«Demnächst auf gayporn.com»? Sven Ratzke und 20th Century Songs

Der queere Sänger stellt in der Bar jeder Vernunft sein neues Programm vor

Der Sänger Sven Ratzke (Foto: Hanneke Wetzer)
Der Sänger Sven Ratzke (Foto: Hanneke Wetzer)

Der niederländisch-deutsche Entertainer und Sänger Sven Ratzke meldet sich nach Corona zurück mit einem neuen Programm: Letzte Woche präsentierte er in der intimen Bar jeder Vernunft in Berlin ein neues Programm, das aus Liedern aus dem 20. Jahrhundert besteht. Diese Woche werden die Aufführungen aufgezeichnet für ein Live-Album.

Das Programm enthält Lieder von Nina Hagen («der Göttin des Punk»), David Bowie, Prince und Eurythmics, aber auch Hildegard Knef («Ich bin zu müde um schlafen zu gehen»), Tom Waits, Barbara, Brel – und natürlich Kurt Weill. Dessen «Alabama Song» ist in der wilden Interpretation von Ratzke eines von vielen Highlights des Abends.

Ratzke spricht davon, dass wir aktuell in «finsteren Zeiten» leben würden, aber weitermachen müssten trotz Ukraine-Krise, Flüchtlingsströmen und Krieg. Für ihn seien gute Lieder wie Zeitmaschinen, die einen aus der brutalen Gegenwart in eine andere Welt transportieren. Das muss nicht zwingend Eskapismus sein, sondern kann auch als Überlebenshilfe gesehen werden.

Vielleicht sind die finsteren Zeiten auch der Grund, warum Ratzke mit dem neuen Programm weniger künstlerischen Wagemut demonstriert als früher, und «nur» ein Best-of-Programm vergangener Programme bietet. (MANNSCHAFT berichtete über sein Bowie-Programm.)

«Feier der Heterogenität» Beim Titel «20th Century Songs» hätte man ja annehmen können, dass Ratzke zu einem Überblick über 100 Jahre Popgeschichte ausholen würde. So ähnlich, wie das beispielsweise der queere US-Künstler Taylor Mack unlängst tat, mit einem spektakulären 24-Stunden-Konzert, bei dem er sich in verschiedenen Teilen jeweils einem Jahrzehnt US-amerikanischer Unterhaltungskultur widmete.

Taylor_Mac
Taylor_Mac

Macks Konzert hieß «A 24-Decade History of Popular Music» und enthielt 246 Lieder, die zwischen 1776 und 2016 entstanden waren. Das war für Mack und das Publikum ein Marathon, der weltweit Schlagzeilen machte. Das Programm wurde als «Feier der Heterogenität» sogar für den Pulitzer-Preis in der Sparte Theater nominiert. Es war ein XXL-formatiges LGBTIQ-Event und wurde 2919 zu den Berliner Festspielen eingeladen. Und auch in Berlin gefeiert.

«Kirschen in Nachbars Garten» Ratzke geht nicht wirklich zurück bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, das früheste, was man hört, ist das Brecht/Weill-Lied aus den 1920er-Jahren. Danach kommt – rein zeitlich – lange nichts, bis es mit den letzten Jahrzehnten des letzten Millenniums weitergeht.

Sven Ratzke
Sven Ratzke

Das ist schade, denn es gibt unendlich viele spannende Lieder aus der Zeit vorm Ersten Weltkrieg, denen Ratzke einen neuen Stempel hätte aufdrücken können, u. a. das «Hirschfeld-Lied» von Otto Reutter (MANNSCHAFT berichtete über Hirschfeld als Pionier der queeren Befreiungsbewegung) oder die «Kirschen in Nachbars Garten» von Victor Hollaender, Vater von Friedrich. Aber auch Lieder aus den 20ern fehlten, jenseits von Weill, aus der NS-Zeit gab es gar nichts zu hören, obwohl diese Titel einen wichtigen Aspekt der Populärkultur des 20. Jahrhunderts spiegeln. Wer sich für reiche Liedkultur in den ersten Jahrzehnten des letzten Jahrhunderts interessiert, dem sei Evelin Försters neues Buch «Die Perlen der Cleopatra: Notentitelblätter von 1894 bis 1937 als Spiegel der Gesellschaft» empfohlen, mit Abteilungen zur «modernen Frau» und zu sich wandelnden Männlichkeitsbildern.)

Die Perlen der Cleopatra
Die Perlen der Cleopatra

«Halten Sie etwa die Kamera auf meine tanzenden Eier?» Als Entertainer zeigte sich Ratzke in seinen Moderationen so unwiderstehlich und frech wie immer. Als ein Gast in der ersten Reihe ihn von unten mit dem Handy beim Singen filmte, sagte Ratzke: «Halten Sie etwa die Kamera auf meine tanzenden Eier? Nachher finde ich das bei gayporn.com wieder!» Der Gedanke schien ihn durchaus zu amüsieren, so dass er öfter darauf zurückkam.

Nach dem Auftakt letzte Woche gibt es diese Woche abermals Konzerte zwischen dem 16. und 19. März. Bei den abermaligen Auftritten in der Bar jeder Vernunft wird diese Woche auch ein neues Live-Album mitgeschnitten. Mit dabei sind die Musiker Jetse de Jong am Klavier, Haye Jellema am Schlagzeug und Florian Friedrich am Bass bzw. der Gitarre. Zusammen kreieren sie einen fabelhaften Sound.

Das Publikum tobte am Premierenabend und bekam etliche Zugaben, bis nach «Perfect Day» von Lou Reed Schluss war. Es ist zweifelsohne das perfekte Lied für finstere Zeiten wie diese.

Weitere Informationen gibt’s hier.

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