Frédéric Martel: «Zürich ist keine coole, aber eine sehr heisse Stadt!»
Unter dem Titel «Fiertés et préjugés» sind Martels gesammelte LGBTIQ-Schriften erschienen
Der französische Soziologe Frédéric Martel wurde als Journalist und Bestseller-Autor international bekannt. Er analysiert seit Jahrzehnten die Entwicklung der LGBTIQ-Szene.
Wir sprachen mit dem 55-jährigen Professor der ZHdK Universität Zürich über die Sexyness der Schweiz und mangelnde Toleranz innerhalb der queeren Community.
Herr Martel, Sie haben es geschafft mit «Sodom: Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan» einen echten Bestseller zu landen – mit schwulem Sex und Orgien in Herzen der Macht der katholischen Kirche. Wie schwer war es, nach einem solchen Erfolg ein neues Buch anzufangen? Kann man solch eine Geschichte toppen? (lacht) Halt, Halt, Halt! Mein «Sodom»-Buch handelt nicht von Orgien und schwulem Sex im Vatikan! Es ist ein Buch über Doppelleben, kompliziertes Verhalten und Homophobie. Der Titel ist vielleicht etwas provokativ, ebenso das Thema. Aber das Buch ist – so leid mir das tut – sehr ernsthaft! Danach habe ich noch kein wirklich neues Buch in Angriff genommen. Stattdessen habe ich jetzt eine Sammlung all meiner bisherigen LGBTIQ-Texte auf Französisch veröffentlicht. Und daraus ist ein sehr, sehr dickes Buch geworden mit dem Titel «Fiertés et préjugés», also «Stolz und Vorurteile». Untertitel: «La révolution gay».
Sie publizieren seit den 1990ern. Haben Sie seither einen Wandel auf dem LGBTIQ-Buchmarkt bemerkt? Als ich mein erstes Buch zu LGBTIQ-Themen veröffentlichte, war das gleichzeitig mein erstes Buch überhaupt – ich war damals gerade mal 25 Jahre alt. Homosexualität galt immer noch als «Problemthema», zumindest in Frankreich. Wir hatten noch keine eingetragene Partnerschaft, keine Ehe für alle, auch sonst keinerlei Rechte. Ich war der Präsident der Schwulen Studentenvereinigung in Frankreich, der Kampf war schwierig und fragil. Seither sind wir von einer Bestrafung von Homosexualität zu einer Bestrafung von Homophobie gekommen. Alles ist anders geworden.
Sie unterrichten an verschiedenen Universitäten, von Zürich bis Harvard. Hat sich die akademische Welt auch verändert in Bezug auf LGBTIQ-Themen? Ich habe meine Dissertation am Harvard-Campus geschrieben, aber ich habe dort nie unterrichtet. Dafür habe ich an vielen anderen Hochschulen gelehrt, u.a. an Sciences Po Paris; und jetzt bin ich Professor für Creative Economies an der Zürcher Hochschule der Künste. Ja, die Situation an Universitäten hat sich in Bezug auf LGBTIQ auch verändert. Sogenannte Gay & Lesbian Studies haben sich etabliert, und die Toleranz hat enorm zugenommen.
Als ich jung war hätte ich mir nie träumen lassen, dass wir mal so offen über all diese Themen werden sprechen können. Heute scheint mir der nächste Schritt zu sein, eine innere Toleranz für unsere «Minderheit» zu stärken. Dass man uns als Schwule und Lesben hört, ist wichtig. Aber wir müssen auch akzeptieren – und tolerieren – dass es ikonoklastische Ideen innerhalb unserer «Minderheit» gibt. Ich bin für Debatte und gegen jede Form von Reglementierung, Einschüchterungen, McCarthyismus. Und da schliesse ich jenen McCarthyismus mit ein, der manchmal innerhalb von Minderheiten existiert (MANNSCHAFT berichtete).
Als ich jung war hätte ich mir nie träumen lassen, dass wir mal so offen über all diese Themen werden sprechen können
«Fiertés et Préjugés» behandelt verschiedenste Themen, inklusive Aids. Können Sie uns ein bisschen mehr zum Inhalt verraten? Ich habe in den letzten 25 Jahren viel über die Schwulenfrage geschrieben. Aber einige meiner Texte waren schwer zu finden. Deshalb wollte ich sie alle in einem leicht zugänglichen Buch zusammenführen. Daher sind in «Stolz und Vorurteile» auch meine früheren Bücher «The Pink and the Black» und «Global Gay» enthalten, beide wurden ins Englische übersetzt, aber nicht ins Deutsche. Ich habe im neuen Buch auch eine lange Antwort auf «Sodom» veröffentlicht.
In einem Vierteljahrhundert habe ich mich selbst in Bezug auf all diese Themen weiterentwickelt – so wie alle anderen auch. Es war Zeit, diese Ideen zu sammeln, die Einschätzungen von damals zu evaluieren und zu versuchen, eine erste Bestandsaufnahme vorzunehmen. Ich habe auch zwei lange kritische Texte zu zwei französischen Autoren hinzugefügt, zu Didier Eribon und Édouard Louis. Ich bin der erste, der auf die intellektuelle Sackgasse hinweist, für die sie stehen. Es ist eine klassische Debatte zwischen der radikalen Linken (manche nennen sie die «woke» Linke), die von Eribon und Louis in meinen Augen repräsentiert wird, und einer mehr universellen und offenen Linie, die ich versuche zu vertreten. Und diese Debatte kann weitergehen!
Es gibt auch Essays zu Leuten wie Jean Genet und Tony Kushner. Nach welchen Kriterien haben Sie die Leute ausgewählt, denen Sie Texte widmen? So ist das Leben: Man arbeitet nicht mit einem festen Plan! Wir lesen etwas, wir schreiben zu den Autoren, die wir mögen (Kushner, Genet, Rimbaud) oder nicht mögen (Eribon); wir lieben oder hassen. Ich finde es wichtig, dass wir uns die Freiheit für solche Kritik erhalten.
Darf ich Sie speziell zu Louis etwas fragen? Er ist ein superattraktiver weisser junger schwuler Mann, der es geschafft hat, seine Arbeiterklassekindheit hinter sich zu lassen und in die Welt gutbezahlter Intellektueller aufzusteigen, mit Lehraufträgen, Buchveröffentlichungen, Theaterversionen seiner Texte (MANNSCHAFT berichtete). Man könnte das als typische schwule Erfolgsgeschichte sehen, nach dem Motto «Survival of the Prettiest» (um den Titel von Nancy Etcoffs Buch zu benutzen). Aber er hat internationale Aufmerksamkeit erlangt, weil er sich als das ultimative «Opfer» dargestellt hat, von sozialen Verhältnissen, Vergewaltigung usw. Ist diese Opferrolle der einzige Weg, um als weisser schwuler cis Mann heute Karriere in queeren Kreisen und im «woken» Universitätsbetrieb zu machen? Ist Louis‘ Selbstvermarktung als Opfer ein cleverer Schachzug? Ich mochte sein erstes Buch wirklich sehr. Aber seinen sogenannten «Roman» mit dem Titel «Im Herzen der Gewalt» (MANNSCHAFT berichtete) finde ich extrem schwierig. Wie Sie vielleicht wissen, hat er einen Gerichtsprozess zu diesem Fall verloren.
Und die Diskrepanz zwischen Realität und Fiktion ärgert mich, auch die Tatsache, dass ein junger namentlich nicht genannter Araber ins Gefängnis kam wegen der Anschuldigungen von Louis. Er wurde vom Gericht jedoch von allen Vorwürfen sexueller Gewalt freigesprochen. Das ist wirklich problematisch für Louis. Ansonsten: Ich habe mir erlaubt in «Stolz und Vorurteile» eine lange Analyse seines Werks zu veröffentlichen, die komplex und detailliert ist. Ich empfehle Ihnen, das zu lesen in Bezug auf weitere Antworten auf Ihre Frage.
Was ist denn Ihre Meinung zum aktuellen Stand von queerem Aktivismus und den teils harschen Kontroversen zu Inklusion/Exklusion von «alten weissen cis Männern», auch innerhalb der LGBTIQ-Community, eine Kritik die u.a. oft von trans Aktivist*innen kommt, die verlangen, dass weisse schwule cis Männer zur Seite rücken sollten, um Platz zu schaffen für andere bislang stärker marginalisierte Gruppen. Kann es da Frieden zwischen den Gruppierungen geben? Können Sie sich auch gegenseitig helfen, statt bis aufs Blut zu bekriegen? In mehreren meiner Bücher habe ich nicht nur für «kulturelle Diversität» plädiert (die heutzutage allgemein üblich und akzeptiert ist), sondern auch für etwas, was ich «Diversität der Diversität» nenne. Dabei geht es um unsere Fähigkeit, innerhalb der LGBTQ-Community tolerant zueinander zu sein und unsere Toleranz – um es banal auszudrücken – in einer toleranten Art und Weise zu leben.
Natürlich müssen wir akzeptieren, dass es Themen gibt, die uns gegeneinander positionieren. Wir sind alle zusammen in Bezug auf LGBTIQ-Grundsatzfragen. Aber wir sind gleichzeitig gegeneinander als «L», «G», «B», «T», «I» oder «Q».
Um nur ein Beispiel zu nehmen: Ich erkenne an, dass jede*r das Recht hat, sein bzw. ihr Geschlecht zu wechseln, nach einer Phase der Reflektion und sicherlich, wenn ein gewisses Mindestalter überschritten ist (MANNSCHAFT berichtete). Aber ich erkenne nicht unbedingt an, dass mir das Recht vorenthalten wird, mich als Mann zu definieren.
Ich bin schwul und hatte nie einen Konflikt damit, ein Mann zu sein. Ich bin keine Frau! Die Kritik, dass Schwule weder Mann noch Frau seien, stammt von homophoben Psychiatern aus dem 19. Jahrhundert. Und zu solchen Argumenten nun zurückzukehren, scheint mir ein schwerwiegender Rückschritt. Aber das ist nur ein Beispiel.
Ich hatte nie einen Konflikt damit, ein Mann zu sein
Aus Ihrer Perspektive: Was ist das wichtigste, was derzeit in Bezug auf LGBTIQ in Frankreich passiert, das Menschen in der Schweiz und im deutschsprachigen Raum wissen sollten? Vielleicht, dass wir aktuell mehr als vier offen schwule Minister in der Regierung haben! (lacht)
Sie arbeiten jetzt an der Zürcher Hochschule der Künste. Was sind Ihre Eindrücke von der Schweizer LGBTIQ-Szene? Ich fahre jeden Monat mehrmals zwischen Paris und Zürich hin und her. Und ja, es gibt in Zürich eine spannende Gay Scene, zum Beispiel einen dekadenten Club am Mittwoch am Limmat-Fluss. Mir ist oft aufgefallen, dass je reicher und (wie man sagt) «bourgeoiser» eine Stadt ist, desto heimlicher aber extremer ist die Untergrundszene. Zürich ist keine coole Stadt, aber eine sehr heisse Stadt!
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