«Es gibt kein Recht auf den ESC-Vorentscheid»
Das neue Prozedere ist gebührenschonend und fernsehlogisch einleuchtend, so unser Kommentator
Für die Kür des deutschen Beitrags gibt es in diesem Jahr keinen ESC-Vorentscheid: Song und Interpret stehen schon seit Dezember fest – gewählt von Expert*innen-Jurys (MANNSCHAFT berichtete). Das Vorgehen des NDR stiess bei vielen Fans auf Kritik, ist aber sinnvoll und richtig, schreibt Jan Feddersen in seinem Samstagskommentar*. Feddersen ist seit 2005 u.a. für den NDR tätig und schreibt auf eurovision.de.
Die Reaktionen im Netz und ihren entsprechenden ESC-Foren waren mittelhysterisch – erst als der NDR als in der ARD verantwortlicher deutscher Sender für die Belange des Eurovision Song Contest monatelang gar keine Informationen zum ESC 2020 in Rotterdam durchsickern oder verlauten liess – und dann, in dieser Woche, erkenntlich wurde, dass der Sender jedenfalls keine Vorentscheidung ausrichten würde. Also keine Show mit mehreren Acts und einer Abstimmung am Ende, wer im Namen Deutschlands in die Niederlande delegiert wird.
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In Wahrheit handelt der NDR mit dem Verzicht auf eine Vorentscheidung finanziell gebührenschonend – eine Show im Hauptabendprogramm ist teuer – und fernsehlogisch einleuchtend: Keine Vorentscheidung seit 2001, bei der Michelle mit «Wer Liebe lebt» gewann, hatte wirklich Erfolg: kaum Zuschauerquote, nur selten echte Hits. Mit der Ausnahme des Hypes 2010 um die inzwischen sich vom ESC weitgehend distanzierende Lena Meyer-Landrut – aber ihre Vorrunden lief überwiegend via Pro7, dem Sender ihres Mentors Stefan Raab, das Finale in der ARD hatte ein Millionenpublikum. Schon im Jahr darauf, als Lena Meyer-Landrut als ESC-Kandidatin gesetzt war, nur ihr Lied ausgewählt werden musste, war das Interesse des Publikums, gemessen an echten Showkrachern, erbarmungswürdig.
Und in den vergangenen Jahren gab es Vorentscheidungen, bei denen Acts wie S!sters, Levina (MANNSCHAFT berichtete) oder Jamie-Lee gewannen: Das lockte doch niemanden mehr hinter den Öfen hervor, das war für die ARD und ihren Programmfluss fast abschreckend. Eine gewisse Ausnahme war vor zwei Jahren der Buxtehuder Michael Schulte, aber der war so viel besser als alle anderen, das war schon beim Casting vor der Vorentscheidung offenkundig – ich war dabei. Die Vorentscheidung, die er gewann, war pure Formsache und eigentlich überflüssig.
Eminem kassiert Spott und Kritik für Grindr-Meme
In Wahrheit sind Vorentscheidungen auch für die Musikindustrie gleichgültig unwichtig geworden: Stars werden inzwischen über digitale Social Media-Kanäle geboren (oder gar nicht erst weiter zur Welt gebracht), über YouTube, Instagram oder Facebook. Vorentscheidungen sind Old School, sehr alte bis älteste Schule. Früher, als ich Kind war, gab es die Deutschen Schlagerfestspiele, aus denen Popstars wie Gitte Haenning, Siw Malmkvist, Peggy March, Howard Carpendale oder Wencke Myhre hervorgingen – aber als ESC-Qualifikationsrunde dienten sie auch nur selten, weil die deutsche Musikindustrie ihre Schlagerfestspielsieger*innen nicht beim ESC als Verliererinnen verbrannt wissen wollte, denn deutsche Musik war damals (wie heute) weder in Welt noch in Europa ernsthaft konkurrenzfähig.
Den ESC-Vorentscheid braucht es nicht zwingend Der NDR macht aktuell, was er modern tun muss: Er heizt die Spannung via Social Media an; in einer Show Ende Februar wird der deutsche Act präsentiert, sogar mit Barbara Schöneberger. Man muss im Hinblick auf die ESC-Tage Mitte Mai in Rotterdam öffentliche Aufmerksamkeit erzielen. Und das geht heutzutage nicht mehr notwendigerweise über Fernsehshows, etwa Vorentscheidungen. Social Media, also Internet aus allen Rohren, reicht völlig.
Die Mobilisierung für das ESC-Finale am 16. Mai läuft längst – das deutsche Publikum muss ohnehin nicht für das Grand Final aus der Ahoj-Arena an der Maas gewonnen werden. Der ESC ist im europäischen Event- und TV-Kalender das wichtigste Entertainment-Format: Eine provinzielle Vorentscheidung ist gar nicht mehr nötig.
*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.
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