Kulturelles Erbe in Gefahr? «Les Mots à La Bouche» in Paris muss raus
Einst war der Bezirk Marais eine LGBTIQ-Enklave, heute ist es ein Airbnb-Zentrum. Die Bars verschwinden, nun auch der Buchladen «Les Mots à La Bouche». Brauchen Schwule keine eigenen Orte mehr?
Im Schaufenster eines der berühmtesten LGBTIQ-Buchläden der Welt kann man in grossen roten Lettern lesen: «Kulturelles Erbe in Gefahr». Am Eingang dann eine Notiz: «Wir brauchen eure Hilfe!» Die Rede ist von «Les Mots à La Bouche» im queeren Epizentrum Frankreichs, das inzwischen überrannt ist von heterosexuellen Touristen. Ein Phänomen, das man auch von anderswo kennt.
Die Bundhandlung «Les Mots à La Bouche» wurde vor fast 40 Jahren gegründet und gilt als einer der best-sortierten LGBTIQ-Läden der Welt – er ist eine Anlaufstätte für viele im Herzen vom queeren Pariser Stadtteil Marais. Da dort jedoch die Immobilienpreise explodiert sind und inzwischen mehr Airbnb-Touristen leben als «Einheimische», sind die Mieten so extrem gestiegen, dass der Buchladen demnächst vertrieben wird. Darüber haben in den letzten Tagen mehrere internationale Tageszeitungen und queere Medien berichtet.
Der Weggang des Buchladens ist eine schwere Schlappe für die Pariser LGBTIQ-Community. Aktivisten warnen schon lange davor, dass das Zentrum der Stadt seine kulturelle Identität zerstöre indem es immer mehr Luxusmarkengeschäfte zulasse, die ausschliesslich für superreiche Touristen da seien und kleinere lokale Geschäfte verdrängten – zu denen zählen auch die vielen beliebten Schwulenbars.
Die populäre Cabaret-Sängerin Yvette Leglaire klagt in einem britischen Zeitungsinterview: «Das queere Marais stirbt.» Zwar wird es vom Tourismusverband immer noch angepriesen als «authentisches, aber trendy kleines Dorf», aber die LGBTIQ-Szene, die sich dort in den 1980er-Jahren formierte, als die Gegend noch eine Arbeiterbezirk war, heruntergekommen und billig, erodiert. Viele historische Schwulenbars haben in den letzten Jahren geschlossen und wurden ersetzt durch Lacoste- und Chanel-Geschäfte.
Ehemaliger jüdischer Distrikt Bevor die Schwulen (und einige Lesben) den Bezirk «übernahmen», war das Marais eine jüdische Nachbarschaft in Paris, extrem zentral gelegen und gut angebunden, aber doch weit genug entfernt von den schicken Boulevards. Man konnte dort bequem «unter sich» bleiben und musste trotzdem keine riesigen Umwege machen, um hinzukommen.
40 Jahre Buchladen Eisenherz – «Das musste damals sein!»
Das zog über die Jahre immer mehr Menschen an. Zwischen 2012 und 2018 haben sich die kommerziellen Mieten dann im Marais verdoppelt. Nun fürchten viele, dass es dem Bezirk so gehen könnte wie den queeren Nachbarschaften in Barcelona, Amsterdam, dem Soho in London, dem Meatpacker District in New York oder dem Castro in San Francisco: statt den jeweiligen Städten eine besondere Originalität zu verleihen, mit blühenden Underground-Szenen, sind sie zu einem pittoresken Disneyland geworden. Ein Anwohner des Marais meint: «Mein Bezirk ist ein riesiger Freiluft-Duty-Free-Laden geworden.» So kann man das auch formulieren.
Zurück zu «Les Mots à La Bouche». Dessen Manager Sébastien Grisez sagte zu einer Zeitung aus Grossbritannien: «Die Stadtverwaltung bewirbt die Gay History des Marais und hat hier Strassenübergänge in Regenbogenfarben streichen lassen – und dann soll es absurderweise mitten in diesem Regenbogenparadies unseren Buchladen nicht mehr geben.»
Mitten in der Aidskrise Der Laden eröffnete 1983, als die Aidskrise auch in Frankreich ausbrach und unter Schwulen für viel Verunsicherung sorgte. «Safe Spaces» waren damals sehr wichtig, Orte, an denen man sich austauschen und informieren konnte, Orte, an denen man trotz einer um sich greifenden allgemeinen Homophobie (verbunden mit Panikmache gegen Schwule) überhaupt Zugang zu einer bewussten LGBTIQ-Kultur finden konnte: mit Büchern, Filmen, Zeitschriften aus dem In- und Ausland.
Der Buchladen ist an sieben Tagen die Woche geöffnet bis 23 Uhr und hat heute 16.000 Titel im Sortiment. Viele prominente Autoren kamen regelmässig zu Lesungen oder Signierstunden ins Geschäft, u. a. der extra aus Japan eingeflogene Gengoroh Tagame. (Mehr zu Tagame und seinem Kampf für LGBTIQ-Sichtbarkeit in Japan im MANNSCHAFT-Archiv.)
Doch genau wie Tagame inzwischen den Weg vom Extrem-Fetisch in den Mainstreammarkt gefunden hat (mit «Der Mann meines Bruders») rückt der Mainstream auch im Marais immer näher. «Les Mots à La Bouche» wurde vom Vermieter informiert, dass er bis März 2020 Zeit habe, um sich eine neue Bleibe anderswo in Paris zu suchen. Es kursiert das Gerücht, dass der Laden künftig ein Doc-Marten-Schuhgeschäft beherbergen soll.
Verändertes Sozialverhalten Manager Sébastien Grisez sagt: «Vor zehn Jahren gab es hier viel mehr Schwulenbars, heute sind nur noch wenige da. Es stimmt natürlich, dass sich das schwule Sozialverhalten verändert – wir sind heute überall, wir müssen uns nicht mehr in speziellen Bars treffen, wenn es dafür Apps gibt. Trotzdem bedauern viele, dass es diese Nachbarschaft als Treffpunkt nicht mehr gibt.»
Ein Fan des Buchladens, Alain Lesturgez vom französischen Forstverband, ist seit 20 Jahren Kunde. Er sagt: «Wenn die hier wegziehen, markiert das das Ende einer Ära. […] Das Marais war mal voller Leben, heute gibt’s hier nur noch Luxus.»
Zu Besuch in Paris: Queere Jugendliche auf LGBTIQ-Spuren
Diesen Prozess haben im New Yorker Meat Packing District die einst legendären Schwulenbars und -discos schon lange hinter sich: Dort, wo noch in den 1980er-Jahren Leder, Slings und Crisco in Kellergewölben und Lagerhallen dominierten, sind jetzt Frühstücksrestaurants für Familien mit Kindern, Moderne-Kunst-Museen und Souvenirgeschäfte angesiedelt. (Erinnert sich noch jemand an die Szene aus «Sex and the City», wo Samatha in den Meat Packing Distric zieht und damit diesen Wandel quasi als TV-Serie festhält? Genau wie Al Pacino 1980 in «Cruising» das Leben dort «vorher» festgehalten hat; zuletzt war es kurz in Filmen wie «Bohemian Rhapsody» rekreiert worden – als ferne Fantasie statt als realer Alltag.)
Hipster-Invasion In einem Zeitungsartikel wird Christian Ducou zitiert, der in den Fünfziger Jahren im Marais geboren wurde und jetzt aus seinem Küchenfenster einen nagelneuen zweistöckigen Calvin-Klein-Laden sieht. Er erinnert sich, wie früher in den Häusern Wohnungen zu finden waren mit geteilten Badezimmern pro Etage und Toiletten im Treppenhaus. (Das war natürlich in Berlin-Friedrichshain teils ähnlich vor der Hipster-Invasion.) «Den ersten reichen Menschen, den ich jemals sah, war Fotograf Helmut Newton, als dieser herzog», erinnert sich Ducou. Seine Frau Liliane ergänzt: «Seltsamerweise sind die Luxusgeschäfte oft leer. Es kommt mir vor, als wollten die nur eine Marais-Adresse im Portfolio. Die Gegend eignet sich nicht für Luxusmodeläden. Die Strassen sind eng, man kann nirgends mit einer Limousine vorfahren.»
Im Frühjahr stehen in Paris Bürgermeisterwahlen an. Politiker denken deshalb laut darüber nach, wie sie das Zentrum von Paris vor Immobilienspekulanten schützen könnten – und vorm Hyper-Tourismus. Oder ist dafür ehr zu spät?
Braucht die LGBTIQ-Community keinen Kokon mehr? Der Bezirksbürgermeister von den Sozialisten hat versprochen, «Les Mots à La Bouche» bei der Suche nach einer neuen Unterkunft zu helfen; bislang hat er allerdings noch keine gefunden.
Der Schauspieler Sébastien Raymond sagt: «Dieser Buchladen hat sich immer wie ein Kokon angefühlt. Man wusste, dass man hier drinnen akzeptiert wird, egal was draussen los ist. Du fühltest dich sicher.»
Aber vielleicht braucht die LGBTIQ-Community heute keinen Kokon mehr und kann sich überall sicher fühlen? Die täglichen News aus aller Welt suggerieren eher das Gegenteil.
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