Locarno vergibt gender­neutrale Preise – und feiert Selbst­bestimmung

Dieses Jahr sollte ein Zeichen für die Stärkung weiblicher Perspektiven gesetzt werden

Saule Bliuvaite (r) und Giedre Burokaite erhielten den Goldenen Leopard (Foto: Jean-Christophe Bott/ dpa)
Saule Bliuvaite (r) und Giedre Burokaite erhielten den Goldenen Leopard (Foto: Jean-Christophe Bott/ dpa)

Beim Festival von Locarno wird mit vielen Ehrungen ein Zeichen für die Stärkung weiblicher Perspektiven gesetzt. Teils überraschte die Vergabe der genderneutralen Preise.

Von Peter Claus, dpa

Frauen sind die Gewinnerinnen des Filmfests Locarno. Der Hauptpreis Goldener Leopard geht an den litauischen Spielfilm «Akiplėša» («Toxic») von Saulė Bliuvaitė. Nahezu alle wichtigen Ehrungen des Festivals wurden an Filme von Regisseurinnen mit differenziert gezeichneten Frauen als Zentralfiguren verliehen.

Der Gewinnerfilm ist eine Studie um den Alltag zweier Teenager an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Ihr Leben wird wesentlich vom Druck fataler Schönheitsideale geprägt. «Toxic» ist das Spielfilm-Debüt der jetzt 30-jährigen litauischen Regisseurin Bliuvaitė. Ihre Auszeichnung bestärkt zudem das traditionelle Vorhaben Locarnos, vor allem junge, noch unbekannte Talente zu fördern.

Die zweitwichtigste Auszeichnung des Festivals, der Spezialpreis der Jury, ging ebenfalls an eine junge Regisseurin: an die 1990 im Irak geborene, in Österreich lebende Kurdwin Ayub für ihren Spielfilm «Mond». Auch bei ihr stehen junge Frauen im Zentrum, eine österreichische Kampfsportlerin und vier Töchter einer reichen jordanischen Familie, die von der Wienerin trainiert werden. Das mit Krimispannung arbeitende Drama setzt sich überaus kritisch mit unterschiedlichen gesellschaftlich festgeschriebenen Frauenbildern auseinander.



Der Leopard für die beste Regie ging an Regisseur Laurynas Bareiša, Jahrgang 1988 – wie Saulė Bliuvaitė, die Gewinnerin des Goldenen Leoparden, aus Litauen stammend. In seinem von litauischen und lettischen Geldgebern produzierten Spielfilm «Seses» («Trockenes Ertrinken») spiegelt er die Entwicklung zweier junger Mütter, die sich von der Übermacht der Männer befreien.

All diese Preise sind deutbar als Statement der von der österreichischen Regisseurin Jessica Hausner («Lourdes») geleiteten Jury für eine Stärkung weiblichen Selbstbewusstseins. Das ist folgerichtig, war das Leben von Frauen in der heutigen Welt doch das zentrale Thema im «Concorso internazionale», dem Hauptwettbewerb.

Zudem hatten an den dort gezeigten 17 Filmen aus aller Welt acht Frauen im Regiestuhl mitgewirkt, trug also fast die Hälfte aller Wettbewerbsbeiträge eine weibliche Handschrift. Drum ist das Jury-Votum nur zu berechtigt.

Dagegen haben die genderunabhängig vergebenen Preise für das beste Schauspiel überrascht. Ein Leopard für bestes Schauspiel erhielt das Hauptdarsteller-Quartett von «Seses», Gelminė Glemžaitė, Agnė Kaktaitė, Giedrius Kiela und Paulius Markevičius. Ein zweiter Preis ging an die Südkoreanerin Kim Minhee. Sie verkörpert die Hauptrolle, eine Künstlerin und Hochschullehrerin, in «Am Bach», inszeniert von ihrem weltweit auf Festivals gern gefeierten Landsmann Hong Sangsoo.

Gerade was die schauspielerischen Leistungen betrifft, war viel Exzellentes zu bewundern. Weithin als Favoritin gehandelt worden war die deutsche Schauspielerin Maren Eggert für ihre Interpretation einer Frau an einem Wendepunkt ihres Lebens im Kammerspiel «Der Spatz im Kamin» (Schweiz).

Begeistert hat ebenso die erst 16-jährige Deutsche Helena Zengel («Systemsprenger») im Abenteuerfilm «Transamazonia». Auch die aus Katalonien stammende, multinationale Laura Weissmahr als überforderte junge Mutter im spanischen Psychodrama «Salve Maria» hätte eine Ehrung verdient.



Die Hoffnungen auf einen der wichtigen Preise im Hauptwettbewerb haben sich für deutsche Filmschaffende nicht erfüllt. Doch ganz leer ausgegangen sind sie nicht. Im Experimental-Wettbewerb «Pardi di domani» («Leoparden von morgen») ging ein Silberner Leopard an den von deutschen und russischen Produzenten finanzierten Kurzfilm «Gimn chume» («Hymne auf die Pest») des in Paris arbeitenden russischen Künstlerkollektivs «Atak51». In nur zwölf Minuten wird Musik als politisch wirksame Kunst gefeiert.

Geprägt wurde das Festival durch eine Fülle von gesellschaftskritischen Filmen und daraus resultierenden politischen Diskussionen, wie die Auseinandersetzung mit Fragen zum Klimaschutz. Aber auch das Vergnügen kam nicht zu kurz. Allabendlich sassen bis zu achttausend begeisterte Zuschauer*innen in Open-Air-Galas mit Filmen ausserhalb aller Wettbewerbe auf der Piazza Grande von Locarno. Und sie bejubelten Prominente, die mit Ehrenpreisen bedacht wurden, allen voran Indiens Superstar Shah Rukh Khan.

Das neben Cannes, Berlin und Venedig bedeutendste europäische Filmfestival zeigte an elf Tagen 225 Kurz-, Spiel- und Dokumentar- und Experimentalfilme. Auch die 77. Ausgabe bestärkte den guten Ruf Locarnos, die wichtigste Tribüne für Entdeckungen noch unbekannter Talente und anspruchsvoller Filme zu sein. Der enorme Zuspruch von Tausenden Filmfans aus aller Welt zeigte, dass die gern totgesagte wagemutige Filmkunst überaus lebendig und beim Publikum gefragt ist.

Das Schwule Museum Berlin hat ein Kooperationsprojekt mit Ver/Sammeln Antirassistischer Kämpfe angekündigt. Titel: «Nicht die Ersten – Bewegungsgeschichten von Queers of Color in Deutschland» (MANNSCHAFT berichtete).

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