«Ihr werdet alle in der Hölle schmoren»: Familiendrama «Uncle Frank»
Nach «Six Feet Under» und «True Blood» meldet sich Alan Ball mit einem schwulen Coming-of-Age-Film zurück, der die extreme Religiosität in den US-Südstaaten in Beziehung setzt zu der in arabischen Ländern. Und fragt: Wie lässt sich die Ausgrenzung von LGBTIQ im Namen Gottes überwinden?
Regisseur und Drehbuchautor Alan Ball ist so etwas wie der intellektuelle Gegenpol zu Tausendsassa Ryan Murphy. Er hat mit seinen grossen Serienhits «Six Feet Under» und «True Blood» LGBTIQ-Meilensteine der TV-Geschichte kreiert, die mit starken Charakteren und verblüffender Nuancierung glänzten, statt mit routinierter Oberflächenpolitur. Nun meldet sich Ball mit dem Road Movie «Uncle Frank» zurück, der das altbekannte Thema «Coming-out» neu unter die Lupe nimmt.
Der Film ging im Januar 2020 beim US-amerikanischen Sundance Film Festival in Premiere und wurde kurz darauf von Amazon Studios für den Vertrieb erworben. Da seither viele Kinos wegen Corona geschlossen blieben, hat Amazon den Film nun – zum Familienfest Thanksgiving in den USA – auf Prime veröffentlicht. Allerdings ohne ihn gross zu bewerben oder für Prime-Abonnenten besonders hervorzuheben. Man muss also etwas danach suchen. Doch das lohnt.
Nicht, weil dies ein «grosser» Film wäre, der einen mit seinen Leidenschaften überrumpeln würde wie zum Beispiel «Brokeback Mountain», «A Single Man» oder «God’s Own Country». Nein, «Uncle Frank» ist ein leiser Film, der sich auf den ersten Blick einem ziemlich überholten Thema widmet: Ein schwuler Mann aus den ultra-konservativen und religiös-bigotten South Carolina wird in den 1960er-Jahren von seiner Familie wie ein Aussätziger behandelt, speziell von seinem Vater «Daddy Mac» (Stephen Root). Niemand spricht darüber, was genau los ist, ausser dass dieser Frank (Paul Bettany, bekannt aus «The Avengers», «Iron Man» und «Star Wars») «anders» ist. Er flüchtet nach New York und wird dort Literaturprofessor an der Universität. Zu grösseren Familienfesten kehrt er jedoch zurück und erduldet die vergifteten Bemerkungen seines Vaters, aber auch die seiner bibeltreuen «Aunt Butch» (Lois Smith aus «True Blood»), die immer wissen will, ob er denn schon eine «Verlobte» habe – in seinem fortgeschrittenen Alter!
«Du kannst die Person sein, die du sein möchtest» Mit einem dieser Familientreffen beginnt der Film und zeigt, wie Franks Nichte Beth (Sophia Lillis, bekannt aus dem Horrorfilm «Es») als Einzige zu ihm hält – von Franks Mutter «Mammaw Bledsoe» (Margo Martindale) einmal abgesehen. Beth ist zu dem Zeitpunkt 14 und bekommt von ihrem Onkel den Rat: «Du kannst die Person sein, die du sein möchtest. Du entscheidest. Lasse dir von niemandem etwas anderes einreden!» Schnitt. Vier Jahre später kommt Beth mit einem Stipendium nach New York und fängt an zu studieren, an der Uni, wo ihr Onkel unterrichtet. Und plötzlich erweitert sich das Familientableau. Wir schreiben das Jahr 1973, sind also schon etwas fortgeschritten in der sich entfaltenden Gay-Liberation-Bewegung.
Wie sich herausstellt, lebt Onkel Frank nicht allein, sondern seit zehn Jahren zusammen mit Walid Nadeem, genannt «Wally» (Peter Macdissi), und mit der lesbischen Mitbewohnerin Charlotte (Britt Rentschler), die in «Notfällen» abwechselnd als Partnerin der Männer auftreten muss, um Familien bei Besuchen zu «beruhigen». Wie sich ebenfalls herausstellt hat Frank ein Alkohol- und Drogenproblem, ganz nach dem älteren Narrativ, das man aus «The Boys in the Band» kennt, dem Theaterstück von 1968: «Zeige mir einen glücklichen Schwulen, und ich zeige dir eine Leiche.» Alkohol als Schmerzmittel und Überlebenshilfe, hier wie dort. So weit, so historisch bekannt.
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Die andere Familie in Saudi Arabien Wally wiederum stammt aus Saudi Arabien, auch er hat eine streng religiöse Familie, die ihn ständig fragt, wann er heiraten und Kinder produzieren werde. Er sehnt sich danach, eine Familie zu haben, die ihn akzeptiert und hofft, dass Frank ihn endlich seiner Familie in South Carolina vorstellen werde. Was für Frank ausgeschlossen ist, Gay-Liberation und «Sei wer du sein möchtest»-Ratschläge hin oder her. Beth wiederum hat mit der Homosexualität ihres Onkels gar kein Problem und wird von Wally unmittelbar ins Herz geschlossen. Wenn der nicht damit beschäftigt ist, Franks versteckte Alkoholvorräte aufzuspüren und zu entsorgen.
Dann stirbt plötzlich Daddy Mac und Frank soll mit Beth zur Beerdigung nachhause kommen. Die beiden machen sich also mit dem Auto auf den Weg nach Süden, Wally folgt ihnen heimlich. Und nun deckt der Film – wie die Häutung einer Zwiebel – nach und nach die Hintergründe auf. Nämlich die Frage, was zwischen Daddy Mac und Frank vorgefallen ist, um diesen extremen Hass des Vaters auf seinen ältesten Sohn zu rechtfertigen. Und auch zu erklären, wie Frank zu der sich selbsthassenden «Schwuchtel» wurde, als die er sich zwischendurch bezeichnet.
[Achtung, Spoiler: Wer den Film unvoreingenommen sehen will, sollte nicht weiterlesen.]
Das Neue an «Uncle Frank» ist, dass der Film die altbekannte LGBTIQ-Geschichte auf einen Tennessee-Williams-artigen Höhepunkt zusteuern lässt und dann zeigt, wie man sich aus den Fesseln solch einer Situation befreien kann – indem Frank letztlich doch zu sich steht, vor allem aber, weil die Restfamilie im Jahr 1973 anders reagiert, als Frank dies von seinen Erfahrungen mit Daddy Mac erwartet hätte. Denn anders als Daddy Mac hat die Restfamilie die Sechziger hinter sich gelassen und spricht jetzt (leise) über Homosexualität, teils belustigend klischeehaft («Mein Friseur ist auch schwul»), teils auch darüber, welche bislang verschwiegenen LGBTIQ-Angehörige es in der Familienhistorie gab. Auch bei Daddy M.
Der «sehr, sehr, sehr gute Freund» des Vater In einem Interview mit der Zeitschrift The Advocate hat Alan Ball kürzlich erzählt, dass seine Mutter bei seinem eigenen Coming-out sagte: «Daran ist dein Vater schuld, ich glaube er war auch so.» Das habe Ball aufgerüttelt, denn sein Vater starb, als der Regisseur ein junger Mann war. Am nächsten Tag fuhr Ball mit seiner Mutter zu einer Verwandten nach North Dakota, wo sie ihm einen See zeigte und nebenbei bemerkte: «Da ist Sam Lassiter ertrunken!» Ball fragte, wer Sam Lassiter sei, und bekam die Antwort: «Er war ein sehr, sehr, sehr guter Freund deiner Vaters.»
Ball fand später heraus, dass sein damals 18-jähriger Vater die Leiche Sams mit dem Zug begleitete nach Asheville, North Carolina, zur Beerdigung. «Die Vorstellung, dass der Liebhaber eines jungen Mannes Selbstmord begeht, liess mich viele Jahre nicht mehr los», so Ball.
Diese Idee war dann der Ausgangspunkt für «Uncle Frank», wo dem typischen Pre-Stonewall-Schicksal Sam Lassiters ein Denkmal gesetzt wird. Als Erinnerung daran, dass die angeblich so «privilegierten» weissen schwulen Cis-Männer ihre eigene Geschichte abzuarbeiten haben. Der Film erinnert aber auch daran, dass viele der Freiheiten, die manche LGBTIQ heute als selbstverständlich hinnehmen, in diesen Nach-Stonewall-Jahren im Westen unter Tränen erkämpft werden mussten und dass Männer, wie in diesem Fall Onkel Frank, erst durch die Hölle und zurück gehen mussten, bevor sich etwas zum Positiven wendete.
Alan Balls Lebenspartner Peter Macdissi als Wally Auch neu an «Uncle Frank» ist die Parallelführung zweier Familienkonstellationen: der extrem-religiösen Familie Franks, die ihm immer wieder sagt «jemand wie du wird in der Hölle schmoren», und der Familie von Wally in Saudi Arabien, die ihn zwar mit Liebe-per-Telefon überschüttet, aber mit dem ständigen Fragen nach Ehefrau und Kindern klar macht, was sie von ihm erwartet. Und für alle, denen nicht klar ist, was passiert, wenn man solche Erwartungen nicht erfüllt, sagt Wally zu Beth: «Sie werden geköpft und gehängt oder sonst wie hingerichtet. Ich konnte dort nicht bleiben, ich wusste, ich würde da nie jemanden finden, den ich lieben könnte.»
«Sie werden geköpft und gehängt oder sonst wie hingerichtet. Ich konnte dort nicht bleiben»
Diese Rolle des Wally wird von Balls Lebenspartner Peter Macdissi gespielt, der ursprünglich aus dem Libanon kommt. Er tauchte 2011 kurz in «True Blood» auf, dann gab ihm Ball 2018 eine Hauptrolle in seiner HBO-Serie «Here and Now», die sich ebenfalls an einer komplizierten Familienkonstellation abarbeitet – mit einem dezenten Fantasy-Touch und einer grandiosen Besetzung, zu der u. a. Holly Hunter und Tim Robbins zählen. Auch bei «Here and Now» geht es um Eltern und Kinder, um einen Universitätsprofessor, um Homosexualität. Aber das Ganze spielt in der Gegenwart von 2018, also nicht «nostalgisch» in den 1960er- und 70er-Jahren. Leider wurde diese ebenfalls sehr leise erzählte Serie – die alle grossen Themen rund um Identitätspolitik, Rassismus, Religionszugehörigkeit, Klimawandel usw. anreisst – nach einer einzigen Staffel wieder abgesetzt. Mangelndes Zuschauer*inneninteresse. Man kann sie heute bei Amazon kaufen bzw. leihen. Was unbedingt zu empfehlen ist.
Islam-Debatte und «ewige Verdammnis» Wie man auf «Uncle Frank» reagiert, hängt stark damit zusammen, aus welcher eigenen Lebenssituation man den Film betrachtet. Der Hollywood Reporter spricht von einem «hot mess» und meint, dass «virtue-signaling» des Drehbuchs sei «ham-handedly executed», also billig und unbeholfen.
Diesem Urteil kann ich mich nicht anschliessen, vielleicht weil ich selbst als Jahrgang 1967 so vieles von dem, was in «Uncle Frank» erzählt wird, miterlebt habe, inklusive der Befreiung und des neue Familienmiteinanders, wenn man mit seinen Angehörigen einen Neuanfang wagt, wo vielleicht nicht wie bei «Uncle Frank» von einem Moment zu anderem alles besser wird … aber natürlich muss ein Spielfilm verkürzen. (Alan Ball ist übrigens Jahrgang 1957.)
Die Erinnerung daran, dass die Religiosität von weissen US-Amerikanern genauso ein Problem ist, wie in vielen «traditionellen» muslimischen Familien, lädt zu interessanten Vergleichen ein. Auch was die Frage betrifft, wie man diese Situation überwinden könnte. Denn während Frank 1973 einen Neuanfang hinbekommt, darf man bezweifeln, dass sich bei Wally bis 2020 viel verändert hat.
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Die Bloggerin Sama Maani schrieb einen Tag vor Veröffentlichung von «Uncle Frank»: «Dass Muslime heute in den liberalen Demokratien des Westens weit mehr Religionsfreiheit geniessen als in vielen islamisch geprägten Ländern (man denke an die Unterdrückung von Schiiten im wahhabitischen Saudi Arabien oder der Aleviten in der Türkei) ist nicht etwa das Resultat eines interreligiösen Friedensvertrags zwischen dem Christentum und dem Islam, sondern der Emanzipation der Gesellschaft von Religion. Eine Emanzipation, die undenkbar wäre, ohne die radikale Religionskritik der Aufklärer des 18. Jahrhunderts. Dass falsche Begriffe wie ‹Islamophobie› Religionskritik – somit jene Emanzipation der Gesellschaft von Religion – hintertreiben, auf die auch die Religionsfreiheit der Muslime in westlichen Demokratien gründet, ist eine der seltsamen Paradoxien der aktuellen Islam-Debatte.»
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Frank sagt am Ende des Films zu seiner gottesfürchtigen Tante Butch, nachdem sie ihm erklärt hat, dass jetzt zwar «viele so wie du» überall herumkröchen, aber dass ihnen allen klar sein sollte, dass «ewige Verdammnis» auf sie warte: «Ich bin sicher, dass diese Äusserung das beste ist, wozu du fähig bist!»
Manchmal muss mal wohl einen Anfang machen und dann warten, bis verkrustete Ideologien aussterben, wie Daddy Mac und irgendwann seine Schwester Butch. Aber ohne einen schmerzlichen Startschuss passiert nichts – schon gar kein Happy End mit Onkeln/Tanten, Nichten/Neffen, Müttern/Vätern und neuen Schwiegersöhnen/töchtern.
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