«Ein Coming-out sollte keine grosse Schlagzeile mehr sein»
Martin Tietjen (32) kennt man bisher als Backstage-Reporter für „DSDS“ und „Let‘s Dance“. In seinem ersten Buch „Selbstrufmord“ erzählt der gebürtige Hamburger, der in Berlin und Köln lebt, u.a. von seinem Coming-out und dem ersten (blutigen) Besuch in einem Darkroom.
Martin, du äußerst in deinem Buch mehrfach die Befürchtung, dass du wegen der Geschichten darin enterbt wirst. Steht der Notartermin schon? (lacht) Also, mein Vater ist eh ein Lesemuffel, aber meine Mutter hat es gelesen und schickt mir jeden Tag eine Sprachnachricht oder eine lange Whatsapp-Nachricht. Dass sie heulend und aufgelöst im Garten sitzt, in ihrem neuen Sommerkleid, und dieses Buch liest. Natürlich sagt sie, bei ein paar Geschichten sei sie nicht so stolz auf ihren Sohn, aber sie findet es toll und berührend und fühlt mit mir. Sie dachte immer, dass sie mich kennen würde und ist sehr dankbar, dass sie mich von einer anderen Seite kennen lernen darf.
Du schreibst, dass deine Mutter dein erster Gedanke war, als du mit einem Typen in einem tschechischen Darkroom die Kabine betreten hast. Echt jetzt? Ja, tatsächlich! Ich weiß nicht, wie es meine Eltern geschafft haben. Normalerweise bin ich eher rebellisch unterwegs, was meine Eltern angeht. Und hab eher bewusst Sachen anders gemacht, als sie es wollten. Aber es ist ihnen wirklich gelungen, ihr Bewusstsein in meinen Kopf einzupflanzen. In vielen Momenten sehe ich meine Eltern mit einem sehr skeptischen Gesichtsausdruck und höre sie Wirklich? Bist Du sicher? sagen. Davon kann ich mich manchmal schwer lösen. Auch als ich meinen ersten Freund gesucht habe, vor 12 Jahren, wollte ich jemanden finden, der meinen Eltern gefällt.
In der Darkroom-Szene blutet dein Penis und du kotzt dem anderen Typen auf die Schulter. Warum will man sowas erzählen? Weil es am Ende des Tages eine lustige Geschichte ist! Das ist auch das Anliegen: Man erzählt Geschichten, bei denen man vielleicht nicht so gut bei wegkommt. Diese glatt gebügelte Social-Media-Welt, diese perfekten tollen Influencer, die alle eine reine Weste haben – das ist doch nicht das echte Leben! Aber jeder hat doch seine Leichen im Keller. Solchen Geschichten machen uns aus. Daher mache ich so ein bisschen Anti-Social-Media. Man darf sich selbst nicht so wahnsinnig ernstnehmen. Immer will man irgendwo reinpassen, man schafft sich so viele Zwänge. Am Ende wird aber niemand zu dir kommen und sagen: Mensch, du hast dich immer verstellt, um nicht aufzufallen – wie toll!
Wie fand deine Mutter die Darkroom-Episode? Sie sagte: Du hast mir so leidgetan, diese Schmerzen! Und ich dachte mir: Schön, dass du es so siehst!
Du schreibst in dem Buch auch über den CSD. Du willst nicht der Federboa-Schwule sein. Wie trifft man dich beim CSD? Das war so eine Evolution, ich konnte da anfangs nichts mit anfangen. Ich wollte nicht von Kollegen gesehen werden, als ich noch nicht geoutet war. Aber je entspannter ich mit mir war, umso entspannter war ich auch mit dem CSD. Ich fahre immer noch nicht auf dem Wagen mit, lieber stehe ich unten und schaue rauf. Und bin mit meinen Kumpels unterwegs. Für Berlin gibt es da ein klares Ritual: Um 10 Uhr wird gefrühstückt, mit dem einen oder andere alkoholischen Getränk, damit wir um 12 am Kurfürstendamm sind. Dann muss man meist noch eine halbe Stunde warten, bis es losgeht. Irgendwann suchen wir uns einen Wagen aus und laufen mit. Beim Hamburger CSD ist es anders: Da gibt es bei meinem Freund Olli das „Annual Window Seating“. Er wohnt mit seinem Mann direkt an der Parade-Strecke. Die Wohnung hat vier Fenster, in jedem können zwei Menschen sitzen, also insgesamt haben da acht Leute Platz. Erst gibt es Frühstück, dann setzen sich alle mit Kissen ins Fenster und gucken zu.
Du möchtest mit deiner Coming-out-Geschichte etwas bewirken. Dass Schwulsein selbstverständlicher wird, dass Coming-outs eigentlich gar nicht mehr nötig sind. Was beobachtest du bei deinen Kollegen in der Medienbranche? Also, ich sehe da niemanden, der lügt oder anderen etwas vorspielt. Ich würde mir tatsächlich manchmal wünschen, dass das Thema mit einer gewissen Beiläufigkeit behandelt wird. (So outete sich Jochen Schropp.) Mein Buch soll kein großes Coming-out-Buch sein, ich bin ja auch kein A-Promi. Ich fände es schön, wenn ein Schauspieler über den Roten Teppich geht, und wenn er gefragt wird, wie sein Wochenende war, dass er dann einfach antworten kann: Ich war mit meinem Mann in unserem Haus am See. Und dann geht er einfach weiter. Es soll bitte keine große Schlagzeile mehr sein.
Du hast früher beim NDR moderiert, warst dort aber noch nicht geoutet. Ich wollte nicht gleich diesen Stempel haben, das ist dieser schwule Moderator. Aber ich habe mir damit keinen Gefallen getan. Montags erzählen alle, was sie am Wochenende gemacht haben. Ich habe das immer sehr geschlechtsneutral erzählt oder nur freundlich genickt, und die Kollegen fanden mich komisch deswegen. Aber mir fehlte der Mut. Ich war damals auch nicht bereit, die Nachfragen zu beantworten. Die Klassiker, die heute noch kommen, auch von Gleichaltrigen: Wer ist denn bei Euch der Mann und die Frau? Sowas beantworte ich echt nicht!
Inwiefern hat dein Coming-out deine Eltern oder deine Beziehung zu ihnen verändert? Meine eigentlich spießigen Eltern haben ein viel offenes Weltbild bekommen. Sie haben in einem lesbischen Pärchen ihre besten Freunde kennengelernt, auf einer Kreuzfahrt! Das wäre ihnen wohl nie passiert, wenn ich mich nicht geoutet hätte. Es wundert mich, aber es freut mich auch: Man kann sich auch mit 60 noch ändern!
Das Interview stammt aus der MANNSCHAFT, Ausgabe Juli 2018. Hier geht’s zum Abo (Deutschland) – und hier auch (Schweiz).
Martin Tietjen „Selbstrufmord: Geschichten, die man eigentlich nicht erzählen sollte“ Fischer Taschenbuch, 336 Seiten
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