«Wir leisten im Krieg unseren Beitrag und verstecken uns nicht»
Queers im Ukraine-Krieg – eine Reportage von Anastasia Biefang (Teil 1)
Auf der Suche nach Einhörnern: Warum Queers in der Ukraine sich freiwillig zum Militär melden und kämpfen.
Am 24. Februar jährte sich die russische Invasion der Ukraine erstmalig (MANNSCHAFT berichtete). Seit einem Jahr toben erbitterte Kämpfe im Osten des Landes. Seit 2014 befindet sich die Ukraine im Krieg gegen Russland. Ich selbst bin queer, Soldatin und LGBTIQ+ Aktivistin. Ich wollte erfahren, wieso queere Ukrainer sich entschliessen, für ihr Land zu kämpfen, dass ihnen noch lange nicht gleiche Rechte gibt. Ich spreche mit ihnen über ihre Ängste, Hoffnungen und das eigene Queer-sein.
Wir sind 16 Stockwerke aufgestiegen, durch ein enges Fenster mit den Beinen zuerst hindurch und stehen jetzt auf dem Dach eines Hochhauses im Nordwesten von Kiew. Der kalte Wind weht uns um die Nase, der Himmel ist klar. Wir gehen ein paar Schritte weiter an den Rand des Daches und mein Blick verirrt sich in der Unübersichtlichkeit der Hauptstadt. Ich bin orientierungslos. Nastya, 33, erklärt mir mit ruhiger Stimme in welcher Richtung der Maidan liegt, wo der Hauptbahnhof ist und der Fluss Dnipro entlang fliesst. Sie zeigt stolz auf den Fernsehturm von Kiew, der trotz unzähliger russischer Raketenangriffe auf die Hauptstadt unbeschadet geblieben ist. Sie kennt sich hier aus. Sie wurde in Kiew geboren, in diesem Hochhaus ist sie aufgewachsen.
Ich habe versucht, heterosexuell zu sein. Das hat aber nicht funktioniert.
Nastya ist lesbisch und beschreibt sich selbst als bi-gender. Sie lebt mit ihrer Freundin zusammen. Sie verstecken ihre Beziehung nicht. Hand in Hand spazieren sie durch Kiew. Dass sie anders ist, wusste Nastya schon mit drei Jahren. In ihrer Jugend wurde sie oft als Junge gelesen, spielte mit Waffen und mit den anderen Jungs. Sie fühlte immer den Jungen in sich, als der sie hätte geboren werden sollen. Ihre Mutter, mit der sie allein aufwuchs, sei nicht glücklich darüber gewesen, aber liess sie sein. «Don’t ask, don’t tell» beschreibt sehr treffend den Umgang damit zwischen ihr und der Mutter. «Sie weiss von meinem Coming-out, aber wir reden nicht darüber.» Je älter sie wurde, desto schwieriger wurde es für sie. Sie wurde immer weniger von den Lehrer*innen und ihren Mitschüler*innen akzeptiert. Sie hätte nicht viele Probleme erlebt, aber es gab sie natürlich erzählt sie.
In einem Schuljahr sollte sie einen Aufsatz über den Sommer schreiben. Nastya schrieb über ihre Erlebnisse als Junge. Fussball spielen zum Beispiel. Das sorgte für Aufsehen. Später wuchsen dann bei ihr die Brüste. Die Pubertät brachte das nach aussen, was sie nie sein wollte. Sie wurde von Mitschüler*innen gemobbt, wie andere auch, die als schwach oder ‚andersartig‘ wahrgenommen wurden. Dann hat sie den Entschluss gefasst für sich einzustehen, für sich zu kämpfen und sich auch körperlich zu wehren. Mit Erfolg. Dennoch verspürte sie weiter den Druck, sich an die gesellschaftlichen Erwartungen anzupassen. «Ich habe sogar versucht heterosexuell zu sein. Das hat aber nicht funktioniert», sagt sie grinsend. Nach aussen wird Nastya als weiblich gelesen. Im Innern ist sie ein Mann. So ist das halt. Es ist ihr egal. Sie wisse, wer sie ist. Und darauf käme es schliesslich nur an.
Nastya ist Soldatin in der ukrainischen Armee. Sie fliegt Aufklärungs- und Kamikazedrohnen. Damit sie das tun kann, haben ihr Freunde aus Lviv eine Drohne gespendet, mit der sie feindliche Stellungen aufklärt. An manchen Tagen bringt sie auch tödliche Last. Ende des Jahres 2014 hat sie sich freiwillig gemeldet, absolvierte eine zivile Drohnenflugschule. Seitdem kämpft sie als Drohnenpilotin im Krieg gegen Russland für eine freie Ukraine. Bakhmut könnte für Nastya der nächste Einsatzort werden. Sie weiss es noch nicht. Sie wechselt gerade in eine neue Einheit. Beantragt hatte sie diesen Schritt schon vor mehreren Monaten, aber solche Dinge dauern im Krieg einfach länger. Sich freiwillig zum Militär zu melden war für Nastya keine Frage. »Ich hatte keine Wahl. Mörder sind in meiner Heimat. Was würdest Du machen? Du kannst nur kämpfen oder wegrennen. Meine Fähigkeiten haben mich nicht rennen lassen. Meine Fähigkeiten werden gebraucht. Ich werde hier gebraucht.»
Vor dem Krieg mit Russland habe sie aber nie daran gedacht Soldatin werden. Sie hatte Kenntnisse in Geografie und Kartographie und hat sich bei der Armee beworben. Dort wurde sie zunächst abgelehnt. Es bräuchte keine Frauen an der Front. Also ging sie zu den Freiwilligen-Bataillonen, engagierte sich dort und wurde letztlich als Drohnenpilotin eingesetzt. Später auch an der Front. Als Frau musste sie sich dort ständig beweisen. Ihre Kenntnisse in Kartographie kamen ihr entgegen. Sie überzeugte mit ihren Fähigkeiten. Ende des Jahres 2015 hörte sie auf. Die Intensität des Krieges hatte nachgelassen. Mit der russischen Invasion im Februar 2022 änderte sich das alles wieder. Nastya meldete sich erneut zur Armee. Diesmal wurde sie direkt angenommen.
«Natürlich habe ich Angst. Aber Tod ist nicht so beängstigend. Angst hast Du vor Schmerz. Der Tod ist schmerzlos.“ Sie sagt es mit eindringlicher Überzeugung, mit derselben wie sie bereits in ihrer Jugend für sich eingestanden ist. Jetzt steht sie für alle Ukrainer ein, mit ihrem Leben. Und dass Krieg tödlich sein kann, hat sie selbst letztes Jahr im Oktober erfahren. Sie war mit anderen Soldat*innen im Donbass in einem Auto unterwegs bei schlechtem Wetter, und es regnete russische Artillerie auf sie herunter. Der Fahrer war noch etwas unerfahren, kam mit dem Auto von der Strasse ab und geriet in ein Feld. Sie fuhren auf eine Mine, die direkt umsetzte. Alle haben überlebt, aber Nastya wurde im Gesicht und am rechten Bein verletzt. Die Narben in ihrem Gesicht sind heute noch zu sehen.
Nastya hat mich eingeladen mit ihr zu kommen nach Kharkiv. Dort muss sie Ausrüstung abholen. Gemeinsam brechen wir mit ihrem roten Honda Jazz auf. Irgendwie haben wir unser ganzes Gepäck reingequetscht, vorsichtig, so dass die Starlink Anlage, die notwendig für die Kommunikation an der Front ist, nicht beschädigt wird. Maro, ihr Kollege und ein Freund, kommt ebenfalls mit. Er ist Ingenieur, repariert und baut Drohnen und Drohnenteile für die ukrainische Armee. Wir lassen Kiew hinter uns. Es ist bereits dunkel und ausserhalb der Stadt leuchten keine Strassenlampen. Der Verkehr nimmt ab, je weiter wir uns von Kiew entfernen. Die Autobahnschilder sind ausgeschwärzt, Ortsnamen sind nicht mehr zu lesen. «Damit die Russen nicht wissen, wo sie sind oder wie sie irgendwo hinkommen. Die haben nur alte Karten», erklärt Nastya. Wir passieren mehrere Checkpoints, werden aber nicht kontrolliert. Nastya kennt die Passwörter, Fragen werden keine gestellt. Während der Fahrt hören wir Rock und Heavy Metal und sehr viel ukrainische Musik. Nastya und Maro singen mit. Die Stimmung ist gut. In Kharkiv übernachten wir bei einer Non-Profit-Organisation. Oleg, ein Bekannter von Nastya, überlässt uns die Räume für die nächsten Tage dort. In der Ecke steht eine Gitarre. Die Ausrüstung kommt nicht so schnell wie erwartet und auch die Papierlage erfordert weiter Geduld von Nastya.
Ihr Queer-sein im Militär zu verstecken, war und ist für Nastya keine Option. Sichtbar, laut und offen sind die Merkmale ihres Aktivismus. «Homophobie im Militär ist weit verbreitet, es trifft aber eher die schwulen Jungs. Und das empfand ich als unfair. Ich war mir sicher, dass ich direkt mit und zu den homophoben Männern sprechen kann.“ sagt sie. Nastya ist Mitgründerin der ukrainischen LGBT+ Organisation im Militär. Im Jahr 2018 nahm sie bereits zusammen mit anderen Angehörigen der Organisation an der Kiew Pride teil. Im Folgejahr outete sie sich öffentlich als lesbisch. Während ihrer Zeit im Militär hat sie keine Diskriminierung erfahren. Sie selbst fühlt sich akzeptiert. »Ich habe aber Fähigkeiten, die wertvoll sind“, ergänzt sie nach einer kurzen Pause. «Und lesbische Frauen sind ja auch eine anregende Vorstellung für Männer, auch für homophobe Männer.»
Die Offenheit nehme aber mehr und mehr in der Gesellschaft und im Militär zu. Sie glaubt fest daran, dass der sichtbare Einsatz von queeren Menschen, gerade während des Krieges, weiter Gleichberechtigung für alle queeren Menschen in der Ukraine ermöglicht. «Wir leisten unseren Beitrag und verstecken uns nicht.»
Die Arbeit in der Organisation und sichtbar, zu sein ist in diesen Zeiten schwer. Sie weiss nicht genau welche Themen bearbeitet oder welche Aktivitäten geplant werden. Von dieser Arbeit ist sie zu weit entfernt. Die Enttäuschung darüber entnehme ich ihrer Stimme deutlich. Der Krieg hat einfach Priorität. Eine offizielle Verbindung zum ukrainischen Verteidigungsministerium gibt es nicht. Sie kennt auch keine offiziellen Gespräche, die mit dem Ministerium zu LGBTIQ-Themen geführt wurden. Nur wenige Politiker*innen hätten Zeit, Interesse oder Mut dieses Thema anzugehen. Dabei sind es gerade die queeren Soldat*innen und ihre Partner*innen, die nicht durch den Staat abgesichert sind bei Tod oder Verwundung und die nicht die gleichen Rechte geniessen wie heterosexuelle Paare. Die Ehe für alle gibt es nicht in der Ukraine. Hierfür bedürfe es einer Verfassungsänderung. Eine Petition zu Lebenspartnerschaften auch für queere Menschen liegt der Regierung vor. Damit hätten die Partner von queeren Soldaten dieselben Rechte wie Verheiratete. Ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu mehr Gleichberechtigung. Man werde sich damit befassen, heisst es. Nur wann, dass weiss Nastya nicht. Immerhin gab es in den letzten Jahren Fortschritte bei der Akzeptanz von queeren Menschen in der Ukraine. Das belegen Studien und Umfragen.
Die Sichtbarkeit von queeren Soldaten in der Öffentlichkeit und ihr Dienst im Krieg werden wahrgenommen. Und viele Ukrainer wollen eben nicht so sein wie die Menschen in Russland. Homophobie und staatliche Diskriminierung von queeren Menschen sind russische Werte. Mit diesen Werten möchte kein Ukrainer etwas gemeinsam haben. «Wichtig ist, dass mehr queere Soldaten sichtbar sind und das Land unsere Geschichten hört und unseren Beitrag sieht.»
Ich sehe Nastya die Anstrengungen der letzten Jahre an und spüre sie in diesen Tagen deutlich. Sie kämpft zugleich an mehreren Fronten. Ihre Kraft ist nicht unendlich und sie muss damit haushalten. Es ist immer noch Krieg und der hat Priorität. Sie würde gerne einfach in Jaffa oder Tel Aviv sitzen und Gitarre spielen. Rockmusik. Wie im Jahr 2019 – im Pride Monat – in Berlin auf der Museumsinsel. Menschen spazierten mit Regenbogenflaggen an ihr vorbei. Einige blieben stehen und hörten ihr zu. Sie lächelt und sagt: «Ich habe ihnen zugerufen. Ich bin auch queer.“ Die Sehnsucht nach dieser Zeit sehe ich ihr deutlich an. Gitarre zu spielen, hat sie gerade keine Lust. Dafür hat sie den Kopf nicht frei. Sie ist ständig am Telefon, organisiert Dinge und versucht die Papierlage für ihre Versetzung zu regeln. Sie wirkt angestrengt und unruhig an diesen Abenden.
Am nächsten Tag setzen wir unsere Reise fort und fahren weiter nach Izium. Dort sind ihr Vorgesetzter und Teile ihrer Einheit. Sie braucht ein paar Unterschriften und Stempel, damit die Versetzung endlich gelingt. Izium ist zu grossen Teilen zerstört. Die russische Armee hat hier gnadenlos gewütet und gemordet. Am Abend fahren wir weiter und übernachten in einem verlassenen Kindergarten in der Nähe von Dobropillia, der von der luftbeweglichen Brigade bezogen wurde. Nastya kennt hier einige Soldaten, daher kommen wir problemlos unter. Bevor wir das Gebäude betreten, sagt Nastya mahnend zu mir: «Sei vorsichtig. Du bist eine Frau. Du bist trans. Hier sind männliche Soldaten, die harte Kämpfe an der Front erlebten. Achte auf deine eigene Sicherheit.» Ich stocke und muss kurz innehalten. «Don’t ask, don’t tell» ist angesagt. Sichtbarkeit hat seine Grenzen. Der Krieg offenbart für queere Menschen und Frauen andere Realitäten, auch in der eigenen Armee.
Zum 2. Teil der MANNSCHAFT+-Reportage
Das LGBTIQ-Aktionsbündnis sammelte in Deutschland bisher rund 1 Million Euro für die Ukraine (MANNSCHAFT berichtete). In der Schweiz hatten letztes Jahr die Lesbenorganisation Schweiz, Transgender Network Switzerland, Pink Cross, die Aids-Hilfe Schweiz und die Milchjugend den «LGBTQ Emergency Fund for Ukraine» ins Leben gerufen (MANNSCHAFT berichtete). Hier wurden inzwischen über CHF 120‘000 gespendet. In beiden Fällen sind Spenden weiterhin nötig und willkommen.
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