Sixpack? Straffe Haut? Schwules Altern als Kunstform
Der britische Künstler Rob Crosse verweigert sich konsequent dem Jugendwahn
Mit dem gängigen Schönheitsideal von Sixpack und straffer Haut kann der britische Künstler Rob Crosse nichts anfangen, beim Jugendwahn macht er nicht mit. Das drückt sich auch in seinen Fotos, Videos und Performances aus.
«Ich hör dir beim Atmen zu, wenn du schläfst», singt der junge Mann in einer etwas ungelenken, melancholischen Melodie. «Halte deinen Körper und verfolge mit dem Finger die Fältchen auf deiner Haut. Was hast du erlebt? Wo kommen diese Male her?»
Wer will, kann mitsingen bei der Performance von Dear Samuel, die er in Hongkong entwickelt und gezeigt hat. Die Worte erscheinen, wie bei einem Karaoke-Video, am unteren Bildschirmrand, während man oben Singvögel in ihren Käfigen sieht. An Karaoke kommt man in Hongkong ohnehin nicht vorbei, sogar in Schwulensaunen und Bärenkneipen gibt es Kabinen zum Mitsingen.
Und was die Vögel betrifft: Crosse, der im April ein einmonatiges Stipendium in der ehemaligen britischen Kolonie verbrachte, beobachtete im Yuen Po Street Bird Garden, wie ältere Männer ihre Vögel in Käfigen ausführen. So kommen die Tiere an die frische Luft und können, in ihren Käfigen nebeneinander an Haken aufgehängt, zusammen singen. Diese Szene hat den Londoner Künstler, der vor einem Jahr der Liebe wegen nach Berlin zog, zu seiner Performance inspiriert.
Homosexualität hat in China eine andere Bedeutung als bei uns.
Wie leben ältere Schwule in Hongkong? Rob Crosse, der Fotografie und Fine Arts studierte, ist Anfang Mai 2020 mit dem ars viva-Preis ausgezeichnet worden – die Auszeichnung ist mit Ausstellungen im Museum Angewandte Kunst in Frankfurt am Main und im Kunstverein Hannover sowie einer Künstlerresidenz auf Fogo Island (Kanada) verbunden, das Preisgeld für die insgesamt drei Preisträger*innen beträgt je 5.000 Euro.
In vielen seiner Werke lotet er eine Art generationenübergreifendes Begehren aus, und so traf er in Hongkong auf eine Gruppe älterer schwuler Männer, die sich «Gay and Grey» nennen. Sie entstand im Zuge der Forschung des Hongkonger Dozenten Travis Kong, der als erster untersuchte, wie ältere Schwule in Hongkong leben. Mittlerweile feiert die Gruppe ihr fünfjähriges Bestehen.
Sonstige Netzwerke für schwule ältere Männer gibt es nicht. 20 bis 30 von ihnen treffen sich regelmässig an wechselnden Orten. Als Crosse sie das erste Mal traf, reden sie darüber, wie man ein Testament schreibt und dass man diesem noch eine Art Begleitbrief hinzufügen sollte. «Darin erklärt man seiner Familie, warum man einem anderen Mann etwas hinterlässt. Selbst wenn die Angehörigen den Mann kannten und beide als Paar zusammenlebten – einfach jemanden etwas zu hinterlassen, den man geliebt hat, das ist in China nicht akzeptiert. Es reizte mich also, so einen Brief zu schreiben, und so entstand Dear Samuel.»
Sex unter Männern ist akzeptiert Altern ist für die meisten Schwulen eine Herausforderung, erst recht in einer chinesischen Stadt wie Hongkong, wo Homosexualität zwar legal ist –Analverkehr zwischen Männern wurde 1997 entkriminalisiert –, aber oft nicht akzeptiert wird. «Homosexualität hat dort eine andere Bedeutung als bei uns», erzählt Rob Crosse. «Zwar ist schwuler Sex akzeptiert, Homosexualität als Lebensform aber ist etwas anderes und wird getrennt betrachtet, vor dem Hintergrund der Pflichten, die man als Ehemann und Familienmitglied hat.»
Eine ganz andere Art zu altern, zeigt sein Video Prime Time, für das Crosse im Jahr 2017 eine Gruppe von Männern auf einer Gay Cruise begleitete. Amerikaner hauptsächlich, aber auch Australier und ein paar Briten. Sie nennen sich «Prime Timers» – ein US-Netzwerk, das sich an ältere Schwule oder Bi-Männer und ihre Bewunderer richtet und ihnen verschiedenen Möglichkeiten bietet, Zeit mit Gleichgesinnten zu verbringen.
Einige von ihnen sind nicht geoutet, mit einer Frau verheiratet. Klar, dass die nicht gefilmt werden wollten. Diejenigen, die bereit waren, zeigt die Kamera teilweise sehr nahe, aber immer respektvoll, geradezu zärtlich und liebevoll, ohne die Körper vorzuführen.
Was ist ein begehrenswerter Körper? «Das ist die Welt, wie ich sie sehe», erklärt Rob Crosse. «Meine Antwort auf die Frage, wie ein begehrenswerter Körper aussieht. Jugendlichkeit und Attraktivität scheinen ja für viele zusammenzugehören, und vielleicht will ich diese Sicht herausfordern.» Jeder könne sich selber beobachten, wie er auf diese Bilder reagiert, und sich die Frage neu stellen, was einen schönen Körper ausmacht und was einen vermeintlich hässlichen.
Die Reaktionen seiner Protagonisten waren gemischt. Dem Mann, dessen Körper er ausgiebig filmt, hat es gefallen. Doch die meditative Erzählweise des Videos irritierte viele. Vielleicht hatten sie eher eine Dokumentation erwartet. Aber das hatte Crosse nie vor. Er will mit seinen Filmen keine Botschaft transportieren oder für irgendetwas werben.
Als er in Hongkong war, sprach man ihn auf dieses Video an. Zeigst du die unvollkommenen Körper, um etwas auszudrücken, fragte man ihn. «Für mich sind das gar keine Unvollkommenheiten. Das ist das, was mich anzieht.» Crosse ist besonders von Haut fasziniert, der äussere Hülle der Menschen. Deren Körper sind für ihn wie ein Archiv, das Geschichten sammelt und speichert, sichtbar u. a. in Falten oder Narben.
Faszination Körper Rob Crosse ist künstlerisch keineswegs nur auf ältere Männer abonniert. In seinem nächsten Projekt will er sich Oldtimern und deren Restauration widmen. Ihn reizt zu sehen, wie man beim Restaurieren alte Wunden aus der Karosserie entfernt, das Auto wie neu erscheinen lässt und damit ihre Geschichte tilgt. Es ist seine Faszination für Körper, nicht zwangsläufig für menschliche.
Er habe immer schon Körper für seine Filme und Videos benutzt, auch seinen eigenen, um etwas zu kommunizieren, erzählt er. So filmte er sich als Student beim Jonglieren, war fasziniert von den Faktoren Rhythmus und Wiederholung. Für eine Arbeit filmte er sein Gesicht aus vier Perspektiven. Da er unterhalb der Kamera jonglierte, war nur das Geräusch zu hören. «Es klang ein bisschen, als würde ich mir einen runterholen.» Er nannte es «Ich bin schwul und stolz» und gab es seinem Lehrer. «Der fand es super», erinnert sich Crosse grinsend. «Aber weil ich nie Hausaufgaben gemacht hatte, bekam ich trotzdem eine schlechte Note.»
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