Queer in Armenien – Leben ganz unten im europäischen LGBTIQ-Ranking

Der armenische Premier Nikol Paschinjan hat einstige Hoffnungen der queeren Community längst getrübt

Nachdem ihn ein Mob gewalttätiger Dorfbewohner*innen angeriffen hatte, floh Hayk Hakobjan in die Niederlande. (Bild: Fabian Schäfer)
Nachdem ihn ein Mob gewalttätiger Dorfbewohner*innen angeriffen hatte, floh Hayk Hakobjan in die Niederlande. (Bild: Fabian Schäfer)

Im Dezember wählten die Armenier ein neues Parlament. Der alte und neue Premier, Nikol Paschinjan, hat das Ende von Korruption, Vetternwirtschaft und Oligarchenherrschaft versprochen. Doch was bleibt für die LGBTIQ-Community? Einstige Hoffnungen sind längst getrübt.

Es waren Szenen, die Armenien so seit Jahrzehnten nicht gesehen hat: Hunderttausende demonstrierten im April 2018 auf dem Platz der Republik, dem zentralen Platz in der Hauptstadt Jerewan, schwenkten die rot-blau-orangefarbene Nationalflagge. An ihrer Spitze: Der Oppositionspolitiker Nikol Paschinjan, der schon zehn Jahre zuvor Proteste angeführt hatte. Damals von Seiten der Regierung gewaltvoll niedergeschlagen und für die Demonstranten erfolglos.

Nun war alles anders. Es blieb friedlich, auf beiden Seiten. Man sprach von der Samtenen Revolution. Sechs Tage später trat Premierminister Sersch Sargsjan von der Republikanischen Partei zurück, das Volk jubelte. Paschinjan übernahm sein Amt. Von Anfang an ganz vorne mit dabei: Mitglieder der queeren Community. Sie hatten grosse Hoffnungen, wie alle Armenier*innen: Weniger Korruption, mehr Meinungsfreiheit, mehr Rechte. Armenien sollte nicht länger auf dem vorletzten Platz des LGBTIQ-Rankings von ILGA Europe stehen – vor Aserbaidschan, aber hinter der Türkei und Russland.

Die grünen Tore verraten nicht, dass hinter den bunten Fenstergittern der wohl einzige Raum im ganzen Land ist, in dem queere Menschen sie selbst sein können

Keine Verbesserung in Sicht Doch in der LGBTIQ-Community herrscht: Ernüchterung. «Diese Hoffnungen nehmen von Tag zu Tag ab», sagt Nvard Margarjan, Präsidentin von Pink Armenia, der einzigen queeren NGO des Landes. «Seit April hat sich nichts geändert.» Die 30-Jährige sitzt in einem kleinen Raum im ersten Stock, in dem sonst Psychologen der Organisation Beratungsgespräche für Mitglieder der Community anbieten. Pink Armenia mietet ein Haus in einem Wohnviertel der Hauptstadt. Die grünen Tore davor verraten nicht, dass hinter den bunten Fenstergittern der wohl einzige Raum im ganzen Land ist, in dem queere Menschen sie selbst sein können.

Doch nicht nur das: Seit der Samtenen Revolution erlebe Nvard Margarjan sogar eine neue Welle von Homophobie. «LGBTIQ-Themen werden bewusst von der alten Partei und der Kirche genutzt, um Stimmung gegen Paschinjan zu machen.» Der 43-jährige Revolutionsführer ist im Oktober als Premier zurückgetreten, um bei den Neuwahlen am 9. Dezember die Mehrheit im Parlament zu erreichen. Dort waren nach dem friedlichen Umsturz immer noch die Republikaner von Sersch Sargsjan in der Überzahl.

Die Rechnung ging auf: Am diesem Montag findet in Eriwan die konstituierende Sitzung des Parlaments statt. Es wird erwartet, dass Nikol Paschinjan von den Abgeordneten im Amt des Regierungschefs bestätigt wird.

90 % der Armenier*innen wollen LGBTIQ-Rechte beschneiden Doch Paschinjan darf sich nicht zu LGBTIQ-­freundlich äussern. Einer Umfrage von Pink Armenia zufolge würden 90 % der Armenier gerne die Rechte von queeren Menschen beschneiden. Das weiss die Opposition, die alte Elite, zu nutzen: Mitte Oktober hat sie zwei Gesetze ins Parlament gebracht. Eines sollte gleichgeschlechtliche Ehen verbieten (obwohl die Verfassung die Ehe als Verbindung zwischen Mann und Frau definiert), ein anderes sollte «schwule Propaganda» kriminalisieren, ähnlich wie in Russland. Die Regierung hat beide Gesetzesentwürfe abgelehnt. Ein gefundenes Fressen für die Republikaner: Wer Paschinjan unterstützt, der unterstütze die queere Community, so deren Botschaft. Ein Gesetz vorzuschlagen, das der Community hilft, etwa ein Antidiskriminierungsschutz, hätte ihn viele Stimmen gekostet.

Bei Pink Armenia geht das Licht aus. Stromausfall. Die Computer piepsen alle paar Sekunden. Im Erdgeschoss, dem Community Center, chillen ein paar Jungs. Nach ein paar Minuten geht der Strom wieder an. Bald riecht es nach Popcorn, später treffen sich lesbische und trans* Frauen hier. Auch Spartak Schahbasjan sitzt auf einem Sessel. Seit zweieinhalb Jahren kommt der 20-Jährige hierher, um Freunde zu treffen und sich auszutauschen.

Vor der Revolution gab es hier gar keine Hoffnung

«Vor der Revolution gab es hier gar keine Hoffnung», erzählt er. «Das war wie eine Diktatur.» Er spüre immer noch eine andere Stimmung in der Stadt, «es ist heute ein anderes Leben als davor.» Ein Dreivierteljahr nach dem friedlichen Umsturz scheint sich die Zeitrechnung geändert zu haben: Es gibt die Zeit vor und die nach der Revolution. Auch Spartak Schahbasjan setzt grosse Hoffnungen in Paschinjan und seine Partei «Jelk» – auf Deutsch: Ausweg.

Jahrelange Unterdrückung Doch auch er, der mittlerweile als Projektassistent bei Pink Armenia arbeitet und die ganze Zeit begeistert über die Revolution spricht, fast schwärmt, gibt zu, dass sich nicht alles zum Guten geändert hat. «Seit der Revolution habe ich kein Date mehr über Grindr gemacht.» Er muss lachen. Er habe zu viel Angst, er wisse nicht, mit wem er dort chatte. «Vor der Revolution wusste man eher, was man erwarten konnte. Mittlerweile herrscht mehr Misstrauen.» Es gebe Anti-LGBTIQ-Demos, queere Themen sind wieder präsenter, aber nur, um instrumentalisiert zu werden.

«Ich hoffe, dass es nach der Wahl eine Gegenbewegung zu dieser neuen Homophobie gibt. Wir wurden lange genug unterdrückt.»

Ein Freund bringt ihm einen Kaffee. Spartak bedankt sich. «Honey, da ist Gift drin», bekommt er als Antwort, Augenzwinkern dazu. Bei «Pink», wie Pink Armenia gerne genannt wird, kann man fast vergessen, dass vor den grünen Toren eine homophobe Gesellschaft wartet, die teilweise auch vor Gewalt nicht zurückschreckt.

So wie es Hayk Hakobjan erlebt hat. Der 21-jährige Aktivist hatte im August Besuch von acht weiteren queeren, überwiegend schwulen Aktivisten in seinem Wohnhaus in Shurnukh, einem kleinen Dorf im Süden Armeniens. Plötzlich kamen 30 bis 40 Dorfbewohner, um sie aus dem Haus zu vertreiben. «Sie haben Steine nach uns geworfen und gesagt, sie würden uns umbringen, wenn sie uns kriegen», erzählt Hayk via Skype, denn er hält sich nicht mehr hier auf. Zwei Aktivisten mussten ins Krankenhaus, die anderen wurden zum Teil von der Polizei in die Hauptstadt gebracht.

Ein Mitglied von Paschinjans Regierung hat die Gewalt verurteilt, doch der Premierminister selbst hat sich nie dazu geäussert. «Vielleicht unterstützt er die Community in seinem Herzen, doch er zeigt es nicht in seiner Politik», sagt Hayk.

Warten auf Asyl Eigentlich wollte der 21-Jährige in sein Dorf zurückkehren, den Homophoben nicht das Feld überlassen. «Doch selbst in Jerewan wurde ich erkannt. Das wird nie aufhören», sagt er. Einen Monat nach dem Angriff ist er mit einem Freund in die Niederlande geflohen, um dort Asyl zu beantragen.

Eigentlich wollte der 21-Jährige in sein Dorf zurückkehren, den Homophoben nicht das Feld überlassen. «Doch selbst in Jerewan wurde ich erkannt. Das wird nie aufhören», sagt er. Einen Monat nach dem Angriff ist er mit einem Freund in die Niederlande geflohen, um dort Asyl zu beantragen. Er wohnt in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nähe der deutschen Grenze. Dass sich mit Paschinjan etwas in seiner Heimat ändern wird, bezweifelt er. Frühestens in zehn Jahren werde er zurückkehren, gerade denkt er überhaupt nicht daran.

Spartak Schahbasjan will sich seinen Optimismus nicht nehmen lassen. «Ich habe keinen Zweifel, dass die Revolution gut war. Die Frage ist nur, ob sie auch der Community etwas bringt.» Ein bisschen was habe sich doch verbessert, sagt Nvard Margarjan, die Pink-Präsidentin. Die neue Regierung antworte wenigstens auf ihre E-Mails.



LGBTIQ in Armenien

Homosexuelle Handlungen sind zwar seit 2003 legal, doch Antidiskriminierungsgesetze zum Schutz der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität gibt es nicht. Artikel 63 des Strafgesetz­buches sieht eine strafrechtliche Verantwortung und erschwerende Umstände vor, wenn ein Verbrechen ethnisch, rassistisch oder religiös motiviert ist – jedoch nicht, wenn es sich gegen die queere Identität richtet. Nach Einschätzung von Amnesty International melden sich nur wenige Opfer von Hassdelikten gegen LGBTIQ bei der Polizei, unter anderem aus Angst, dadurch vor ihren Familien zwangsgeoutet zu werden.

Unterstütze LGBTIQ-Journalismus

Unsere Inhalte sind für dich gemacht, aber wir sind auf deinen Support angewiesen. Mit einem Abo erhältst du Zugang zu allen Artikeln – und hilfst uns dabei, weiterhin unabhängige Berichterstattung zu liefern. Werde jetzt Teil der MANNSCHAFT!

Das könnte dich auch interessieren