Russlands Horrorszenario: War Jesus bisexuell?
War der Gottessohn «bi oder nichtbinär», weil er «alle Menschen auf der Welt liebte» und «als Mann ein Kleid trug»?
Der russische Aussenminister Sergei Lawrow behauptet, Schulen in vielen westlichen Ländern würden Kindern im Unterricht beibringen, Jesus sei bisexuell gewesen. Seine Quelle: vermutlich ein TikTok-Video!
Für den 71-jährigen Lawrow ist ein nichtheterosexueller Jesus eine kaum auszuhaltende Vorstellung, wie er in einem russischsprachigen Essay darlegt, der diese Woche in der Zeitung Kommersant unter dem Titel «Über Recht, Rechte und Regeln» veröffentlicht wurde. Das Aussenministerium hat diesen Text in mehreren Übersetzungen (auch auf Deutsch) ins Netz gestellt. In dem Essay wettert der Minister gegen «die grenzenlose Freizügigkeit» liberaler Demokratien, deren fehlgeleitete Ideale «in die menschliche Natur eindringen» würden – beginnend mit Behauptungen zur Sexualität des gekreuzigten Gottessohns.
«Die Versuche vernünftiger Politiker, Kinder vor der aggressiven LGBT-Propaganda zu schützen, stossen im ‹aufgeklärten Europa› auf kampflustige Proteste», behauptet Lawrow. Er bezieht sich damit indirekt auf den aktuellen Streit zwischen der EU und Ungarn über die neuen Anti-LGBTIQ-Gesetze der Orban-Regierung (MANNSCHAFT berichtete).
«Gencode der wichtigsten Zivilisationen der Welt» Alle Religionen – «der Gencode der wichtigsten Zivilisationen der Welt» – seien laut Lawrow unter Beschuss. Dazu gehöre, dass in einigen westlichen Ländern Kinder im Rahmen des Schulcurriculums lernen würden, dass Jesus bisexuell gewesen sei. Lawrow nennt in diesem Kontext keine Beispiele und liefert keine Belege. Allerdings hat die russische Zeitung It’s My City (I’MC) diese Behauptung zurückverfolgen können auf ein TikTok-Video, das viral ging.
Darin sieht man eine australische Mutter, die zuhört, wie ihre Kinder über die Sexualität von Jesus debattierten. In dem Video sagt ihr junger Sohn, Jesus sei vermutlich «bi oder nichtbinär» gewesen, «weil er alle Menschen auf der Welt liebte» und weil er «als Mann ein Kleid trug». Das habe er in der Schule gelernt, verteidigt er sich, als seine Mutter Protest einlegt.
Egal ob Lawrows warnende Worte auf TikTok-Videos basieren oder nicht, das von ihm als Horrorszenario skizzierte Bild dürfte bei vielen Russen auf offene und entsetzte Ohren stossen, schliesslich ist im Land die Zustimmung für die rigiden Anti-LGBTIQ-Gesetze zum vermeintlichen «Schutz der Kinder» hoch. Ebenso die Zustimmung für entsprechende Zusätze zur Verfassung, etwa die Ergänzung von 2020, die besagt, dass eine Ehe nur eine Verbindung von Mann und Frau sein könne. Andere Gesetze erheben es zur Straftat, Kindern im Schulunterricht überhaupt etwas von der Existenz von LGBTIQ zu erzählen.
Wenn, dann darf ein Homosexueller nur als tragisches Beispiel erwähnt werden, als jemand, der an seiner sexuellen Orientierung zugrunde gehen musste – wie der Komponist Peter Tschaikowsky. Alle Gegenteiliges aussagenden Dokumente, wie etwa seine Briefe an seinen gleichfalls schwulen Bruder Modest Tschaikowsky, werden unter Verschluss gehalten in Staatsarchiven. Denn: glückliche Schwule sind tabu! (MANNSCHAFT berichtete über den ähnlichen Fall in Polen rund um den Nationalkomponisten Chopin.)
Parlamentswahlen im Herbst Neben dem Schulterschluss mit Ungarn dürfte Lawrows Kritik am Westen und an vermeintlich zersetzenden westlichen Werten vor allem der Auftakt für die im Herbst anstehenden Parlamentswahlen in Russland sein, wie einige queere Nachrichtenportale meinen.
«Die USA führen die offene Einmischung des Staates in die Angelegenheiten der Kirche an, indem sie sich unverhohlen für Spaltung der globalen Orthodoxie einsetzen, deren Werte sie als grosses geistiges Hindernis bei der Umsetzung der liberalen Konzeption der grenzenlosen Freizügigkeit betrachten», schreibt Lawrow, der selbst der russisch-orthodoxen Glaubensgemeinschaft angehört. Seine eigene Tochter Jekaterina schickt er übrigens in den USA zur Schule.
Jesus-Kontroverse mit CDU in Berlin Wer denkt, solche Diskussionen rund um Jesus seien nur in Ländern wie Russland oder Ungarn ein Thema, sei daran erinnert, dass es auch in Berlin Anfang der 2000er-Jahre eine entsprechende Debatte gab um die Ausstellung «Selbstbewusstsein und Beharrlichkeit. 200 Jahre schwule Geschichte» im Schwulen Museum.
Diese als Dauerausstellung konzipierte Schau, die von Dezember 2004 bis Mai 2013 zu sehen war (also bis zu dem Moment, wo das Museum vom Mehringdamm in die Lützowstrasse umzog), wurde mit Geldern des Berliner Senats gefördert. Dagegen protestierte die CDU-Landesgruppe mit der Begründung: es dürfe kein Staatsgeld für eine Ausstellung ausgegeben werden, in der Jesus in einem homosexuellen Kontext präsentiert werde. Suggeriert wurde in der Ausstellung und im gleichnamigen Katalog, dass man Jesus und sein Zusammenleben mit zwölf männlichen Jüngern (unter Ausschluss von Frauen) als so etwas wie den «Original Queer» interpretieren könne.
Für ihren Protest fand die CDU damals keine Mehrheit, so dass die von Klaus Wowereit initiierte Förderung durchgewunken werden konnte. Seither ist über die Sexualität von Jesus im «liberalen Westen» viel spekuliert und publiziert worden – im Schwulen Museum ist er aktuell nicht mehr als kontroverses Exponat zu bestaunen. Aber der alte Katalog steht noch in der SMU-Bibliothek und ist dort der Allgemeinheit zugänglich.
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