Spektakulär: «Tatort» aus Berlin mit dreifacher schwuler Liebesgeschichte
Mit «Das Opfer» sendet der RBB am 18.12. eine «mutige» Botschaft von Diversität in die Republik
Kurz vor Weihnachten strahlt die ARD einen neuen «Tatort» aus Berlin aus, in dem Kommissar Karow erstmals solo ermittelt. Nina Rubin wird ersetzt durch eine Beziehungsgeschichte zu seinem Jugendfreund Maik, der «under cover» im Clan-Milieu ermittelt.
(Achtung, dieser Artikel enthält mögliche Spoiler!) Für alle, die sich frustriert vom Berliner «Tatort» abgewandt hatten, weil der anfangs schlagzeilenmachende neue offen bisexuelle Ermittler Robert Karow (gespielt von Mark Waschke) nach spektakulären Sexszenen mit einem Mann zunehmend zum Hetero mutierte, der mehr dem ARD-Sonntagabendstandard entspricht, gibt es jetzt überraschende Neuigkeiten. Denn nach dem Serien-Tod seiner Kollegin Nina Rubin (und dem Ausscheiden von Darstellerin Meret Becker) bekommt Karow bei seinem 16. Fall eine Soloermittlergeschichte, die in die Vergangenheit zurückführt: zu seinem Nachbarn und Jugendfreund Maik Balthasar.
Dass zwischen den beiden Teenagern mehr ist als nur ein gemeinsames Interesse an Musik und der Münzsammlung von Vater Karow wird schnell klar. Wieso sie sich dann 30 Jahre nicht gesehen haben, erklärt sich aber erst sehr viel später. Genauso, was diese Freundschaft mit dem gesamten Rest von Karows Leben zu tun hat.
«Klassische Milieu-Hinrichtung» Dieser «Tatort» mit dem Titel «Das Opfer» beginnt damit, dass der erwachsene Maik Balthasar in einem Waldstück tot aufgefunden wird: Gesicht um den Mund herum aufgeschlitzt, Schuss in den Kopf. «Eine klassische Milieu-Hinrichtung», wie es heisst.
Als Karow die Leiche sieht, erkennt er sofort, dass es Maik ist. Und als er von dessen Witwe einen Brief bekommt und erfährt, dass Maik für ihn lauter Hinweise versteckt hat, macht sich Karow daran, gegen den Willen von Staatsanwältin Sara Taghavi (Jasmin Tabatabai) Nachforschungen anzustellen. Eigentlich ist er ja im Urlaub, aber der Fall ist ihm zu nah. Wie nah, erfährt man Stück für Stück.
Seine Ermittlungen führen Karow in den Berliner Arbeiter*innen- und Problembezirk Wedding, wo Maik als verdeckter Ermittler für Mesut Günes (Sahin Eryilmaz) arbeitete, einem stadtbekannten Nachtclubbesitzer, der in zahlreiche Gewaltverbrechen verwickelt ist, die ihm allerdings nie eindeutig nachgewiesen werden konnten. Auf der Tatwaffe neben dem toten Maik finden sich Günes Fingerabdrücke. Staatsanwältin Taghavi wittert ihre Chance, Günes endlich hinter Gitter zu bringen.
Aber welchen Grund könnte Günes gehabt haben, Maik zu töten? Es ist unmöglich, über die weitere Handlung zu berichten, ohne zu spoilern. Was unbedingt vermieden werden sollte, weil das Drehbuch von Erol Yesilkaya so viele unerwartete Wendungen enthält, dass man nach dem Start – der aussieht «wie immer» – zunehmend staunt, wer da mit wem in welchen Beziehungen steckt.
Männliche Sexarbeiter vom Balkan Nur ein Hinweis sei erlaubt: Karow ist überrascht, als er in Günes‘ Club entdeckt, dass da nicht nur Frauen als Sexarbeiterinnen zu finden sind, sondern auch junge Männer vom Balkan. Und das in einem Umfeld von türkischen Obermachos, für die Homosexualität eigentlich eine inakzeptable Sünde ist. (Es war dem RBB-Team wichtig, hier auch ausschliesslich Schauspieler*innen mit türkischen Wurzeln einzusetzen, wie MANNSCHAFT auf Nachfrage erfuhr.)
Der Stricher, um den es geht, heisst Sammy Paroussi, gespielt vom deutsch-kroatischen Schauspieler Luka Dimic. Der hatte sich im Februar 2021 im SZ-Magazin gemeinsam mit 185 anderen LGBTIQ-Schauspieler*innen als nicht-heterosexuell geoutet, zu den anderen gehörte auch Mark Waschke (MANNSCHAFT berichtete).
Paroussi ist ein Aussenseiter in dieser Clan-Welt, die von «Macho-Bullshit» und mafiösen Strukturen dominiert wird. Aber auch türkische Machos können sich nach Liebe sehnen … selbst wenn sie das nie offen zugeben würden, aus Angst vor den Reaktionen ihrer Familien.
«Tod in Venedig»-Anklänge Die Musik, die Bert Wrede für den grandiosen Soundtrack geschrieben wurde, erinnert teils an das berühmte «Adagietto» aus Mahlers 5. Symphonie, das im Visconti-Film «Tod in Venedig» für die hoffnungslose Liebe zum schönen jungen Tadzio steht, die ins Verderben führt. Das passt hier beim «Tatort» gut, weil in der gleichfalls grandiosen Regie von Stefan Schaller immer wieder gefragt wird, warum diese Liebe von Mann zu Mann eigentlich hoffnungslos sein muss.
Dass Schaller für die intensive Geschichte zwischen Gegenwart und Vergangenheit auch noch Andreas Pietschmann als Maik Balthasar gewinnen konnte, den man aus Netflix-Hauptrollen in «Dark» und «1899» kennt (MANNSCHAFT berichtete), sowie Jasmin Tabatabai als Staatsanwältin Taghavi, gibt diesem «Tatort» eine Art Hollywood-Glamour, den man in dem Sendeformat selten findet.
Dazu kommt Kim Riedle, die eine weitere Sexarbeiterin im Club (und somit Sammys Kollegin) spielt. Sie tut das so überwältigend und bekommt solch einprägsame Momente, dass man sich fragt, wieso «Tatort» nicht immer so sein kann. Sie erklärt Karow auch, wie das im Sexgeschäft so läuft mit «Steady Jobs», Abhängigkeiten und Sehnsüchten, von denen niemand etwas erfahren darf. Als Aufklärungsstunde kurz vor Weihnachten ist das ziemlich starker Tobak, wird aber maximal elegant und selbstverständlich umgesetzt.
Schockmomente Am Dienstag dieser Woche erlebte «Das Opfer» vorab seine Kinopremiere im Wedding, mit rotem Teppich, Sekt und Live-Berichterstattung bei der Abendschau. Im Kino erklärte im Anschluss an die Filmvorführung Drehbuchautor Erol Yesilkaya, dass die Geschichte auf einem wahren Fall basiere. Produzentin Verena Veihl vom RBB sprach davon, es sei ein «mutiger Film» mit «herausfordernden Stellen». Man könnte auch sagen: mit echten Schockmomenten, bei denen sich manche die Augen zuhalten werden.
Veihl erklärte dem Premierenpublikum auch: «Das ist genau der ‹Tatort›, den wir aus Berlin in die Republik senden wollen mit einer Botschaft von Diversität.» Sie sieht «Das Opfer» quasi als «U-Boot», das in diesem Fall für maximale LGBTIQ-Sichtbarkeit am Sonntagabend auf den Bildschirmen sorgt. Es ist auch ein eindeutiges Plädoyer für mehr Akzeptanz von nicht-heterosexuellen Lebensentwürfen.
Junge Menschen, die ihre Liebe nicht leben durften Jasmin Tabatabai ergänzte, dass sie das Drehbuch von Yesilkaya deshalb so toll finde, weil es die Geschichte von zwei jungen Menschen zeige, die ihre Liebe nicht leben durften. Und Jona Levin Nicolai als junger Karow zusammen mit Laurids Schürmann als jungem Maik sind eine Parallelgeschichte in diesem «Tatort», die unter die Haut geht – und bei der Drehbuchautor Yesilkaya spät im Film nochmals eine aufwühlende Überraschung bereithält.
So viel Spannung, so viel queere Liebe und Lebensrealität, so viel Homosexualität unter Muslimen, so viel Konflikt mit christlichen Vätern, gab es wohl in der ARD schon lange nicht. Vielleicht sogar noch nie. All das zusammen macht diesen neuen «Tatort» singulär.
Mark Waschke war bei der Kinopremiere im Wedding nicht dabei, weil er gerade in London für eine Theaterneuproduktion probt. Er war aber via Handy dazugeschaltet und erzählte, wie viel ihm dieser «Tatort» als «riesiger Ensemblefilm» bedeute. Waschkes Mutter war übrigens statt seiner im Publikum und klatsche begeistert, als alle Teilnehmenden auf die Bühne kamen. Sie wollte von der Pressesprecherin auch gleich wissen, wann die nächste Premiere 2023 sei. Damit sie vorplanen könne.
Wie geht’s 2023 weiter bei den Berliner Ermittler*innen? Meine Sitznachbarin, die mit religiösem Eifer jeden Sonntag «Tatort» schaut und bisher kein Fan der Berliner Ausgaben war (wie sie mir mitteilte), sagte beim Hinausgehen: «Das ist der beste ‹Tatort›, den ich je gesehen habe, ich kann das gar nicht glauben. So spannend, so unter die Haut gehend, so komplett anders. Toll!»
Die grosse Frage ist nun: Wie geht es mit Diversität im Berliner «Tatort» weiter, wenn 2023 Corinna Harfouch als die Neue an der Seite von Mark Waschke ermitteln wird? Auf Anfrage erfuhr MANNSCHAFT dazu von der RBB-«Tatort»-Redakteurin Verena Veihl: «Diversität wird auch weiterhin als Selbstverständlichkeit im Berliner ‹Tatort› erzählt werden, in der Besetzung des Teams und in den Geschichten, als wesentlicher Aspekt dieser Stadt. Wir freuen uns sehr, dass uns das in ‹Das Opfer› gelungen ist. Die gesellschaftlichen und politischen Herausforderungen unserer Zeit sollen im ‹Tatort› aus der Hauptstadt in Zukunft noch stärker im Mittelpunkt stehen. Im ersten gemeinsamen Fall von Robert Karow (Mark Waschke) und Susanne Bonnard (Corinna Harfouch) geht es um ein rechtes Netzwerk, in dessen Umfeld die beiden ermitteln und das sie vor grosse Herausforderungen stellt.»
«Das Opfer» läuft am 18. Dezember um 20.15 Uhr im Ersten Deutschen Fernsehen, SRF und ORF. Die Sendung ist nach der Ausstrahlung sechs Monate in der ARD-Mediathek verfügbar.
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