Schweiz, Niederlande oder Kroatien? Das denkt unser ESC-Experte
Martin Wyss nimmt 12 Songs genauer unter die Lupe und macht eine Siegesprognose
Du willst beim ESC mitreden? Unser Experte Martin Wyss stellt dir 12 Kandidat*innen vor und verrät seine persönliche Prognose für den Sieg.
Mit Loreen und Käärijä lag ich letztes Jahr richtig, nun stehe ich unter Zugzwang. «The pressure is on», denn 2024 ist ein ausserordentliches ESC-Jahr! Im Vergleich zu den Vorjahren haben viele Länder sehr starke Songs am Start, das macht meine Prognose natürlich nicht einfacher. Woran das liegt, kann ich nicht genau sagen, erklärt jedoch, weshalb Loreen 2023 ein leichtes Spiel hatte. Dieses Jahr ist die Konkurrenz gross und es gibt kaum Songs, die ich schlecht oder langweilig finde. Daher fällt meine Kritik dieses Jahr auch sehr glimpflich aus. Wir dürfen uns also auf einen spannenden Wettbewerb mit talentierten Kandidat*innen freuen. Wie jedes Jahr gilt: Für verlorene Wetten übernehme ich keine Verantwortung!
Was du über die neuen Regeln wissen musst Deutschland, Frankreich, Spanien, Italien und Grossbritannien sind die grössten Geldgeber des ESC und haben einen garantierten Platz im Finale. Während die anderen Länder bereits im Halbfinale auftraten, hatten die sogenannten Big Five erst im Finale ihre erste live Performance vor TV-Publikum. Das war nicht unbedingt immer ihr Vorteil – oft landeten sie letzlich weit hinten. Gemäss den neuen Regeln werden die Big Five auch in den beiden Halbfinalen in voller Länge live auftreten (MANNSCHAFT berichtete). Und das inmitten der anderen Länder, der Einzug ins Finale bleibt gesichert. Bisher liefen von ihnen kurze Videoclips am Rande der Show.
Es gibt auch andere Änderungen. Am Abend des Finales werden die Telefonabstimmung und das Onlinevoting dieses Jahr direkt mit Beginn des ersten Auftritts freigeschaltet, sodass man die Stimme direkt unter dem Eindruck des Live-Erlebnisses abgeben kann, statt wie bisher nach Durchspielen von Zusammenschnitten in der zweiten Showhälfte. Noch eine Neuerung: Wer aus einem Land kommt, das nicht am ESC teilnimmt, darf vor den drei Shows fast 24 Stunden lang vor Beginn abstimmen.
#1 Wer gewinnen wird: Nemo «The Code» (Schweiz) «The Code» ist zweifellos der beste Song des diesjährigen Eurovision Song Contests. Das Bieler Talent hat den Nerv der Zeit getroffen und liefert mit einem wilden Genre-Mix aus Rap, Pop und Oper einen Ohrwurm par exellence ab. Live kann Nemo ebenfalls überzeugen, wie die Auftritte bei den Pre-Partys beweisen. Nach Veröffentlichung der ersten Probenaufnahmen musste Nemo allerdings den Spitzenplatz bei den Wettbüros abgeben. Bleibt abzuwarten, wie die Performance beim Publikum ankommen wird.
Die sonst eher konservative Schweiz hat sich in den letzten Jahren viel Mühe gegeben mit der Auswahl ihrer Künstler*innen – vom hüfteschwingenden Luca Hänni und dem avantgardistischen Gjon’s Tears bis hin zum gefühlvollen Remo Forrer. Nemo wäre der erste nicht-binäre Act, der den Eurovision Song Contest gewinnt. Für die Schweiz wäre es der erste Sieg nach Céline Dion mit «Ne Partez pas sans moi» vor 36 Jahren.
#2 Wer beim Publikum punktet: Baby Lasagna «Rim Tim Tagi Dim» (Kroatien) Es gibt sie jedes Jahr und sie gehören schon fast zum Eurovision dazu: Die Länder, die sich von vergangenen Favoriten inspirieren lassen. War Deutschland mit Lord of the Lost die Antwort auf Italiens Måneskin, so ist Baby Lasagna der kleine Bruder von Käärijä, der für Finnland letztes Jahr auf Platz 2 landete.
Der kroatische Sänger ist der Favorit bei den Wettbüros und erzählt in «Rim Tim Tagi Dim» die Geschichte junger Kroat*innen, die auf der Suche nach einem besseren Leben ihr Land verlassen. Live könnte Baby Lasagna noch etwas aus sich herausholen, zuweilen grenzt sein Gesang an Geschrei. Ich tippe darauf, dass er beim Publikum am meisten Stimmen holen wird, nicht aber bei der Jury. Es wird spannend!
#3 Wer ebenfalls ganz oben mitmischt: Joost Klein «Europapa» (Niederlande) Die Neunziger haben angerufen, sie wollen ihren Hit zurück. Joost Klein tischt mit «Europapa» den ultimativen Gassenhauer auf, wie ihn Scooter und Co. nicht besser hinlegen könnten. Fun Fact: Der Song hat mit der Songzeile «Ich bin in Deutschland, aber ich bin so allein» mehr deutsche Wörter als die Songs von Deutschland der letzten Jahre. Die Niederlande hat mehrmals bewiesen, dass sie eine gute Gastgeberin ist und einen Sieg würde ich ihr gönnen. Doch angesichts der vielen starken Songs dieses Jahr dürfte es für Joost höchstens in die Top 5 reichen.
#4 Bei wem du mitsingen wirst : Kaleen «We Will Rave» (Österreich) «We ram-di-dam-dam-dam we will rave!» Ebenfalls auf den Neunzigerjahre-Zug aufgesprungen ist Kaleen mit «We Will Rave» und einem Hook, bei dem man einfach mitsingen muss. Die ausgebildete Sängerin und Tänzerin (MANNSCHAFT berichtete) schafft es damit zweifellos ins Finale, in die Top 10 wird es jedoch nicht reichen. Der Song ist ein Ohrwurm, allerdings fehlt ihm der dafür nötige ESC-Funke.
#5 Wer der Underdog ist: Marina Satti «Zari» (Griechenland) Dieser Song ist nicht zu unterschätzen. Wenn Marina Satti auf der Bühne alles richtig macht, kann sie es weit nach vorne schaffen. «Zari» ist ein eher ungewöhnlicher Beitrag für Griechenland und eine willkommene Abwechslung zu den dramatischen Balladen der letzten Jahre.
#6 Wer es nicht ins Finale schafft: Tali «Fighter» (Luxemburg) Welcome back! Zum ersten Mal nach 31 Jahren ist Luxemburg beim ESC wieder mit dabei (MANNSCHAFT berichtete). Das Grossherzogtum hat den Contest seit seinem Start 1956 insgesamt fünf Mal gewonnen. 1993 ist das Land aus dem Wettbewerb ausgestiegen und führte dafür finanzielle Gründe an.
Für Luxemburg an den Start geht Tali mit dem englisch-französischen Song «Fighter». Die 23-Jährige wird sprichwörtlich kämpfen müssen, um es ins Finale am Samstag zu schaffen. Der Song ist nicht schlecht und auch stimmtlich kann Tali gut mithalten. Allerdings ist die Konkurrenz dieses Jahr derart stark, dass Luxemburg leider im Mittelmass untergehen wird. Ich hoffe natürlich, dass es nicht bei einem einmaligen Comeback bleibt und Luxemburg auch nächstes Jahr wieder mit dabei sein wird!
#7 Wer enttäuscht: Olly Alexander «Dizzy» (Grossbritannien) Von einem Star mit dem Kaliber eines Olly Alexander habe ich mehr erwartet. Die Pre-Party-Auftritte waren enttäuschend, sowohl aus darbieterischer als auch aus stimmlicher Hinsicht. Der Popstar stand meistens nur auf der Bühne rum, in London und Madrid traf er die Töne nicht. Eigentlich schade, denn der Song wäre eingängig und genau das, was beim ESC gut ankommt. Wie der Probenausschnitt von letzter Woche zeigt, erwarten uns bei Olly Alexanders Performance halbnackte Tänzer und viel Homoerotik. Ob er damit das Ruder noch herumreissen kann?
#8 Wer nicht enttäuscht: Angelina Mango «La Noia» (Italien) Ein genialer Beitrag. «La Noia» ist tanzbar, gut produziert und sticht aus der Masse heraus. Mit kombiniert knapp 2 Millionen Follower (!) auf Instagram und Tiktok dürfte Angelina Mango im Finale viel Rückenwind von den sozialen Medien erhalten. Überhaupt ist Italien eine grosse Bereicherung für Eurovision. Nachdem das Land nach einer 13-jährigen Absenz 2011 wieder zum Contest zurückgekehrt war, gelang ihm mit Ausnahme von 2014 und 2016 jedes Jahr den Einzug in die Top 10. Meine Prognose für 2024: Top 5.
#9 Wer die Pinkelpause einläutet: Saba «Sand» (Dänemark) «Sand» heisst der Song der dänischen Kandidatin Saba und ebendiesen muss ihr jemand aus dem Getriebe blasen. Der Song hat Potenzial, doch der Performance fehlen die nötige Theatralik und Dramaturgie. Jetzt ist die Gelegenheit, um dein Glas bei der Bar aufzufüllen oder um eine Pinkelpause einzulegen.
#10: Wer beim falschen Contest ist: Isaak «Always On The Run» (Deutschland) Für Deutschland wird es leider auch dieses Jahr nichts. Dabei verfügt Isaak, der im Februar den Vorentscheid gewann, über eine beachtliche Stimmgewalt. Der Lewis-Capaldi- und Rag-n-Bone-Man-Verschnitt steckt sein Herz und seine Seele in seinen Song rein, doch ein Showgirl ist er definitiv nicht. Der ESC ist der falsche Wettbewerb für diese Künstler-Song-Kombination und ich fürchte, dass Deutschland auch 2024 im unteren Drittel landen wird.
Es wird Zeit, dass Stefan Raab den Vorentscheid wieder in die Hand nimmt. Seit Lena warten wir auf einen tollen Song – das Höchste der Gefühle hatten wir mit Michael Schulte 2018, der es auf Platz 4 geschafft hatte. Wäre Deutschland als Teil der Big Five nicht automatisch fürs Finale qualifiziert, wäre für Isaak schon im Halbfinale Endstation gewesen.
#11 Wer von sich reden macht: Bambie Thug «Doomsday Blue» (Irland) Wenn Dornröschens Maleficient an den ESC fahren würde, es wäre Bambie Thug aus Irland. «Doomsday Blue»ist zugleich Pop und Metal, skurril und süss, alternativ und abgefahren. Eine perfekte Mischung für den ESC und ein garantierter Finalist, wenn nicht Top 10.
Bambie Thug ist neben Nemo ein weiterer nicht-binärer Act (MANNSCHAFT berichtete) und sorgte nach dem Sieg beim irischen Vorentscheid für reichlich Schlagzeilen. Hermann Kelly, Präsident der rechtsnationalistischen Irish Freedom Party, sprach auf X (ehemals Twitter) von «Satanismus und nicht-binärem Quatsch». Im Februar foderten 2000 Menschen mit einer Petition die Disqualifikation von Bambie Thug vom Vorentscheid, die Performance würde die irische Kultur ins Lächerliche ziehen. In einer Stellungnahme schrieb Bambie Thug in einer Medienmitteilung: «Verschwendet euer Leben nicht mit Hass … und ärgert euch nicht, dass ihr die Kunst des Spielens, des Spasses und der Kreativität vergessen habt und ich nicht.»
#12 Wer verstanden hat, wie der ESC funktioniert: Nutsa Buzaladze «Firefighter» (Georgien) Die ersten Probenausschnitte beweisen: Georgiens Performance dieses Jahr wird heiss! Mit viel Pyrotechnik und gutaussehenden Männern an ihrer Seite wird Nutsa Buzaladze die Halle zum Kochen bringen – und davon ablenken, dass sie bei den ganzen Showeinlagen nicht alle Töne trifft. Georgien hat verstanden, was beim ESC gut ankommt: Die Top 15 würde ich Nutsa von Herzen gönnen. Wollen wir mal hoffen, dass in Malmö die Feuerwehr bereitsteht, denn nach dieser Performance muss die Bühne definitiv gelöscht werden!
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