Fast wie CSD? Hunderttausende bei «Rave The Planet» in Berlin
Die wiederauferstandene Loveparade zog ein sehr diverses Publikum in den Tiergarten
Nach zwei Corona-Jahren feiert Berlin eine riesige Technoparty – fast wie bei der Loveparade in den 1990er-Jahren. Ganz ohne Misstöne geht es diesmal aber nicht.
Von Björn Graas und Verena Schmitt-Roschmann, dpa
Dröhnende Bässe, halbnackte tanzende Massen, dezente Regenbogensymbolik: Loveparade-Gründer Dr. Motte hat mit seinem neuen Techno-Spektakel «Rave The Planet» in Berlin am Samstag Hunderttausende zu einer ausgelassenen Feier auf die Strasse gebracht.
Die Polizei schätzte die Teilnehmer*innenzahl auf 200.000, die Veranstalter*innen sogar auf 400.000. Bis in den Abend zogen sie neben 18 Musikwagen mit rund 150 Künstler*innen durch die westliche Innenstadt und den Tiergarten bis zur Siegessäule. Mehr oder weniger die gleiche Route wie der CSD, der in Berlin am 23. Juli gefeiert wird (MANNSCHAFT berichtete über Vorfälle mit der Polizei im letzten Jahr).
Die Polizei zog am Sonntag eine gemischte Bilanz. Zwar beschrieb sie den Verlauf des Umzugs als «überwiegend störungsfrei». Am Ende sei es jedoch auf der Strasse des 17. Juni so voll geworden, dass es zu «Gefahrensituationen» kam. Sperren hätten das Nachrücken weiterer Menschen verhindert.
Sexuelle Belästigung, Drogen und Sachbeschädigung Die Polizei habe das Abstellen der Musik gefordert, was der Veranstalter aber nicht habe durchsetzen können. Dieser habe den Umzug dann um 21.20 Uhr beendet. Die Polizei meldete 35 Freiheitsbeschränkungen sowie 41 Ermittlungsverfahren, unter anderem wegen Körperverletzung, sexueller Belästigung, Drogen oder Sachbeschädigung.
Kritik gab es am Sonntag auch auf Twitter, weil Dr. Motte während der Parade ein Symbol der sogenannten Freedom Parade von «Querdenkern» hochhielt. Der DJ reagierte in einem Tweet: «Ich wusste das nicht. Ich entschuldige mich.»
Eine Sprecherin der Veranstaltung sagte auf Anfrage, es habe sich um eine Verwechslung gehandelt, die Dr. Motte «mega-peinlich» sei. «Motte ist kein Querdenker und hat nichts damit zu tun», sagte sie.
«Friede, Freude, Eierkuchen» Dr. Motte, mit bürgerlichem Namen Matthias Roeingh, war erstmals 1989 mit einigen Mitstreitern und einem Musiklaster unter dem Motto «Friede, Freude, Eierkuchen» über den Ku’damm gezogen. In den 1990er-Jahren entwickelte sich die Loveparade zum Magneten für Hunderttausende. Dann gab der Gründer die Marke ab. 2010 endete die völlig überfüllte Loveparade anderer Organisator*innen in Duisburg in einer Katastrophe: 21 Menschen starben, mehr als 500 wurden verletzt.
Die Neugründung habe mit der Ursprungsveranstaltung nichts zu tun, betonten die Veranstalter*innen. Doch der Geist der Loveparade schwebte mit, zumal Dr. Motte das Motto «Together again» ausgab. Wie früher war die neue Parade als politische Demonstration angemeldet – eigentlich nur für 25.000 Teilnehmer*innen. Die Polizei sicherte den Umzug mit bis zu 600 Beamt*innen.
Dr. Motte hielt zu Beginn eine kurze Rede mit politischen Forderungen. Er plädierte unter anderem für ein bedingungsloses Grundeinkommen für Künstler*innen, für die Aufnahme der Berliner Technokultur ins immaterielle UNESCO-Kulturerbe und gegen Tanzverbote an christlichen Feiertagen (MANNSCHAFT berichtete über die Utopie einer neuen säkularen Politik in Deutschland).
Der DJ betonte, die friedliche Feier richte sich gegen Krieg und Gewalt. Auch DJs aus der Ukraine nahmen teil. (MANNSCHAFT berichtete über LGBTIQ-Rechte in der Ukraine, jetzt wo das Land EU-Beitrittskandidat ist.)
Gigantische Geburtstagsfeier Für Dr. Motte war es aber auch eine gigantische Geburtstagsfeier: Der DJ wurde am Samstag 62 Jahre alt. Auch die Teilnehmer*innen schienen vor allem die ausgelassene Atmosphäre und das Tanzen zu geniessen. Darunter waren fast alle Altersklassen – viele über 40, aber auch viele Jüngere.
Vereinzelt liefen Leute mit Kinderwagen mit. Regenbogenobjekte gab’s ebenfalls überall zu sehen, da die Überschneidungsmengen zur LGBTIQ-Clubkultur gross sind. Der Müll wurde nach Angaben der Veranstalter am Sonntag in einer Sammelaktion mit Freiwilligen aus dem Tiergarten geklaubt.
Am Rande der Parade war auch der selbst ernannte Captain Future zu sehen, Symbolfigur von sogenannten Querdenkern beziehungsweise Querravern, also Kritiker*innen der staatlichen Massnahmen gegen die Corona-Pandemie. Ein Teilnehmer trug ein Schild mit dem Slogan «Nie wieder Lockdown». Doch schien es sich um eine kleine Gruppe zu handeln.
Die Sprecherin des Veranstalters sagte, Dr. Motte distanziere sich ausdrücklich von Querdenkern. «Er möchte die Gesellschaft zusammenführen.»
Homophobe Ausfälle der Vergangenheit Auf Twitter wurde jedoch daran erinnert, dass der DJ früher mehrfach mit Kommentaren Kritik auf sich gezogen hatte. 2012 war Strafbefehl gegen ihn erlassen worden, weil er in einem Streit mit Polizisten «Heil Hitler» gesagt haben soll. Kritisiert wurde er auch wegen Interview-Äusserungen über «Juden in aller Welt» und einer Rede über die «schwule Politik» des damals Regierenden Bürgermeisters Klaus Wowereit. (MANNSCHAFT berichtete über Wowereits Äusserungen zum Pride-Monat 2022, dass es nach wie vor viel Diskriminierung gegen LGBTIQ gibt.)
2014 veröffentlichte Dr. Motte eine Stellungnahme zu all diesen Vorwürfen und bat ebenfalls um Entschuldigung.
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