Queer, Gender und Klima: Gesellschaft nicht gespalten
Der Übeltäter heisst – wie so oft – Social Media
Immer wieder hören wir, dass die Gesellschaft zutiefst gespalten sei. Das stimmt nicht, schreibt unser Autor in seinem Kommentar*, der zugleich auch ein Buchtipp ist.
Mit diesen Zeilen sei ein Buch empfohlen, das just veröffentlicht wurde, keinen besonderen «Queer»-Stempel prunkten hat und das sich garantiert nicht im Kassenbereich queerer Buchhandlungen als «Hot Shit», als unbedingtes Muss-ich-lesen finden lässt.
Es ist die Studie des in Berlin lehrenden Soziologieprofessoren Steffen Mau, der mit seinen Mitarbeitern Thomas Lux und Linus Westheuer, der Titel lautet: «Triggerpunkte» und geht, so der Untertitel «Konsens und Konflikt in der Gegenwartsgesellschaft». Und diese Untersuchung hat es in sich, für unsere queeren Fragestellungen.
Soziologe Mau und Kollegen haben sich nämlich alle vorhandenen Studien zur sogenannten «Spaltung der Gesellschaft» angeguckt, haben geprüft, ob es wirklich zutrifft, dass aktuell unsere Gesellschaften – nehmen wir die deutsche hier als Beispiel, für die schweizerische und österreichische gilt das gewiss nicht minder, weil stark ähnliche kulturelle und ökonomische Strukturen – verfeindet, ja, geteilt sind. Einander nur in Opposition begegnend!
Sie haben ausserdem eine Umfrage selbst in Auftrag gegeben, über 2’500 Menschen haben geantwortet, ausserdem hat das Team mit sechs Gruppen von Männern und Frauen Diskussionen um (angeblich oder echt) strittige Fragen ausgerichtet. Das ist hier wichtig zu erwähnen, um zu sagen, dass – ich bin selbst Soziologe – diese Untersuchung wissenschaftlich sattelfest ist.
Und die Ergebnisse? Erstaunlich. Auch überraschend, für mich allerdings nicht so sehr, weil ich in meinem familiären und kulturellen Nahkreis, Brüder und Freund*innen, die aus sehr unterschiedlichen Milieus kommen, nicht nur aus Medien- oder bildungsbürgerlichen Kreisen, schon seit Jahren glaube feststellen zu können, dass es diese Spaltung nicht wirklich gibt, etwa in puncto Klimakrisengesetze, Queerfragen oder Rassismuswahrnehmungen.
Mau & Co. sagen, dass es eine extrem solide gesellschaftliche Mitte gibt, die allerdings, mit Hilfe von Social-Media-bewirkten Erregungen von den Rändern ständig im Glauben bestärkt wird, es gäbe eine Spaltung.
Um zu unseren politischen und kulturellen Mustern zu kommen: Im Hinblick auf die Ehe für alle, sogar auf die recht frische Fragestellung rund um «trans» gibt es einen erheblichen Resonanzraum – für positive Haltungen. 80 Prozent aller Befragten und Interviewten gaben zu verstehen, dass sie die Ehe gleichgeschlechtlicher Menschen nicht nur nicht ablehnen, sondern sogar okay finden, auch bei der Frage der Adoption von Kindern oder bei Nachwuchswünschen überhaupt.
Mehr noch: 83 Prozent aller Teilnehmenden erkennen trans Menschen an beziehungsweise haben nichts dagegen, dass trans eine zu akzeptierende Option ist. Also, meine Schlussfolgerung: Nix mit flächendeckender Homo- und Transphobie, wie es aus aktivistischen Kreisen immer wieder tönt. Allerdings gab es auch eine krasse Reserve bei den Befragten, und die betrifft die aktivistischen Mühen.
Extrem wuschig, um nicht zu sagen: Schwerst genervt reagieren die meisten der Befragten, sobald sie zu Pflichthandlungen aufgerufen werden. Dass sie sprachlich gendern müssen, dass sie queer sein müssen, dass sie den Glaubenssatz respektieren müssen, dass es mehr als zwei biologische Geschlechter gibt, dass sie, mit anderen Worten, den aktivistischen Programmen zu entsprechen haben. Das ginge den allermeisten zu weit, sie wollen nicht ihre eigenen Lebensstile in Misskredit gebracht sehen.
Die Soziologen sagen: Gefragt ist also, Achtung: Fremdwort!, «Ambiguitätstoleranz», die Fähigkeit im Alltag, einander auszuhalten, ohne einander zu behelligen. Wer verpflichtet werden soll, neigt zum Eigensinn – und will sich nichts vorschreiben lassen.
Getriggert sind sie aber, wenn Minderheiten ihren Lebensstil auch öffentlich zelebrieren, Regenbogenfahnen schwenken
Getriggert, also in erregtere Stimmung geraten sehr viele, so Steffen Mau, Zitat aus einem «Spiegel»-Interview mit ihm: «Ein anderer typischer Trigger sind Ungleichbehandlungen: freitagnachmittags zwei Stunden exklusive Schwimmzeit für trans Personen. Auch Normverletzungen triggern. Den meisten Leuten ist heute zwar schnurzpiepe, ob jemand eine andere sexuelle Orientierung hat oder bestimmte sexuelle Praktiken bevorzugt. Getriggert sind sie aber, wenn Minderheiten ihren Lebensstil auch öffentlich zelebrieren, Regenbogenfahnen schwenken.»
Für die aktivistische Bubble signalisiert diese soziologische Untersuchung eine Erfolgsbilanz in eigener Sache. Die Sicht- und Sagbarkeit von queeren Leuten hat Früchte getragen, man hat sich an uns gewöhnt, mehr noch, die Toleranz ist einer starken Akzeptanz gewichen, eine, die auch Solidarisierung mit uns einschliesst, sofern wir angegriffen.
Insofern stimmt die These der Aktivist*innen nicht, derzufolge alles noch so grau in grau sich darstellt wie vor Jahrzehnten. Ist nicht richtig. Und noch etwas ist als unstimmig künftig zurückzuweisen: Dass proletarische Kreise, also die nicht in der queeren Bubble beheimatet sind, illiberaler sind als die sich gehobener fühlenden Milieus.
Mit anderen Worten: Lesen, Pflichtlektüre
Das Buch von Didiere Eribon, «Rückkehr nach Reims», eine angeblich präzise Geschichte eines Bildungsaufsteigers, der seine Rechtspopulismuswählende Brüderschar zurücklässt, erweist sich mehr und mehr als – Klischee. Mit anderen Worten: Lesen, Pflichtlektüre!
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*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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