«Ich habe mich geschämt» – Entsetzen über FIFA-Präsident Infantino

Auch die Schweiz will an der «One World»-Binde festhalten

FIFA-Präsident Gianni Infantino in Katar (Foto: Tom Weller/dpa)
FIFA-Präsident Gianni Infantino in Katar (Foto: Tom Weller/dpa)

FIFA-Präsident Gianni Infantino setzt das grosse Thema vor der WM. Sein einstündiges Plädoyer für den Gastgeber Katar geht um die Welt. Der Westen kommt besonders schlecht weg. Die Kritik ist massiv.

Jan Mies, dpa

Mit hochgekrempelten Ärmeln und breitem Grinsen erschien Gianni Infantino auf der grossen Bühne. «Fühlt ihr euch gut?«, rief der FIFA-Präsident ohne Sakko am Samstagabend in die feiernde Menge des Fanfests unter den Abendhimmel von Doha. Dabei wirkte er noch ein Stück weit entrückter als wenige Stunden zuvor während seiner weltweit aufsehenerregenden, einstündigen Rechtfertigung im Pressezentrum der höchst umstrittenen Fussball-WM in Katar, die ihn selbst irritierend viel hatte fühlen lassen.

Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert.

«Heute fühle ich mich als Katarer, heute fühle ich mich als Araber, heute fühle ich mich afrikanisch. Heute fühle ich mich homosexuell. Heute fühle ich mich behindert, heute fühle ich mich als Arbeitsmigrant», sagte Infantino einleitend – und setzte damit die Tonalität einer Grundsatzrede gegen eine «Doppelmoral» aus westlicher Richtung gegen Katar und für den WM-Gastgeber, den er praktisch von allen Vorwürfen freisprach (MANNSCHAFT berichtete). Kritisiert werden solle bitte er: «Hier bin ich, ihr könnt mich kreuzigen, dafür bin ich hier.»

Der Schweizer führte eine «explosive Tirade gegen westliche Kritik», schrieb der US-Sender CNN. Auf seine Äusserungen über die angeblich schon sehr deutlich verbesserten Lebensbedingungen von Arbeitsmigranten gab es noch am Samstag eine deutliche Reaktion von Amnesty International. Deren Leiter der Abteilung für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, Steve Cockburn sagte: «Indem Gianni Infantino berechtigte Kritik an der Menschenrechtslage beiseite schiebt, weist er den enormen Preis zurück, den Arbeitsmigranten zahlen mussten, um sein Flaggschiff-Turnier zu ermöglichen – sowie die Verantwortung der FIFA dafür.»

Am Sonntag, wenige Stunden vor dem Eröffnungsspiel zwischen Katar und Ecuador, traf sich die Elite der Nationalverbände im überaus edlen Fairmont Hotel. Wieder stand Infantino im Mittelpunkt. Kopfschütteln war noch die gnädigste Reaktion auf die Pressekonferenz gewesen, wie ein hochrangiger Funktionär der Europäischen Fussball-Union UEFA in der hell ausgeleuchteten Lobby der Deutschen Presse-Agentur sagte. Infantino hatte, auch wenn er in einigen Punkten im Grundsatz valide Argumente anführte, das getan, was er am Westen kritisiert hatte: spalten.

Am Sonntagabend bei der WM-Eröffnungsfeier sass der FIFA-Präsident zwischen Katars Staatsoberhaupt Tamim bin Hamad Al Thani und dem saudischen Kronprinzen Mohammed bin Salman, dem schwere Menschenrechtsverstösse vorgeworfen werden. «Lasst uns den Fussball feiern, weil Fussball verbindet die Welt», sagte der Schweizer. Das Stadion jubelte.

Ich fand es beschämend. Das ist der Mann, der das Bild des Fussballs prägt und der eigentlich zeigen könnte, was Fussball bewirken kann.

«Als ich den FIFA-Präsidenten gestern gesehen habe, war ich schockiert. Und ich habe mich in dem Moment auch geschämt, ein Teil dieser Veranstaltung zu sein», sagte Dänemarks Sportdirektor Peter Möller der Deutschen Presse-Agentur. «Ich fand es beschämend. Das ist der Mann, der das Bild des Fussballs prägt und der eigentlich zeigen könnte, was Fussball bewirken kann.»

Immer wieder hatte der 52 Jahre alte Infantino sein Sprechtempo gewechselt, kleine Pausen eingebaut. Einmal nahm er den vor ihm auf dem Podium im grossen Saal des Qatar National Convention Centre gestellten Fussball in die Hand. «Das ist die einzige Waffe, die wir haben», sagte er. Seine Botschaften zu Menschenrechten, Arbeitsmigranten, der Freiheit für die LGBTIQ-Community wirkten lange zurechtgelegt. «Die Welt ist gespalten genug, eine WM ist eine WM, das ist kein Krieg», sagte Infantino. «Wir müssen uns kritisch im Spiegel betrachten.»

Katar war in den vergangenen Jahren insbesondere aus westlichen Nationen stark kritisiert worden. Für Infantino, der seine eigene Geschichte als Sohn einer Gastarbeiterfamilie in der Schweiz dazu in Zusammenhang setzte, auf eine «heuchlerische» Art und Weise. «Ich denke, was wir Europäer in den vergangenen 3000 Jahren weltweit gemacht haben, da sollten wir uns die nächsten 3000 Jahre entschuldigen, bevor wir anfangen, moralische Ratschläge an andere zu verteilen», sagte der 52-Jährige. Es sei «traurig», diese «Doppelmoral» erleben zu müssen.

Wie noch nie in den vergangenen Monaten stellte sich der FIFA-Präsident an die Seite der Regierung des Landes, in dem er längst einen Nebenwohnsitz unterhält. Die Rede seines Vorgängers Joseph Blatter vor der WM 2014 in Brasilien, in der dieser von Fussball auf anderen Planeten fabuliert hatte, war nichts dagegen.

Homosexualität sei in Katar zwar verboten, aber das sei in europäischen Ländern auch lange so gewesen, argumentierte Infantino und verwies auf einen laufenden Entwicklungsprozess. Er habe die klare Zusicherung bekommen, dass «jeder und jede, alle» zur WM in Katar willkommen seien. Einer der lokalen WM-Botschafter hatte zuletzt in einer ZDF-Dokumentation Schwulsein als «geistigen Schaden» bezeichnet (MANNSCHAFT berichtete). Das sei nicht «die Haltung des Landes», sagte Infantino, ohne konkret auf die Äusserung einzugehen.

Der FIFA-Präsident berichtete kurz von persönlichen Anfeindungen, sein Sprecher, der frühere britische Sky-Journalist Bryan Swanson, sprang ihm am Ende der Pressekonferenz zur Seite. «Es gab viel Kritik auch der LGBTQ-Gemeinschaft. Ich sitze hier als schwuler Mann und wir haben diese Garantie erhalten», sagte der 42-Jährige. Die FIFA kümmere sich um jeden. «Ich habe einige homosexuelle Kollegen.»

Eine klare Aussage, ob die Kapitäne der WM-Teilnehmer die «One Love»-Armbinde in den für die LGBTQ-Community symbolträchtigen Regenbogenfarben tragen dürften, vermied Infantino. Die FIFA sei etwas «Universales, und wir müssen Themen finden, mit denen sich jeder identifizieren kann», sagte er.

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Der Schweizerische Fussballverband gehört zu jenen Nationen, die sich die «One Love»-Binde ausgedacht haben. Kapitän Granit Xhaka hat sie beim Testspiel gegen Ghana schon getragen.

Am Sonntagabend liess der Schweizerische Fussballverband durch Mediendirektor Adrian Arnold erklären, man werde an der Binde festhalten. Auch der Deutsche Fussballbund (DFB) bekennt sich unverändert zur «One World»-Botschaft, ebenso wie Dänemark (MANNSCHAFT berichtete).

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