Alters- und Pflegeinstitutionen kaum auf ältere LGBTIQ vorbereitet
Queers im Alter sind in der Schweiz ein blinder Fleck
Zwischen 7 und 10% der Schweizer Bevölkerung identifiziert sich als LGBTIQ. Höchste Zeit also, dass sich Pflegeeinrichtungen mit Bedürfnissen, die ältere LGBTIQ haben, auseinandersetzen. Auch im Bereich HIV und AIDS ist noch viel zu tun.
In wissenschaftlichen Arbeiten in den Bereichen der Medizin und Sozialwissenschaften wird LGBTIQ zwar thematisiert. Was jedoch oft untergeht, ist der Bereich Alter und Altern. Da es zu diesem Themenbereich bisher keine empirischen Daten gab, hat die Fachgruppe Alter unter der Leitung von Max Krieg von Pink Cross, der Lesbenorganisation Schweiz (LOS) und dem Transgender Network Schweiz (TGNS) eine Studie in Auftrag gegeben. Ziel der geplanten Online-Umfrage war es, zu sehen ob und inwiefern die Pflegeeinrichtungen und Spitex-Organisationen auf diese Personengruppen vorbereitet sind und ob dem Thema in der Berufsausbildung Raum gegeben wird.
Vielfalt bedeutet eben auch Vielfalt der Generationen
Beauftragt mit der Durchführung waren die Fachhochschule St. Gallen, die Hochschule Luzern und die Berner Fachhochschule. Der Online-Fragebogen wurde an alle stationären Alters- und Pflegeeinrichtungen und Spitex-Organisationen in der Schweiz gesendet, sowie an die Berufsausbildungsinstitutionen im Bereich Pflege und Betreuung aus den drei Sprachregionen Tessin, Romandie und Deutschschweiz.
Die Ergebnisse der Studien sind ernüchternd. Der Begriff «LGBTIQ» war nur 18-50% der Befragten ein Begriff, die meisten kannten Transidentität, Intergeschlechtlichkeit aber die wenigsten. Mit LGBTIQ-Institutionen wie der LOS, der Aids-Hilfe Schweiz oder TGNS besteht in den seltensten Fällen Kontakt.Von den Spitex-Einrichtungen gaben 60 Prozent an, keine älteren LGBTIQ-Personen zu kennen. Das sei vor allem deshalb erstaunlich, weil Betreuer*innen der Spitex das Lebensumfeld der von ihnen betreuten Personen eigentlich vertraut sein sollte, meint Udo Rauchfleisch, Mitinitiator der Studie und emeritierter Professor für Klinische Psychologie gegenüber MANNSCHAFT.
«Es besteht eine Blindheit gegenüber der gesamten LGBTIQ-Community.» Zudem haben die Institutionen kaum Leitbilder und Verhaltenskodizes zur LGBTIQ- und HIV-oder Aids-Thematik. Bei der Spitex existieren laut den Ergebnissen keine entsprechenden Leitlinien, bei Pflegeeinrichtungen sind es 2%. Ausbildungseinrichtungen fallen hier mit einem Wert von 35% auf. In einigen Leitbildern sei zwar von «Vielfalt» oder «unterschiedlichen Lebensformen» die Rede, allerdings wird mit fünf bis neun Prozent nur selten konkret auf die LGBTIQ-Personengruppe Bezug genommen.
In der Pflegeausbildung könne laut Umfrage in der Grundausbildung aus Zeitgründen meistens nicht auf das Thema LGBTIQ eingegangen werden. Häufiger wird HIV und Aids behandelt, da es sich um ein medizinisches Thema handelt. Immerhin 40% der höheren Fachschulen und Universitäten nehmen sich dieser Themen an. Das Fehlen der LGBTIQ-Themen im Unterricht wird von Dozierenden als Lücke wahrgenommen. Etwa die Hälfte der Antwortenden zieht den Schluss, dass in der Pflegeausbildung demnach nicht genügend Kompetenzen in diesem Gebiet vermittelt werden.
Queers und Personen, die mit dem HI-Virus leben sind auf eine sogenannte kultursensible Pflege angewiesen. Das bedeutet beispielsweise, dass auf die biografischen Besonderheiten einer älteren LGBTIQ-Person Rücksicht genommen werden muss. «Ältere LGBTIQ hatten oft ein spätes Coming-out und mussten sich ihre Rechte erkämpfen», erklärt Rauchfleisch. Sie fürchten sich, wieder in eine Lage zu kommen, in der sie sich erklären müssen. Dazu kämen das Aufwachsen in einer hetero- und cisnormativen Welt, was zu Minderheitenstress und manchmal auch zu Verheimlichungsstress führt, so Rauchfleisch.
LGBTIQ brauchen also keine andere Pflege, sondern eine an ihre Bedürfnisse angepasste. Eine 2019 durchgeführte, nicht repräsentative Onlineumfrage befragte zusätzlich Angehörige der Community. Darin wurde der Nachholbedarf in der Alterspflege bestätigt. 78% der befragten Personen waren demnach der Ansicht, die Einrichtungen seien «nur mässig oder «gar nicht» auf LGBTIQ-Personen oder solche mit HIV-Erkrankung vorbereitet.
Mit der neuen MANNSCHAFT durch den Sommer
Pflegebedürftige Personen aus der Community gaben in der Umfrage an, sie würden nicht über ihre sexuelle Ausrichtung sprechen, da sie sich vor Diskriminierung fürchteten. Der Wunsch nach einem verbindlichen Leitbild, welches die Akzeptanz von LGBTIQ- und HIV-positiven Personen sicherstellt, sei zudem dringend. Dies wünschen sich etwa 80 Prozent der befragten Queers.
Erste Pläne für eine Verbesserung Als Konsequenz der Erhebungen plant die Fachgruppe Alter, Unterlagen zur Ausbildung zu erarbeiten. Zudem sollen sich Alters- und Pflegeeinrichtungen mit einem Leitbild oder gegebenenfalls mit einem Qualitätssiegel als LGBTIQ-freundlich positionieren können. Weiterbildungen in diesem Themenbereich gelten in der Schweiz sowie in Deutschland als freiwillig, sollten aber integraler Bestandteil der Ausbildung werden, so Rauchfleisch.
Die Studie von Pink Cross hatte eine Rücklaufquote von ungefähr 31%, was laut Rauschfleisch eine mittlere Quote ist. Interessant seien allerdings die Gründe, warum einige Institutionen nicht mitgemacht haben: Neben einigen, die «keine Zeit» für die Umfrage hatten, wurde auch «kein Interesse» am Thema genannt, das Thema sei «zu fremd», sie hätten auf dem Gebiet «keine Praxiserfahrung» oder seien eine religiöse Einrichtung. Die ausführlichen Ergebnisse können auf der Seite von Pink Cross heruntergeladen werden.
Dass die kultursensible Pflege für ältere LGBTIQ ein Bedürfnis ist, zeigt sich auch an der Arbeit des Zürcher Vereins queerAltern. Seit Jahren plant dieser, in Zürich Alterswohnungen für ältere Queers zu bauen. Nun soll das Projekt Realität werden. Bis 2025 entsteht im Quartier Albisrieden Lebensraum mit über 100 Wohnungen (MANNSCHAFT berichtete). Der Kontakt mit der Community sei für ältere LGBTIQ entscheidend, erklärt Rauchfleisch.
Sixpack? Straffe Haut? Schwules Altern als Kunstform
«Wenn Familienbeziehungen zerbrochen sind, wird die Familienfunktion ein Stück weit von Freunden übernommen». Die meisten hätten keine Kinder und manche auf Grund ihres Coming-outs auch keinen guten Kontakt zur Familie. Der Verein queerAltern und die geplanten Alterswohnungen bilden somit einen Safe Space für alternde LGBTIQ.
Vor eineinhalb Jahren gab es in Berlin die erste Verleihung des Qualitätssiegels Lebensort Vielfalt® – eine Auszeichnung, die Alten- und Pflegeeinrichtungen erhalten, die in struktureller, organisationspolitischer und personeller Hinsicht Voraussetzungen schaffen, sexuelle und geschlechtliche Minderheiten zu integrieren (MANNSCHAFT berichtete).
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