im Gegensatz zu physischer Folter keine sichtbaren Verletzungen zufügen, den Menschen aber psychisch schwer belasten und schädigen können. Die Unterbindung von Sexualität kann sich nicht nur negativ auf Resozialisierungsmassnahmen auswirken, sondern auch einen massgebenden Einfluss auf das Klima in der Haft haben. Hätten Häftlinge etwa beim Besuch des Partners oder der Partnerin die Möglichkeit, Sex zu haben, dann gebe es im Gefängnis weniger Gewalt, behauptete 2017 der verurteilte Mörder Stuart Horner vor dem Staatsgericht in Manchester.

Schwule Liebe ist gar nicht so einfach zu erklären

 

Ein Sexverbot gibt es beispielsweise in der Justizvollzugsanstalt Freiburg nicht: Ein schwuler Häftling war dort sogar auf demselben Flur wie sein Verlobter untergebracht, gegenseitige Besuche auf der Zelle waren erlaubt. Der Fall wurde im Sommer 2015 bekannt, als russlanddeutsche Häftlinge in einen Hungerstreik traten, weil einer der beiden Männer als Koch eingesetzt war.

Verbot soll Ausbeutung verhindern Bei seiner Forderung, sexuelle Kontakte unter Häftlingen zu erlauben, erhält Peter Zimmermann Rückendeckung eines Experten. Andrea Baechtold, Berner Strafrechtsprofessor und ehemaliger Leiter des Straf- und Massnahmenvollzugs des Bundes, thematisierte bereits 2010 das Recht von Strafgefangenen auf Sex, wozu auch das Ausleben gleichgeschlechtlicher Partnerschaften im Strafvollzug gehöre. «Wenn der Alltag in den Anstalten so ausgestaltet werden soll, dass er dem Leben in Freiheit möglichst entspricht, dann verlangt dies geradezu, dass sexuelle Kontakte zwischen Strafgefangenen ermöglicht werden», schreibt er in der Schweizerischen Zeitschrift für Kriminologie SZK.

Zu eruieren, ob ein Sexualkontakt einvernehmlich oder eine Form von Ausbeutung war, ist im Nachhinein praktisch unmöglich.

Das Bitzi beharrt auf dem Verbot sexueller Handlungen zwischen Häftlingen. «Nicht wenige Insassen sind im sexuellen Bereich straffällig geworden, und wir wollen sexuelle Handlungen als Form von Unterwerfung oder als Rechtsgeschäft unterbinden», sagt Direktor Claudio Vannini auf Anfrage der MANNSCHAFT. Als Rechtsgeschäft kann beispielsweise die Ausführung einer sexuellen Dienstleistung im Austausch für eine Packung Zigaretten verstanden werden. «Eine solche Situation wäre ungünstig und für die persönliche Entwicklung eines Insassen nicht förderlich.»

Das Grundbedürfnis des Menschen nach Sexualität und Intimität rückt bei diesem Verbot in den Hintergrund, um den Schutz des Häftlings nicht zu gefährden. «Selbstverständlich sprechen wir von einer grossen Grauzone», so Vannini. «Zu eruieren, ob ein Sexualkontakt einvernehmlich oder eine Form von Ausbeutung war, ist im Nachhinein praktisch unmöglich.»

Vannini weist darauf hin, dass viele Insassen der Anstalt Wochenendurlaub haben – eine Gelegenheit, sowohl ein soziales Umfeld als auch eine Beziehung mit einem Partner oder einer Partnerin aufzubauen und zu pflegen. Das geht natürlich nicht, wenn sich die Insassen im geschlossenen Vollzug befinden, wie es zum Beispiel bei Stefan der Fall war. Die Möglichkeit, ihre Sexualität auszuleben, besteht dann kaum. Nebst Sexualkontakten ist im Bitzi auch der Besitz und Konsum harter Pornografie untersagt. Lediglich Magazine sind erlaubt, dürfen aber nicht offen herumliegen. «Insassen können weiche Pornomagazine wie Playboy oder Hustler besitzen, müssen sie aber im Schrank aufbewahren», sagt Vannini.

Zum Fall von Stefan kann Vannini keine Stellung nehmen. Er übernahm die Leitung der Anstalt im Herbst 2011, wenige Monate, nachdem Stefan für den Übergriff auf seinen Sohn verurteilt und aus dem vorzeitigen Strafvollzug zum Absitzen seiner Strafe in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies verlegt worden war.

«Die Umpolungstherapie war nichts als Gehirnwäsche»

Gemäss den Disziplinarrechts-Richtlinien der Ostschweizer Strafvollzugskommission können Häftlinge mit einem Entzug oder einer Beschränkung von Freizeitbeschäftigungen bestraft werden, insbesondere der Benützung von Ton- und Bildwiedergabegeräten sowie der Teilnahme an Veranstaltungen, Kursen oder gemeinschaftlichen Aktivitäten. Auch ein Entzug von Aussenkontakten, darunter eine Besuchs-, Ausgangs- oder Urlaubssperre, kann angeordnet werden.

Die Dauer des Entzugs hängt gemäss Patrick Dort, Leiter Soziale Integration im Massnahmenzentrum Bitzi, vom Disziplinarfehler und einer allfälligen Relevanz zur Straftat ab: «Das kann zum Beispiel ein Medienentzug von einem Tag bis zum Einzug des eigenen Laptops bis Haftende sein.» Er weist darauf hin, dass jeder Insasse das Recht habe, gegen die schriftlich ausgestellten Disziplinarmassnahmen innert vierzehn Tagen beim Sicherheits- und Justizdepartement St. Gallen Rekurs einzulegen. Somit soll gewährleistet sein, dass die Anstalten Disziplinarmassnahmen so weit wie möglich gerecht und verhältnismässig aussprechen.

Fachpersonal soll mit Thematik umgehen können Andreas Frei, forensischer Psychiater und Leiter der Fachstelle Forensik der Psychiatrie Baselland, bestätigt auf Anfrage von MANNSCHAFT, dass ein Verbot von Sexualkontakten innerhalb einer Anstalt vor allem zum Schutz der Schwächeren besteht. «Schon deshalb, weil es für heterosexuelle Insassen problematisch wird, die ja keine Beziehung in der Institution führen können», sagt er.

Diese Folgen bespricht auch Strafrechts­professor Andrea Baechtold in der SZK, nimmt dabei aber die Anstaltsleitung in die Pflicht. Dem Kernbereich ihrer Fachkompetenz sei der Umgang mit Reaktionen von Mitgefangenen auf Verhaltensweisen «andersartiger» Gefangener – etwa solchen aus anderen Kulturen – zuzurechnen.

Schwierig werde es, wenn eine Bewilligung sexueller Kontakte zwischen Strafgefangenen weitergehende Forderungen nach sich ziehe. «Wie wäre etwa auf ein Gesuch nach gemeinschaftlicher Unterbringung in einer Zweierzelle zu reagieren?», schreibt Baechtold. Auch wenn derartige Folgeprobleme keineswegs kleingeredet werden dürften, sei offensichtlich, dass sie im Sinne der Rechtslage durchaus lösbar seien. «Zu fordern ist jedenfalls, dass die Persönlichkeitsrechte der Gefangenen auch in diesem Bereich ernst genommen und geschützt werden.»

Die Frage nach Kondomen als Dilemma Ob verboten oder nicht, Vollzugsanstalten sind sich bewusst, dass Sexualkontakte zwischen Häftlingen geschehen. «In den Gefängnissen sind Kondome verfügbar, auch in der U-Haft, für den Fall, dass es doch dazu kommt», sagt der Psychiater Andreas Frei. Die Präservative müssen aber vom Zentrumsarzt eingefordert werden.

Ich spreche keineswegs von der Illusion, dass Sex im Knast etwas Schönes ist.

So auch im Bitzi: «Die Insassen sind über diese Möglichkeit informiert», sagt Claudio Vannini. «Der Zentrumsarzt informiert uns nicht, wenn er Kondome ausgehändigt hat.»

UNO warnt: Kondome werden knapp

Auch in Bayern müssen Strafgefangene Kondome beim Arzt einfordern – ein Hindernis, das Strafgefangene nicht unbedingt gerne auf sich nehmen. «Häftlinge müssen sich indirekt als schwul outen», gibt Martin Jautz von der Münchner Aids-Hilfe gegenüber der MANNSCHAFT zu bedenken. Es sei daher nicht erstaunlich, dass zwischen 2005 und 2007 nur 43 Präservative an die bayernweit 13 000 Gefängnisinsassen ausgegeben wurden. Die Zahlen wurden damals auf Initiative der Münchner Aids-Hilfe erhoben, eine regelmässige Statistik wird vom Bayerischen Justizministerium nicht geführt.

Jautz fordert, dass Häftlinge besser über Schutzmöglichkeiten informiert werden, etwa in Form von Plakaten über Safer Sex oder die korrekte Handhabung von Kondomen. «Ich spreche keineswegs von der Illusion, dass Sex im Knast etwas Schönes ist. Fraglich ist auch, ob Kondome wirklich benutzt werden, zum Beispiel wenn beim Sexualkontakt Macht oder Gewalt im Spiel ist. Mir fehlt einfach ein Zeichen seitens der Anstalten, dass sie verfügbar sind.»

Jautz zufolge befürchten Anstalten, dass Präservative falsch benutzt werden oder die Häftlinge mit ihnen Unfug treiben. Zudem wolle man verhindern, dass in der Öffentlichkeit die Meinung entstehe, man könne im Gefängnis auf «Staatskosten vögeln» oder damit Drogen schmuggeln. «Das Sicherheitsrisiko ist nicht so gross wie bei Besuch, der Drogen von aussen in den Knast schmuggelt», so Jautz.

Anders sieht es im Bundesland Nordrhein-Westfalen aus. Seit 1998 wird die Ausgabe von Präservativen durch einen Kondomerlass geregelt. Kondome und wasserlösliche Gleitmittel stehen allen Strafgefangenen zu Lasten des Justizhaushalts frei zur Verfügung. Ab 1999 durften ehrenamtliche Mitarbeiter des Mann-O-Meters Berlin die Justivollzugsanstalt Tegel mit Kondomen, Gleitmittel und kostenlosen schwulen Monatszeitschriften versorgen.

Stefan kann über das System der Kondom­abgabe via das Personal nur den Kopf schütteln. Im Rahmen seiner Verschiebung in die Justizvollzugsanstalt Pöschwies wurde er für eine Nacht im Polizeigefängnis Zürich untergebracht. Der Zufall wollte es, dass er mit einem anderen schwulen Mann eine Zweierzelle teilte. Der Mann war gerade erst verhaftet worden und fühlte sich einsam. «Er lag im Kajütenbett unter mir und fragte mich, ob ich nicht zu ihm ins Bett steigen wolle», erinnert sich Stefan. «Nach meiner Erfahrung im Bitzi war ich zuerst noch unsicher, kletterte dann aber doch zu ihm hinunter.»

sex gefängnis
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Als die Frage nach dem Kondom aktuell wurde, steckten die beiden Männer in einer Zwickmühle. «Wie reagiert wohl das Personal, wenn wir mitten in der Nacht die Klingel betätigen und nach einem Kondom fragen?», sagt Stefan. «Wir trauten uns nicht. Aus Angst, dass man jemanden von uns in eine andere Zelle verlegen würde.»

Sex als Therapie? Ein selbstverständlicher und gesunder Umgang mit Sex und Sexualität ist besonders für Sexualstraftäter ein massgebender Bestandteil eines erfolgreichen Resozialisierungsprozesses und eines Lebens ohne Straftaten. Stefan argumentiert, dass die Unterdrückung seiner Homosexualität in seinem Fall überhaupt erst zu einem gestörten Sexualverhalten geführt habe.

Dr. med. Andreas Frei kann Stefans Begründung ein Stück weit nachvollziehen. Ein direkter Bezug zwischen unterdrückter Sexualität und pädosexuellem Verhalten lasse sich aber nicht herstellen. Da seien weitaus mehr Faktoren im Spiel. «Allerdings ist es so, dass jegliche Form nicht ausgelebter oder tabuisierter Sexualität zu deviantem oder gesellschaftlich nicht tolerierbarem Sexualverhalten führen kann», sagt der Psychiater.

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Frei steht der Forderung, Sexualstraftätern im Freiheitsentzug die Möglichkeit zu geben, ein gesundes Sexualleben zu entwickeln und zu leben, offen gegenüber. «Ich kann mir gut vorstellen, dass die Gefängnisleitung bei einem offenen Gesuch mit sich reden lassen würde», sagt er. Er selbst habe bereits einen Sexualstraftäter betreut, der im Freigang ein Bordell besuchen durfte. «Daher glaube ich nicht, dass es ein Problem wäre, wenn ein Insasse im Freigang eine Liebesbeziehung pflegen würde, egal ob homo- oder heterosexuell.»

Claudio Vannini will sich zu dieser Forderung nicht konkret äussern. Sie sei ein Argument vieler Häftlinge, die aufgrund von pädosexuellem Verhalten verurteilt wurden. Vannini weist darauf hin, dass sich die Wissenschaft in diesem Punkt nicht ganz einig sei. «Kann man pädosexuell veranlagte Menschen dazu bringen, eine Beziehung zu gleichaltrigen Erwachsenen zu pflegen? Einige sagen ja, das ist möglich. Andere finden: Nein, das Objekt der Begierde lässt sich bei Pädosexuellen nicht ändern», sagt er.

Revolution Beziehungszimmer Obwohl sich die Wissenschaft über verschiedene Therapieformen streitet und eine grosse Mehrheit der Anstalten gegenüber Fragen der Sexualität konservativ eingestellt ist, so hielt in den letzten Jahrzehnten doch eine relativ moderne Ausstattung in den deutschen und Schweizer Anstalten Einzug: das Beziehungszimmer, in Deutschland oft auch Langzeitbesuchsraum oder Familienraum genannt. In dieser Räumlichkeit ist es Häftlingen nach bewilligtem Antrag gestattet, ungestört Besuch von Familienangehörigen zu empfangen. Dass es dabei mit der Partnerin oder dem Partner oft auch zu intimen Kontakten und auch Geschlechtsverkehr kommt, ist bekannt und erlaubt. In den Medien haben die Räume schnell die Bezeichnungen «Liebeszelle» oder «Kuschelzimmer» erhalten.

Das Beziehungszimmer ist insofern eine Revolution, als es das Bedürfnis nach intimen Kontakten als Grundrecht eines Häftlings anerkennt. In der Schweiz verfügen etwa die Anstalten Pöschwies und Bostadel über solche Beziehungszimmer, in Deutschland sind unter anderen die Anstalten Remscheid und Bielefeld-Brackwede mit einem Langzeitbesuchsraum ausgestattet. Die Berner Justivollzugsanstalt Thorberg prüft die Schaffung eines solchen Raums, nachdem er von 50 Insassen im Herbst 2017 im Rahmen eines Streiks gefordert wurde.

Auch das Massnahmenzentrum Bitzi will innerhalb der nächsten anderthalb Jahre ein «Begegnungszimmer» einrichten, in dem sich ein Insasse mit der Familie oder der Partnerin oder dem Partner zurückziehen kann. «Dazu müssen wir zuerst aber noch einen Neubau realisieren», sagt Direktor Claudio Vannini zur MANNSCHAFT. Auch wenn dieses Zimmer nicht für den Vollzug von Geschlechtsverkehr bestimmt sei, geht er davon aus, dass es in gewissen Konstellationen durchaus dazu kommen werde. «Die Grundkonditionen für die Benutzung eines solchen Zimmers haben wir noch nicht festgelegt. Ich kann allerdings schon jetzt mit Sicherheit sagen, dass sich Insassen keine Prostituierte in dieses Zimmer bestellen können.»

Eine kleine Angst bleibt Seit seiner Entlassung wohnt Stefan in Zürich und geht verschiedenen Temporärjobs nach, darunter als Hauswart, Werkstattmitarbeiter oder als Aushilfe in der Logistik. «Ich will wieder voll ins Leben zurück, diesmal richtig», sagt er.

Ob die Resozialisierung bei ihm gelungen ist? Nach kurzem Überlegen bejaht Stefan diese Frage: «Im Wesentlichen auch, weil ich es gewollt habe». Die Unterstützung seitens der Anstalten sei da gewesen, auch wenn er sich von der Therapie mehr erhofft hatte. Seine Resozialisierung sei vor allem aus eigenem Antrieb gelungen. Stefan studierte Geschichten von Missbrauchs­opfern und tauschte sich mit ihnen aus. «Ich habe immer einen Weg gesucht, wie ich von den Umständen meiner Tat wegkomme.»

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Was seine Sexualität angeht, so bezeichnet er die acht Jahre Haft als Entzug. Es sei nicht einfach, jetzt als offen schwuler Mann zu leben, nachdem sexuelle Kontakte zu anderen Männern während so langer Zeit als Tabu galten. «Ich klappere aber fleissig die Gaybars in Zürich ab und chatte auch auf PlanetRomeo», sagt er mit einem müden Lächeln. «Ich fühle mich immer noch etwas unsicher dabei. Es bleibt eine kleine Angst vor Sexualität.»

Stefan überrascht es nicht, dass das Thema Sexualität kein leichtes ist für die Anstalten. «Die Öffentlichkeit hat eine klare Meinung gegenüber Straftätern. Die sollen in den Gefängnissen für ihre Taten leiden und nicht noch Sex haben dürfen», sagt er. «Die Anstalten sind einem enormen Druck von aussen ausgesetzt, da können sie auch nichts dafür.»

In seiner Haft hat Stefan aufmerksam das Bestreben von Schweizer LGBTIQ-­Gruppen verfolgt, den Diskriminierungsschutz auf sexuelle Minderheiten auszuweiten. Im Februar 2020 stimmte die Schweizer Stimmbevölkerung der Erweiterung der Anti-Rassismusstrafnorm zu (MANNSCHAFT berichtete). Stefan hofft, dass Insassen mit dem Diskriminierungsschutz vielleicht eine Chance haben, gegen ein Verbot von sexuellen Kontakten vorzugehen.

Ich habe in meinem Leben grosse Scheisse gebaut, daran kann ich nichts ändern

«Ich habe in meinem Leben grosse Scheisse gebaut, daran kann ich nichts ändern», sagt er. «Indem ich aber meine Geschichte öffentlich mache und auf die Situation im Gefängnis hinweise, kann ich vielleicht dazu beitragen, dass sich die Situation für alle Häftlinge verbessert.»

Übrigens: Das Zuchthaus Reading, wo einst Oscar Wilde einsass, sollte eigentlich in ein LGBTIQ-Kulturzentrum verwandelt werden. Doch stattdessen werden auf dem Grundstück Wohnungen gebaut (MANNSCHAFT berichtete).

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