«Geruch des Todes» in Westminster: Boris Johnson in schwerster Krise
Ein Parteifreund soll zwei Männer im betrunkenen Zustand begrapscht haben
Zwei Minister weg, mehrere Abgeordnete in offener Rebellion – und nun auch noch ein schwieriger Termin im Parlament vor der Brust: Die schlechten Nachrichten für den britischen Premierminister reissen nicht ab. Doch Johnson ist Johnson. Er kämpft.
Von Benedikt von Imhoff, dpa
Die Konservative Partei des britischen Premierministers Boris Johnson ist nach den Rücktritten zweier wichtiger Minister in Aufruhr. Bei den Tories herrsche «offener Krieg», kommentierte der Sender Sky News in der Nacht zum Mittwoch. Die BBC zitierte einen anonymen Parlamentarier, der sogar den «Geruch des Todes» im Londoner Parlamentsbezirk Westminster vernommen haben will. «Konservative Abgeordnete haben endgültig die Geduld mit ihrem Anführer verloren, der für die Wähler immer schneller zu einer verachtenswerten Figur wird», sagte der Politologe Mark Garnett von der Universität Lancaster der Deutschen Presse-Agentur in London.
Finanzminister Rishi Sunak, der lange als möglicher Nachfolger Johnsons galt, und Gesundheitsminister Sajid Javid betonten in ihren Rücktrittsschreiben, sie hätten das Vertrauen in den Premier verloren. Und auch mehrere Abgeordnete legten Regierungsämter nieder – dabei handelt sich zwar nicht um entscheidende Posten, aber das Signal ist verheerend, wie Analysten betonten. Vor allem der Rücktritt von Jonathan Gullis, der bisher als ultra-loyaler Anhänger des Premiers galt, zeige, dass die Zeichen auf Sturm stünden.
Der wohl schlimmste Tag seiner Amtszeit könnte für Johnson bloss ein Auftakt zu mehr gewesen sein. Denn am Mittwoch muss sich der Premier mittags traditionell den Fragen der Abgeordneten im Unterhaus stellen – und am Nachmittag dem Liaison Committee, einem Parlamentsausschuss. Dabei überbieten sich die Mitglieder oft mit unangenehmen Fragen, sie «grillen» den Premier. Ein Thema auf der Tagesordnung: Integrität.
Hier schliesst sich für Johnson der Kreis. Denn diese Integrität sprechen ihm immer mehr seiner Parteifreunde ab. Der Premier habe die Tories lächerlich gemacht und heruntergewirtschaftet – so lässt sich die Kritik der immer zahlreicher werdenden Parteirebellen zusammenfassen. Sie könne unter den aktuellen Umständen nicht mehr für die Regierung arbeiten, erklärte die Abgeordnete Nicola Richards zu ihrem Rücktritt als Büroleiterin (Parliamentary Private Secretary) des Verkehrsministers. «Der Fokus wird durch schlechtes Urteilsvermögen verzerrt, mit dem ich nicht in Verbindung gebracht werden will.»
Als letzter Tropfen erwies sich der jüngste Skandal um Johnsons Parteifreund Chris Pincher. Dabei geht es darum, ob der Premier von Vorwürfen gegen Pincher wegen sexueller Belästigung wusste, als er ihn im Februar in ein wichtiges Fraktionsamt hievte; Pincher soll zwei Männer im betrunkenen Zustand begrapscht haben. Ja, musste Johnson schliesslich einräumen. Er entschuldigte sich – doch die Rücktrittswelle konnte er damit nicht aufhalten. Aus der Partei schlägt ihm sogar Hohn entgegen. «Ich kann nicht glauben, dass er von einem Sexskandal zu Fall gebracht wird, in den er nicht selbst verwickelt ist», zitierte die Zeitschrift New Statesman einen Tory. Der Premier soll mehrere aussereheliche Affären gehabt haben.
Doch Johnson wäre nicht Johnson, wenn er klein beigeben würde. Schnell machte der 58-Jährige klar, dass er kämpfen werde. Innerhalb weniger Stunden ernannte der Regierungschef zwei Getreue zu Nachfolgern der zurückgetretenen Minister: Stabschef Steve Barclay wird Gesundheitsminister, Bildungsminister Nadhim Zahawi wechselt ins wichtige Finanzministerium und wird wiederum von seiner Staatssekretärin Michelle Donelan ersetzt.
Johnson ist für seinen politischen Überlebenswillen bekannt. Er hat bereits mehrere handfeste Skandale überstanden, zuletzt die «Partygate»-Affäre um illegale Lockdown-Feiern im Regierungssitz in der Downing Street. Selbst eine Geldstrafe, die ihn zum ersten amtierenden Premierminister machte, der erwiesenermassen das Gesetz brach, liess Johnson nicht stürzen.
«Es ist ein bisschen wie der Tod von Rasputin», sagte der Tory-Abgeordnete Andrew Mitchell der BBC mit Verweis auf den legendären russischen Zarenberater, der mehrere Mordversuche überlebt haben soll. «Er wurde vergiftet, auf ihn wurde eingestochen, geschossen, sein Körper wurde in einen eiskalten Fluss geworfen – und er ist immer noch am Leben.» Ein anderer namentlich nicht genannter Tory sagte der BBC, der «Boris-Kult» dürfe nicht unterschätzt werden. Der hemdsärmelige Premierminister gilt vielen Konservativen als einziger Kandidat, der Wahlen gewinnen kann. Er könne sich selbst eine dritte Amtszeit in den 2030er Jahren vorstellen, sagte Johnson selbst – dabei hat er noch nicht mal die erste geschafft.
Doch im Gegensatz zu früheren Skandalen ist die Stimmung deutlich grimmiger. «Ich fürchte, es ist vorbei», sagte Mitchell. Andere verglichen die Situation mit einem Autounfall in Zeitlupe. Eine echte Alternative bietet sich allerdings derzeit nicht, auch deshalb sieht Politologe Garnett einen langwierigen Machtkampf auf die Partei zukommen. Trete Johnson jetzt zurück, inmitten einer schweren Wirtschaftskrise und angesichts drängender Fragen zu seiner persönlichen Integrität, werde er als einer der schlechtesten Regierungschefs der Geschichte gelten, sagte der Experte. «Das macht es sehr unwahrscheinlich, dass er zurücktritt. Seine Partei wird ihn aus der Downing Street herauszerren müssen.»
Johnson stand zuvor in der Kritik wegen seines Schlingerkurses beim Thema Verbot von «Homoheilung» (MANNSCHAFT berichtete).
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