Schwule Liebe ist gar nicht so einfach zu erklären

Um das Phänomen Homosexualität ranken sich zahlreiche Erklärungsversuche

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Immer wieder will die Forschung Homosexualität erklären. Wissenschafter*innen aus Massachusetts fanden zuletzt heraus: Es gibt kein einzelnes «Schwulen-Gen», das unser Begehren steuert. Ein Blick auf ausgewählte Studien und Theorien.

«Wer, wie, was? Wieso, weshalb, warum? Wer nicht fragt, bleibt dumm», heisst es im Eröffnungslied der beliebten Kindersendung «Sesamstrasse». Tatsächlich scheint uns Menschen ein unstillbarer Wissensdrang mit in die Wiege gelegt worden zu sein. Denn egal, um welche Themenbereiche es sich auch handelt, wir können nicht aufhören, uns die Welt um uns herum erklären zu wollen. Kein Wunder also, dass auch das Phänomen der Homosexualität immer wieder Gegenstand von Studien und theoretischen Überlegungen ist.

Darf man das überhaupt? Einige Interessengruppen innerhalb der LGBTIQ-Bewegung lehnen eine Ursachenforschung im Kontext der Homosexualität ab, da sie befürchten, diese könnte zu Stigmatisierungen, Diskriminierungen oder Schädigungen einzelner Personengruppen führen. Man denke da an resultierende Geburtenkontrollen, Konversionstherapien oder vermeintlich medizinische Interventionen, deren Ziel eine Modifikation der sexuellen Orientierung ist. Teilweise werden in diesem Zusammenhang sogar Vergleiche zum Nationalsozialismus bemüht. Einer Zeit, in der Homosexuelle mitunter grausamen Experimenten ausgesetzt wurden, um deren – wie es hiess – «widernatürliches Wesen» zu ergründen.

Ausgehend von der Tatsache, dass die moderne Wissenschaft jedoch ethischen Grundsätzen verpflichtet ist, kann man besagtem Forschungsbereich vielleicht aber auch etwas Positives abgewinnen. Immerhin haben einige Erkenntnisse dazu geführt, dass Homosexualität in vielen Ländern entkriminalisiert und entpathologisiert wurde. Nichtsdestotrotz sind Leser angehalten, die Aussagen im vorliegenden Beitrag kritisch zu hinterfragen und keinesfalls als unumstössliche Wahrheiten hinzunehmen.

Definitionssache Eins der grössten Probleme, mit dem sich die Homosexualitätsforschung wieder und wieder auseinandersetzen muss, ist die Begriffsklärung als solche. Bis heute gibt es keine einheitliche Definition, was Homosexualität ist, wo sie anfängt und wo sie aufhört. Bedeutet ein einzelner Gedanke, als Mann Sex mit einem Mann haben zu wollen, schon, dass man schwul ist, oder braucht es dafür andauernde Fantasien, sexuelle Handlungen beziehungsweise den Geschlechtsakt inklusive Penetration? Welche Rolle spielen individuelle Empfindungen und Überzeugungen? Studien zeigen, dass die Übergänge zwischen Hetero-, Bi- und Homosexualität fliessend sind.

Während einige Menschen sich selbst als homosexuell bezeichnen, obwohl sie nie Sex mit einem Geschlechtsgenossen hatten, kann es vorkommen, dass sich andere trotz mehrfachen gleichgeschlechtlichen Sexualkontakten am ehesten der Gruppe der Heterosexuellen zuordnen würden. Die Ausrichtung des sexuellen Verhaltens mag, in Wechselwirkung mit erotischem und romantischem Begehren, zwar einen Indikator für die sexuelle Präferenz eines Menschen darstellen, nur tut sie das eben nicht zwangsweise. Hinzu kommt, dass homosexuelle Tendenzen während der Pubertät zum typischen Entwicklungsprozess vieler Jugendlicher gehören, unabhängig von ihrer späteren sexuellen Orientierung. Und auch Beobachtungen wie die der situationsbezogenen Homosexualität bei Insassen in Gefängnissen deuten an, dass von allzu dogmatischen Definitionsversuchen abzuraten ist.

Zahlen und wackelige Fakten Da nicht geklärt werden kann, wie Homosexualität überhaupt zu definieren ist, erstaunt es auch nicht, dass Angaben darüber, wie hoch der Anteil der Homosexuellen an der Gesamtbevölkerung ist, ebenfalls schwanken. Ein Beispiel: Laut einer Umfrage von Dalia Research mit zirka 12 000 Teilnehmenden bildet Deutschland den Spitzenreiter in Europa. Rund 7,4 % der Deutschen identifizieren sich als LGBTIQ (Stand 2016). Andere Quellen gehen – etwas grober gefasst – von Werten zwischen 3 und 10 % aus.

Der berühmte Kinsey-Report hingegen hielt bereits im Jahre 1948 fest, dass rund 37 % der männlichen US-Bevölkerung mindestens ein homosexuelles Erlebnis berichten konnten, das bis zum Orgasmus geführt habe. Weitere 13 % fühlten sich vom eigenen Geschlecht erotisch angesprochen. Die generelle Schwierigkeit bei der Erfassung von statistischen Kennwerten ist die Vertrauenswürdigkeit der Angaben der Befragten, da normative Erwartungen die Daten stark verfälschen können. Zudem muss bedacht werden, dass auch der historische Kontext und die Akzeptanz gegenüber Homosexualität innerhalb einer Stichprobe das Antwortverhalten beeinflussen.

Frühe Erklärungsversuche Schon die alten Griechen beschäftigten sich mit der Frage, weshalb manche Männer dem eigenen Geschlecht zugewandt sind. Sie machten Verstopfungen innerhalb der Samenleiter dafür verantwortlich und sahen in der Stimulation des Anus eine Möglichkeit, dem «Bedürfnis nach Entladung mittels Reibung» dennoch nachkommen zu können. Der deutsche Jurist Karl Ulrichs ging hingegen davon aus, dass schwule Männer eine weibliche Seele in sich tragen würden, die nicht zu ihrem Körper passe. Er war damit einer der ersten, die Schwulsein nicht als Krankheit, sondern als eine angeborene Besonderheit klassifizierten. Obwohl sein Gedanke den Kern der Sache nicht wirklich traf, nutzen wir heutzutage eine ähnliche Argumentation, um Transgeschlechtlichkeit oder bestimmte Ausprägungen der Intersexualität zu erklären.

Hätte die Evolution nicht dafür sorgen müssen, dass Homosexuelle aussterben?

Als Begründer der Psychoanalyse äusserte sich auch der Österreicher Sigmund Freud zum Thema Homosexualität. In seinen «Drei Abhandlungen über die Sexualtheorie» (1905) beschreibt er, dass alle Menschen von Geburt an eine bisexuelle Neigung aufwiesen und dass erst die Rolle der Interaktion zwischen Vater und Sohn in der frühen Kindheit über die weitere sexuelle Ausrichtung entscheide. Ein distanziertes Verhältnis führe laut Freud mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Homosexualität als eine innig vertraute Bindung.

Darwin und die Evolution Um den Namen Charles Darwin kommt man bei der Betrachtung der Thematik ebenfalls nicht herum. Der britische Naturforscher gab den Anstoss für eine Wissenschaftsdisziplin, die noch immer Gültigkeit hat. Im Fokus der von ihm und seinen Kollegen propagierten Evolutionstheorie steht die sexuelle Fortpflanzung als zentraler Motor des Lebens. Genau hier wird es nun aber knifflig. Denn wie lässt sich Homosexualität in diesem Zusammenhang erklären? Immerhin sind homosexuelle Paare ohne die Hilfe moderner Techniken nicht in der Lage, gemeinsam Nachwuchs zu zeugen. Hätten Selektionsmechanismen nicht dafür sorgen müssen, dass sie im Laufe der Zeit aussterben?

Vielleicht! Und trotzdem finden wir Homosexualität bei vielen Spezies, nicht nur beim Menschen. Zeitgenössischere Vertreter*innen der Evolutionstheorie führen vorrangig ein Hauptargument dafür an. Sofern Homosexualität genetisch determiniert, also in den Genen festgeschrieben, sei, so läge der evolutionäre Nutzen darin, dass mithilfe dieser die inklusive Fitness einer Art gesteigert werde. Sprich, dass homosexuelle Individuen sich ebenfalls um die Nachkommen ihrer nächsten Verwandten kümmern und somit deren Überleben zusätzlich sichern könnten.

Die Rolle der Gene Ausgehend von Beobachtungen, dass Homosexualität in einigen Familien häufiger auftritt als in anderen, schlossen Forscher in den Achtzigerjahren die Möglichkeit einer erblichen Komponente in ihre Überlegungen zur Erklärung des Phänomens mit ein. Grossangelegte Untersuchungen an genetisch Verwandten stützen diese Grundidee bis heute. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, liefert die Erforschung der DNA dabei relevante Hinweise. Die Vorstellung aber, dass ein einziges Gen dafür verantwortlich ist, ob ein Mensch homo- oder heterosexuell werde, konnte sich nicht halten. Zu diesem Schluss kam auch die jüngste Studie, die Forscher*innen von Harvard und dem Massachusetts Institute of Technology Ende August im Fachmagazin Science veröffentlichten. Demnach sind Gene nur bis zu 25 % für die sexuelle Orientierung verantwortlich.

Wahrscheinlicher ist die Theorie der sogenannten epigenetischen Vererbung. Diese wurde unter anderem 2012 von William Rice postuliert. Demnach komme es vor, dass eine Mutter ihre heterosexuell gepolte Orientierung an männliche Föten weitergebe, was dann in Wechselwirkung mit verschiedenen Umweltfaktoren dazu führe, dass diese ebenfalls Männer als Sexualpartner präferierten. Eine Schlüsselfunktion käme in diesem Zusammenhang der Fehlfunktion biochemischer Kontrollsysteme des Erbguts zu, die eigentlich dafür zuständig sind, die mütterliche Erbanlage auszuschalten, sofern es sich um männlichen und nicht weiblichen Nachwuchs handelt. Zwar betont Rice, dass seine Hypothese noch rein spekulativer Natur sei, doch scheine diese recht plausibel.

Hormongesteuert Neben genetischen Ursachen werden auch andere vorgeburtliche Faktoren untersucht, die Homosexualität erklären könnten. Besonderes Augenmerk legen Wissenschaftler*innen auf die Hormone Cortisol, umgangssprachlich gern auch als Stresshormon bezeichnet, und Progesteron. Letzteres sorgt unter anderem dafür, dass sich der Embryo während der Schwangerschaft in der Gebärmutter einnisten kann.

Zu hohe Spiegel beider Hormone stehen in Verdacht, die neuronale Entwicklung des heranwachsenden Kindes zu beeinflussen, was sich wiederum auch auf dessen spätere Geschlechtspräferenz auswirken könnte. Inwiefern dies der Fall ist, ist allerdings ungeklärt. Fest steht hingegen, dass Thesen, die davon ausgehen, schwule Männer hätten einen niedrigeren Testosteronspiegel als ihre heterosexuellen Geschlechtsgenossen oder würden mehr Östrogen produzieren, in das Reich der Mythen und Sagen gehören.

Gibt es ein schwules Gehirn? Schaut man sich die Gehirne ausgewachsener schwuler Männer an, sei ein interessanter Befund aus dem Jahre 1978 erwähnt. Roger Gorski fand heraus, dass einige Hirnzellen eher denen von Frauen glichen und sich von denen heterosexueller Geschlechtsgenossen unterschieden. Die Gebiete, in denen besagte Zellgruppen verortet sind, werden mit der Erzeugung von Sexualverhalten assoziiert. Auch Ivanka Savic und Per Lindström vom weltbekannten Karolinska-Institut in Stockholm fanden innerhalb ihrer Forschungen Auffälligkeiten in spezifischen kortikalen Bereichen. Diese zeigten, abhängig davon, ob es sich um Gehirne hetero- oder homosexueller Männer handelte, Unterschiede in Grösse und Form. Wer nun aber meint, man habe hier die ultimative Erklärung für die Ursache von Homosexualität gefunden, irrt gewaltig, kommt uns doch die bekannte Henne-Ei-Frage in die Quere. Folglich lässt sich nicht genau klären, welcher Faktor welchen bedingt. Also, ob eine spezifische Hirnanatomie Homosexualität begünstigt, oder ob homosexuelles Verhalten das Gehirn in seiner Struktur verändert.

Spannend ist ebenfalls, dass in seltenen Fällen Betroffene ihre sexuelle Orientierung nach einem Schlaganfall veränderten, was ein weiteres Indiz dafür sein könnte, dass bestimmte Gehirnareale an der Ausprägung der Sexualpräferenz beteiligt sind.

Weiterführende Gedanken Wenngleich sich die Wissenschaft noch immer schwertut, allgemein gültige Einflussfaktoren auf die Ausprägung homosexueller Neigungen zu benennen, ist man sich zumindest in einer Sache scheinbar einig: Ob jemand schwul ist oder nicht, hängt nicht von dessen Sozialisierung oder Erziehung ab. Ein Argument, das hitzigen Diskussionen bezüglich der Eignung homosexueller Eltern, Kinder zu erziehen, endgültig den Garaus machen sollte.

Darüber hinaus bleibt uns die Forschung aber auch Antworten schuldig. Zum Beispiel, wie sich erklären lässt, dass manche Frauen lesbisch sind. Die meisten Ansätze und Theorien lassen sich nämlich nur auf schwule Männer anwenden. Neben diesem häufig angebrachten Kritikpunkt kommt noch ein anderer, wesentlich ernsterer Aspekt zu tragen. Befunde wie die von Lawrence Mayer und Paul McHugh (2016) zeigen, dass Menschen, die sich als homosexuell oder bisexuell bezeichnen, in der Vergangenheit signifikant häufiger Opfer sexuellen Missbrauchs gewesen sind als jene, die sich als heterosexuell identifizieren. Wie lässt sich dies begründen? In einer unserer kommenden Ausgaben werden wir uns diesem Thema ausführlicher widmen.

Zieht man nun abschliessend ein Fazit, dann bleiben die Fragen wieso, weshalb, warum im Fall der Ursachen für Homosexualität bis auf Weiteres ungeklärt. Denn obwohl erste Untersuchungen spannende Theorien und Denkanstösse hervorgebracht haben, können diese allesamt strikten wissenschaftlichen Überprüfungen nicht standhalten. Viel wichtiger, als Unterschiede zu betonen, scheint am Ende doch zu sein, auf die Gemeinsamkeiten zwischen Homo-, Hetero- und Bisexuellen zu pochen. Schliesslich lassen sich daraus deutlich wichtigere Konsequenzen für ein friedliches, respektvolles Zusammenleben ableiten, als aus der reinen Tatsache, in welche Richtung unsere sexuelle Orientierung ausschlägt.

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