Fletcher: «Es gibt nichts Radikaleres, als du selbst zu sein»

Die queere US-Sängerin spielt mehrere Konzerte in Deutschland, Österreich und der Schweiz

Sich offen queer zu zeigen war 2017 für Fletcher noch beängstigend. (Bild: Sebastian Faena)
Sich offen queer zu zeigen war 2017 für Fletcher noch beängstigend. (Bild: Sebastian Faena)

Mit «In Search of the Antidote» veröffentlicht Fletcher am 22. März ihr wohl persönlichstes Album. Im Videocall mit MANNSCHAFT spricht sie über Liebeskummer, Identität und das Herausfordernde ihres Egos.

Fletcher, du hast deinen Nachnamen zum Künstlernamen gemacht. Wie kam es dazu? Mein Nachname war schon in meiner Jugend mein Rufname, da ich Sport gemacht habe, und meine Varsity-Jacke und andere Sachen meinen Nachnamen trugen. Meine Familie nennt mich Cari, aber enge Freund*innen nennen mich Fletch oder Fletcher.

Thematisch geht es in deinem neuen Album «In Search of the Antidote» um Identität, Unsicherheiten, Ego und Selbstverwirklichung. Das Musikvideo zum Song «Eras» zeigt dich in Paris, wie du das Ende einer Beziehung betrauerst. Was bewirkt eine Trennung für die Identität einer Person? Eine Trennung stellt deine Identität in jeder Hinsicht in Frage. Wir bauen Verbindungen auf mit Menschen, Orten, Träumen und Visionen, und wenn diese dir weggenommen oder verändert werden, gibt es eine Trauer, die uns herausfordert. Wer bin ich ohne diese Person, ohne unseren gemeinsamen Traum? Ich habe versucht, meine Identität ohne diese Aspekte zu verstehen. Im letzten Jahr bin ich innerlich so stark gewachsen wie wohl seit meinen Zwanzigern nicht mehr.

Im Songtext zu «Eras of Us» hört man deinen Herzschmerz heraus. Wie viel von deiner realen Lebenserfahrung steckt in diesem Lied? Jedes Lied, das ich geschrieben habe, kommt aus einem Ort der Wahrheit, auch wenn es dramatisiert ist. Die Musik erlaubt es mir, die tiefsten Wahrheiten meiner Emotionen und Erfahrungen zu erforschen. Bei allen meinen Songs, nicht nur bei «Eras of Us», ist es wie ein Samen, der gepflanzt und dann gegossen wird. Ich liebe es, in den Kern eines Gefühls aus der Vergangenheit einzutauchen und es neu zu erleben.

Ein weiteres Thema deines Albums sind Unsicherheiten. Kannst du eine deiner Unsicherheiten nennen und wie du sie überwunden hast? In meiner Jugend habe ich mit psychischen Problemen, Zwangsstörungen und Angstzuständen gekämpft. Als Kind hatte ich Angst davor, «zu viel» für jemanden zu sein. Diese Angst habe ich als Erwachsene in meine Beziehungen projiziert. Je mehr ich meine Gefühlsintensität akzeptiere und als Art Superkraft verstehe, desto einfacher wird es für mich, mich selbst zu lieben. Daran arbeite ich immer noch.



Ein weiteres Thema ist «Ego». Was hast du über dein Ego gelernt, während du dein neues Album gemacht hast? Im Song «Doing Better» stelle ich mich meinem Ego und den Arten, wie ich in der Vergangenheit arrogant gehandelt habe – beispielsweise in der Zeit, als ich «Becky’s So Hot» veröffentlicht hatte und es mir egal war, wie frech oder übermütig ich war. Das Anerkennen und Erforschen dieser Aspekte von mir selbst war sehr heilend für mich.

Und noch das letzte Thema: Selbstverwirklichung. Welches Lied auf deinem neuen Album verkörpert dies am meisten? «The Antidote» erforscht Liebe in all ihren Formen und die Bedeutung, aus einem Ort der Liebe zu leben. Sei das durch eine Beziehung, sei das durch eine spirituelle Praxis oder durch die Natur. Die Welt hat einen dringenden Bedarf nach Menschen, die aus Liebe und aus ihren Herzen handeln.

Was ist dein Lieblingslied auf dem neuen Album? Das ändert sich ständig, wie wenn du eine Mutter nach ihrem Lieblingskind fragst. Manchmal ist es «Crush», manchmal «Pretending» oder «Two Things Can Be True». Die Bandbreite des Albums spiegelt die Vielfalt menschlicher Emotionen wider, die ich erlebe.

Im Vergleich zu deinen früheren Platten ist «In Search of the Antidote» deutlich rockiger unterwegs. Wie kam es dazu? Ich habe mich für die Produktion des Albums von meinen Live-Auftritten mit einer kompletten Band inspirieren lassen. Ich wollte die Energie und Authentizität meiner Konzerte einfangen und im Produktionsprozess einbringen. Ausserdem wollte ich meinen Wurzeln Rechnung tragen, ich komme aus der gleichen Stadt wie Bruce Springsteen. Der Neunzigerjahre-Rock hat mich als Künstlerin und mein Songwriting massgeblich beeinflusst.

Die queere Vertretung in der Musikindustrie ist sichtbarer geworden. Ist es für dich einfacher geworden, Queerness in deiner Arbeit zu zeigen? 2017 habe ich erstmals diesen Teil von mir geteilt und zu dieser Zeit war das sehr beängstigend für mich. Wenn ich heute sehe, wie viele offen queere Künstler*innen es gibt und wie sie ihre Wahrheiten ausdrücken, finde ich das wunderschön. Ich wünschte, ich könnte meinem früheren Ich mitteilen, wie frei ich mich mit meiner Sexualität und meiner Fluidität fühle und meine Geschichten und Perspektiven teilen kann. Ich befinde mich an einem schönen Ort der Selbstakzeptanz und Freiheit.

Du bist einzigartig – kein anderer Mensch ist wie so wie du, wie verdammt geil ist das denn?

Sind die Ziele queerer Repräsentation in der Musikindustrie erreicht? Es gibt so viele Vorurteile auf dieser Welt, so viel Hass für Menschen, die nichts weiteres als grundlegende Menschenrechte und ein sicheres Leben wollen. Das heisst nein, wir sind noch nicht dort, wie wir sein sollten. Es gibt nichts Radikaleres, als dich selbst zu sein in einer Welt, die aus Selbsthass Kapital schlägt. Du bist einzigartig – kein anderer Mensch ist wie so wie du, wie verdammt geil ist das denn?

Du hast «Arcade» als Duett mit Duncan Laurence aufgenommen. Was hältst du als Amerikanerin von der europäischen Besessenheit mit dem Eurovision Song Contest? Ich finde es unglaublich faszinierend. Die USA sind hingegen besessen von Talkshows und ich durfte den Song gemeinsam mit Duncan bei Ellen DeGeneres performen. Mit einem anderen queeren Künstler von einem anderen Teil der Welt zusammenzuarbeiten und die Reichweite des Songs zu erleben, war eine besonders schöne Erfahrung.

Mit der Erscheinung deines Albums hast du einen vollen Terminkalender. Unter anderem trittst du in Südamerika, Europa und Australien auf. Wie erholst du dich? Indem ich versuche, meinen Körper in der Gegenwart zu erden. Das tue ich mit Atemübungen, einer bewussten Wahrnehmung meiner Gefühle und gesunder Ernährung. Aus Tequila ist Kamillentee geworden (lacht). Ich versuche Konsistenz in meinen Alltag zu bringen, der von Zügen, Flugzeugen und Hotelzimmern in anderen Städten geprägt ist. Und ich achte auf die kleinen Dinge. Hier sind mein Amethyst (hält den rosa Stein in die Kamera) und mein Räucherstäbchen. Und, ganz wichtig: Mit meinen Liebsten facetimen.

«In Search of the Antidote» erscheint am 22. März.

Erlebe Fletcher live

07.04.2024 – Frankfurt 13.04.2024 – Hamburg 20.04.2024 – Berlin, Tempodrom 22.04.2024 – Wien 24.04.2024 – München 25.04.2024 – Zürich 27.04.2024 – Köln

Mehr: Von dramatisch bis albern – das sind die lesbischen Kino-Höhepunkte im März (MANNSCHAFT berichtete)

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