Das zweite Coming-out: Reden über Depressionen

Über seine psychische Krankheit zu reden kommt oftmals einem zweiten Coming-out gleich

(Symbolbild: AdobeStock)
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Wie ist es eigentlich, wenn man Depressionen hat? Unser Autor Remo Schraner nimmt uns mit zum Wendepunkt, als er entschied, seine Krankheit nicht mehr zu verheimlichen.

Text: Remo Schraner

Auf zittrigen Beinen stand ich in der Küche meiner Mainzer Mietwohnung. Es war der 1. Januar 2018. Gerade hatte ich meiner Vermieterin mitgeteilt, dass ich schon morgen und nicht wie geplant erst im März abreisen würde. Verwirrt, aber auch besorgt schaute sie mich an. Was denn passiert sei, fragte sie. «Gesundheitliche Probleme», antwortete ich.

Energie auf Kredit Kurz vor Silvester reisten mein Partner Marco und ich nach Mainz. Wir hatten beide eine Woche Ferien und wollten die Zeit gemeinsam verbringen. Ich würde drei Monate hier bleiben, um bei einem Fernsehsender zu arbeiten – Marco würde nach der Woche zurück in die Schweiz fahren.

Bereits Monate vor unserem Deutschlandaufenthalt merkte ich, wie gestresst ich war. An den Wochenenden schaffte ich es kaum noch zu entspannen oder einfach nur auszuschlafen. Da ich mich im Journalismusstudium befand und auch in meiner Freizeit einigen Verpflichtungen nachkam, erklärte ich mir den Stress so. Karrieremässig lief es ziemlich gut und ich sah keinen Anlass, etwas zu ändern. Also machte ich weiter; lebte, als bekäme ich meine Energie auf Kredit.

In Mainz angekommen, spürte ich, wie dieser latente Stress zu etwas Grösserem wurde. Es entstand eine nicht enden wollende Müdigkeit. Egal wie lange ich schlief, die Müdigkeit blieb. In den ersten zwei Tagen verliess ich das Bett kaum. Marco kaufte ein, kochte, aber essen musste er alleine. Ich ertrug die Zweisamkeit nicht mehr. Ich schämte mich für meinen Zustand – schliesslich wollten wir doch Mainz gemeinsam erkunden!

Depression Depressionen Coming-out
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Wie Depressionen das Leben verändern Mit sechzehn Jahren erhielt ich die Diagnose Depression zum ersten Mal. Damals trennten sich meine Eltern, ich wechselte an eine neue Schule, und meine Homosexualität versuchte ich so gut es ging zu verdrängen. Diese Ereignisse lösten Ängste, Stress und Unsicherheiten aus. Ich, der in meiner ganzen Schulkarriere erst eine Lateinprüfung geschwänzt hatte, machte nun regelmässig blau.

Mehrere Hundert unentschuldigte Absenzen sammelte ich das Semester über. Meine Eltern, Freunde und die Lehrpersonen machten sich Sorgen um mich. So begann ich eine Psychotherapie. Hier erhielt ich die Diagnose Depression. Mein Zustand besserte sich nicht. In der Hoffnung, etwas daran zu ändern, krempelte ich mein Leben um. Ich brach das Gymnasium ab und jobbte unter anderem am Theater als Regieassistent. Meine Seele schien wieder aufatmen zu können. Dank den Veränderungen und regelmässigen Gesprächstherapien verbesserte sich mein Gesundheitszustand allmählich. Antidepressiva wollte ich damals keine nehmen.

Meinen eigenen Weg zu gehen, tat mir gut. Von dieser Erfahrung beflügelt, ging ich zum ersten Mal eine Beziehung mit einem Mann ein. Jahrelang weigerte ich mich, mich als schwul zu outen. Warum sollte ich meine Sexualität erklären? Durch die damalige Beziehung spürte ich jedoch das Bedürfnis, mich meinen Eltern und engsten Freunden zu zeigen. So kam es zum Coming-out.

Ging es um meine Depression, sah ich das Ganze aber anders. Da war kein Bedürfnis, jemandem von meiner depressiven Seite zu erzählen, geschweige denn diese zu zeigen. Obwohl ich wusste, dass es eine psychische Krankheit ist, war ich der Meinung, dass ich die Depression selbst verschuldet hatte.

Ich müsse nur noch mehr Entspannungstechniken erlernen, noch mehr schlafen, noch mehr trinken, noch mehr Sport treiben und meinen inneren Schweinehund überwinden – dann würden die depressiven Stimmungen vergehen, dachte ich. Aber die Depression liess sich nicht wegjoggen. 

Im Nachhinein sehe ich in diesem Denken auch eines der grössten Stigmata, die die Depression hat: Überspitzt dargestellt, ist die Mehrheit unserer Gesellschaft (damals gehörte auch ich dazu) der Meinung, dass wir lediglich eine Vitaminbrausetablette einnehmen müssten und dann käme unser Alltag wieder in Ordnung. Und wer trotzdem noch gestresst oder schlecht gelaunt ist, ist selbst schuld. Logisch hatte ich damals keine Lust, jemandem zu offenbaren, dass ich zu dumm für eine Brausetablette bin.

«In diesem Zustand lasse ich dich nicht hier!» Zurück in Mainz. Da lag ich also im Bett und begriff, dass meine Depression nach elf Jahren latenter Anwesenheit wieder auf sich aufmerksam machte. Ich war angepisst und ekelte mich vor mir selbst. «Hallo Depression. Solange ich dich nicht akzeptiere, hast du keine Macht über mich. Also verschwinde!», lautete in etwa mein innerer Monolog. Deswegen fuhr die Depression wohl auch härtere Geschütze auf: Mir fiel das Reden zunehmend schwerer, da mir tausend Gedanken durch den Kopf rasten und ich keinen mehr festhalten konnte.

Marco, dessen Optimismus und innere Ruhe stark ausgeprägt sind, war es, der mich schliesslich vor die Wahl stellte: Entweder ich beweise mir und ihm, dass ich die Situation wieder in den Griff bekomme, oder ich gehe bereits mit ihm nach Hause. «In diesem Zustand lasse ich dich nicht hier», waren seine Worte. 

Diese Aussage löste einiges in mir aus. Der Druck, meine journalistische Karriere weiter voranzutreiben, schien zu verpuffen. Ich begann zu realisieren, dass ich nicht mehr im Stande war, meinen ursprünglichen Plan durchzusetzen. Langsam sah ich das Ausmass meiner Depression. 

Das zweite Coming-out An Neujahr kündigte ich meine Stelle beim Fernsehsender, bevor ich sie überhaupt antrat. Kurz darauf stand ich mit meiner Vermieterin in der Küche und teilte ihr mit, dass ich zurück in die Schweiz gehe.

«Was für ein gesundheitliches Problem ist es denn?», fragte sie mich zögerlich. «Depressionen», antwortete ich. Mein zweites Coming-out. Anders als bei meinem ersten plante ich dieses nicht. Es kam ganz natürlich. Zum ersten Mal suchte ich nicht nach einer Ausrede, sondern sagte einfach die Wahrheit. Jahrelang fürchtete ich mich vor diesem Moment. Wie würde mein Gegenüber reagieren? Würde mich die Person verurteilen? Doch meine Vermieterin ha!e Verständnis, zeigte Mitgefühl. Ich war überrascht.

Dann kam die Frage auf: Wie kommen wir wieder nach Hause? Klar war, dass ich nicht mehr in der Lage war, mehr als drei Stunden mit der Bahn zu fahren. Mit Marcos Unterstützung rief ich meinem Vater an. Ich erklärte ihm die Situation und fragte ihn, ob er uns abholen könne. «Das ist kein Problem für mich, schnell nach Mainz zu fahren», war seine Antwort. Ich war erleichtert und gleichzeitig beschämt, dass ich mit 27 Jahren auf meinen Vater angewiesen war. Einen Tag später waren wir wieder in der Schweiz.

Inzwischen war die Scham einer grossen Dankbarkeit gewichen. Diese liebevollen Menschen, Marco, mein Vater, die Vermieterin, waren da, als ich nicht mehr für mich selbst sorgen konnte.

Vorurteile müssen dem Wissen weichen Zurück in der Schweiz ging es Schlag auf Schlag. Da ich vor Mainz schon eine Gesprächstherapie besuchte, konnte ich ziemlich rasch mit der Einnahme eines Antidepressivums beginnen. Früher hatte ich Angst, dass die Medikamente meine Persönlichkeit verändern würden. Heute weiss ich, dass es die Depression war, die meine Persönlichkeit veränderte. Das Antidepressivum half mir, mich wieder an mich zu erinnern.

Ende Februar trat ich in eine Stressklinik ein. Zum ersten Mal traf ich Menschen, bei denen ich mich nicht mehr erklären musste. Sie wussten aus eigener Erfahrung, wie es mir geht. Die grosse Anzahl von Patienten und Patientinnen überwältigte mich. Wenn es so viele Menschen mit Depressionen gibt, warum reden wir nicht öfter miteinander? Warum verstecken wir unseren Gesundheitszustand und fühlen uns einsam dabei? Ich wollte etwas dagegen tun.

 

Etwas weniger als ein Jahr nach meinem zweimonatigen Klinikaufenthalt schrieb ich den ersten Text über meine Depression. Mit meinem Krafttier, dem Fuchs, als Maskottchen, startete ich das Projekt «Der Volpe» und schrieb bis heute jede Woche einen neuen Text auf meiner Webseite. Es kamen mehr Leser*rinnen dazu und irgendwann passierte das früher Undenkbare: Ich traf mich mit einer Leserin des Blogs auf einen Kaffee. Obwohl wir uns nicht kannten, verband uns die Erfahrung mit der eigenen Depression. Nie hätte ich mir vorstellen können, dass diese Krankheit Menschen auf so wunderbare Weise verbinden kann.

Inzwischen durfte ich einige solcher Treffen geniessen, öffentlich und im privaten Rahmen über die Depression referieren und Erfahrungen austauschen.

Ähnlich wie mein offener Umgang mit meiner Homosexualität braucht auch das Schreiben und Reden über Depression Mut, Energie und Vertrauen. Denn die Gesellschaft hat Vorurteile. Darum zeigt euch. Die Vorurteile müssen dem Wissen weichen.

Du steckst in der Krise? Oder du bist um jemanden besorgt?

Hier findest du Hilfe:

Schweiz: reden-kann-retten.ch Deutschland: deutsche-depressionshilfe.de



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