Mein Coming-out: «Ich hatte Angst, weniger wert zu sein»

Reto aus Thun erzählt seine Geschichte

Symbolbild: Alexander Grey, Pexels
Symbolbild: Alexander Grey, Pexels

Soll man sich heute noch outen müssen? In unserem Coming-out-Special antworten neun Menschen – dies ist die Geschichte von Reto.

«Ich wünschte, ich hätte mich früher geoutet. Vielleicht kann ich mit dieser Geschichte einigen Jüngeren Mut machen, es früher zu tun», sagt Reto gegenüber MANNSCHAFT. Er erzählt seine Geschichte in eigenen Worten:

«Ich kam 1982 zur Welt in einem kleinen Schweizer Dorf in der Nähe von Thun. Meine Kindheit war unbeschwert. Ich spielte Fussball, war viel in der Natur und hatte eine coole Schulzeit mit tollen Freunden. Mit 16 begannen wir, um die Häuser zu ziehen. Plötzlich merkte ich, dass ich die gleichaltrigen Mädchen zwar nett fand, aber mehr halt nicht.

Die Zeit verging – nach und nach waren alle meine Freunde in Beziehungen. Ich hingegen blieb allein. Manchmal fragten sie mich, wieso ich keine Freundin habe. Ich wich dann sehr schnell aus.

Ich wusste genau, dass ich schwul bin, aber ich wollte es mir nicht eingestehen, wofür ich mich ständig geschämt habe, wieso auch immer.

Mit 28 ging ich das erste Mal an eine Gayparty. Von da an wusste ich sicher, dass ich schwul bin. In dieser Zeit outete ich mich das erste Mal bei einer Freundin.

Ich habe mich immer wie ‹zwischen den Welten› gefühlt: Hier mein Hetero-Umfeld, das Schwulsein scheisse findet, und dort die Homowelt, in der ich gerne Anschluss gefunden hätte, auch um einen Partner zu finden. Für mich gab es nur ‹entweder oder›, aber kein ‹es geht beides zusammen›.



Bei meinen Eltern und Geschwistern habe ich mich mit 38 Jahren geoutet. Einigen Arbeitskolleg*innen habe ich es auch erzählt. Ich denke, die meisten wissen es, aber halt nicht offiziell von mir.

Ich habe seit dem Coming-out bei meiner Familie vor allem eines: weniger Angst. Ich lebte in ständiger Angst. Was, wenn mich jemand auf einer Gayparty sieht? Was, wenn es jemand meiner Familie erzählt? Angst davor, nicht mehr als der Gleiche angeschaut zu werden und weniger wert zu sein.

Ich verhalte mich sehr zurückhaltend gegenüber anderen Personen – nach dem Motto «bis hier und nicht weiter».

Ich denke oft, dass ich weniger wert bin als mein Gegenüber. Diese Gedanken wurden letztes Jahr verstärkt, als ich im Geschäft einige unangenehme Situationen erlebte, in denen ich von Anderen fast geoutet wurde.

Ich frage mich, ob man sich wirklich noch outen muss. Ich denke, geoutet geht es einem besser. Man kann sich freier bewegen und denkt nicht dauernd darüber nach, was man sagt oder tut.» Hier gibt’s weitere Porträts zum «Coming-out-Day 2022».

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