Es war einmal ein queerer Friseursalon in Rom
Zu Besuch im Riccio Capriccio in der Gay Street
Der Salon Riccio Capriccio steht in der Gay Street in Rom, wenige hundert Meter vom Kolosseum entfernt. Er wurde 1996 von trans Frau Alessandra gegründet und ist mittlerweile eine lokale Institution.
Ein Blick ins Schaufenster reicht, um zu merken, dass sich dahinter ein nicht ganz cis-heteronormativer Raum befindet: Neben nachhaltigen Haarpflegeprodukten steht eine winkende Queen Elizabeth aus Plastik, das Rainbow-Set von Lego und ein Leuchtkasten mit dem Schriftzug «DDL Zan subito, fuckers!». Letzteres deutet auf das Gesetz gegen Homo- und Transphobie hin, das letztes Jahr vom italienischen Parlament abgelehnt wurde (MANNSCHAFT berichtete).
Beim Betreten des Geschäfts geht das queere Universum weiter: Über die Räume sind bunte, kreative Leuchter verteilt, an den Wänden hängen Porträts feministischer Ikonen wie Frida Kahlo oder Grace Jones, und aus den Boxen erklingen immer wieder schwul-lesbische Hymnen.
Mittlerweile wird das Riccio Capriccio (zu Deutsch ungefähr: launische Haarlocke) von Alessandra und ihrem langjährigen Partner Franco geführt. In ihren Worten ausgedrückt haben sie es sich auf die Fahne geschrieben, die Aussenwelt nicht draussen zu lassen; Riccio ist an vielen queeren Events der Stadt präsent, pflegt unter anderem eine Zusammenarbeit mit dem Römer Trans Film Festival und organisiert regelmässig feministische Gesprächsrunden.
Alessandra, die Mitreissende Heute herrscht reges Treiben, die Angestellten haben alle Hände voll zu tun. Mittendrin Alessandra, dicht gefolgt von ihrer kleinen Hündin Rosetta, die sich ihren Weg zwischen frisierten und frisierenden Menschen sucht. Die Geschäftsführerin, die in ihrer Freizeit auch als DJ Lapucci unterwegs ist, trägt heute weite, elegante schwarze Kleidung, lila Haar, das genauso silbern glänzt wie ihr Schmuck. Alessandra unterstützt die teilweise noch Lernenden sowohl technisch-beratend als auch moralisch, indem sie für ein angenehmes Arbeitsklima sorgt. Ihr Blick ist warm, ihr Lachen ansteckend. Hin und wieder greift sie selbst zur Schere, um den Ansprüchen der Kund*innen gerecht zu werden – oder auch einfach, um mit ihnen in Kontakt zu treten. In diesen Momenten steht jeweils mindestens eine*r der Lernenden hinter ihr und folgt gespannt ihren Handbewegungen. Die Vermutung liegt nahe, dass hier eine Meisterin am Werk ist, was uns später von einer Mitarbeiterin auch bestätigt wird.
Auf die Diversität in ihrem Team angesprochen, meint Alessandra nur: «Mir ist egal, welchen Hintergrund du hast – solange du anderen Menschen gegenüber offen bist und Interesse zeigst.»
Aufgewachsen in Rom während der blühenden «Dolce Vita» und unter den dunklen HIV-Wolken der Achtzigerjahre, hat sie einiges zu erzählen. Ihr zuzuhören ist eine emotionale Reise in die Geschichte der Stadt. Sie habe alles in allem grosses Glück gehabt. «Andere trans Mädchen sind damals auf der Strasse gelandet: Drogen, Prostitution, Aids.» Ihre leuchtenden Augen verlieren an Glanz. Ihre Eltern haben sie und ihre Transition in jungen Jahren nicht gerade unterstützt, von zuhause rausgeschmissen oder enteignet hätten sie sie jedoch nie und nimmer. Sie seien Arbeiter*innen gewesen und ihre Tochter mit dementsprechender Arbeitsmoral erzogen. Diese Kombination habe sie davor bewahrt, gefährliche Routen einzuschlagen. «Ich konnte in eine intensive Welt am Rande der Gesellschaft eintauchen und sie unversehrt wieder verlassen», fasst Alessandra zusammen.
Ihre Mutter sei eine typisch italienische Mamma gewesen, die sich Enkelkinder wünschte – um ihr Kind dann aber trotz allem auf seinem Weg zu begleiten. Viele andere Optionen standen ihr dank der eigenwilligen Alessandra auch nicht offen: «Falls du in meinem Leben bleiben willst, musst du mit mir da durch.» 1991 war Alessandra 27 Jahre alt, und damals sei eine Transition um einiges harziger gewesen als heute – sowohl gesellschaftlich als auch rechtlich-bürokratisch. Und so kam es, dass Alessandra von ihrer Mutter bis nach London zu chirurgischen Eingriffen begleitet wurde. «Als sie mich eines Tages so daliegen sah, sagte sie mir, dass sie jetzt verstehe, wie sehr ich mir dies wünsche und was ich dafür durchmachen würde.» Sie bleibt bei der Erinnerung hängen und muss sich kurz neu sammeln.
Ich bestrafte meinen Vater mit meiner Rebellion.
Der Vater war ein «Fascho» Als sie beginnt, von ihrem Vater zu erzählen, klingt sie deutlich kälter. Er sei ein Fascho gewesen und habe nur schöne Frauen im Kopf gehabt. «Meine Mutter litt darunter, und ich bestrafte ihn dafür mit meiner Rebellion.» Mehrmals sei sie von zuhause abgehauen, einmal habe sie zwei Monate lang in einer Trans-Frauen-Gemeinschaft gelebt und als Küchenhilfe ausgeholfen. In Anbetracht der Schwierigkeiten, die sie ihm bereitet habe, sei er unter dem Strich ein guter Vater gewesen. Und als sie eines Tages ihren damaligen Partner heiratete, habe er sie zum Altar begleitet. Auch hier muss sich Alessandra kurz wieder fangen.
In Berührung mit der queeren Szene kam sie zum ersten Mal auf dem Arbeitsweg zu ihrem ersten Job als Friseurin; auf diesem Weg lag die Piazza dei Cinquecento, ein abendlicher Treffpunkt für Homosexuelle, trans Menschen, Prostituierte und stationierte Soldaten, mit denen heftig geflirtet wurde. «Rom war damals ein einziger Rausch, an jeder Ecke waren Bars, Lokale und Nachtclubs – eine kreative Energie lag in der Luft. Und dann kam das Virus, die Angst und nicht zuletzt die Moralapostel mit ihrem Lieblingswort: Schwulenseuche.» Heute sei vieles wieder anders, besser – sie sehe etwa viele befreite trans Mädchen auf Tiktok – doch das A und O bleibe ihrer Meinung nach eine Familie, die einen auffange.
«Wenn dich das Leben mit Glück beschenkt hat, solltest du dem Leben etwas zurückgeben», meint sie und erwähnt im gleichen Atemzug Ahmed, einer ihrer Angestellten, der auf einem Boot übers Mittelmeer geflüchtet sei und anfangs praktisch kein Italienisch gesprochen habe. Falls er etwas brauchen sollte, seien sie und Franco ohne zu zögern für ihn da. Die beiden sind seit 27 Jahren ein Paar und ergänzen sich als Co-Leitung perfekt: er der organisierte Unternehmer, sie der chaotische Kreativkopf. Voller Zuneigung sagt sie über ihn: «Ich bin die eine Säule von Riccio Capriccio, er die andere. Ohne ihn gäbe es den Laden schon lange nicht mehr.»
Dario, der Antikonformistische Gäbe es eine symbolische Figur, die die Philosophie dieses Hairsalons verkörpert, wäre es wohl Dario: dunkle Haare, blonde Strähnen, Ohrringe, Piercings, braune Lederjacke und viele Tattoos, allen voran eine Rose auf der Schläfe. Heute ist er zwar mit Nagellack, aber nicht wie oft im Rock unterwegs. «Bei Riccio Capriccio konnte ich von Anfang an meine Persönlichkeit ausdrücken», sagt er fröhlich und man versteht sofort, was er damit meint. Ihm gefalle auch das Multikulturelle und die vielen verschiedenen Typen Mensch, die aber die gleiche Leidenschaft teilen würden. Ausserdem sei der Salon zentral und doch alternativ. Die Ästhetik sei nach seinem Geschmack, die Nachhaltigkeit der Produkte ebenfalls. Und nicht nur die Angestellten, sondern auch die Kund*innen seien oft interessante Menschen.
«Das Riccio ist durch die Einbindung in der Community mehr als ein gewöhnlicher Salon. Und er hat eine humanistische Botschaft, was mir sehr wichtig ist», erzählt er und lässt damit eine stark politische Persönlichkeit erahnen. Wenn man von ihm wissen will, weshalb er sich als queer bezeichne, antwortet er: «Ich habe eine ausgeprägte weibliche Seite und keine Angst, sie zu manifestieren.» Er sei dagegen, dass Nagellack nur etwas für Frauen sein solle. Seine Art zu sein sei eine Form des Protests: «Schminke, Rock, Dauerwelle, String-Tanga – wenn ich mir so gefalle, warum nicht?»
Die Zeit der traditionellen Männlichkeit ist vorbei.
Was einige erstaunen mag: Dario ist mit einer Frau liiert. Er habe aber auch gleichgeschlechtliche Erfahrungen gemacht. «Sagen wir’s so: Mir gefallen Menschen», sagt er, und seine grossen Augen lächeln scheu. Überhaupt fällt bei Dario der Kontrast auf zwischen auffälligem Äusserem und scheuem Naturell. Mit 18 wurde es ihm zu eng(-stirnig) in Rom und er zog deshalb nach London, wo er sechs Jahre lang blieb. Die Pandemie brachte ihn zurück nach Italien, und er habe gemerkt, dass er auch klimatisch gesehen nicht nach England gehöre. Hier spüre er allerdings einen viel grösseren Graben zwischen der cis-heterosexuellen Gesellschaft und den Queers. «Nach der längeren Zeit in London bin ich immer noch etwas konsterniert: Ich verstehe die ganze Verbissenheit um gewisse Themen hier nicht», stellt er etwas entnervt fest. «Mir ist das scheissegal, ich setze mich weiterhin für mehr Offenheit ein. Die Welt muss sich ändern, die Zeit der traditionellen Männlichkeit ist vorbei.»
Es habe sich zwar einiges verbessert während seiner Abwesenheit, und überhaupt habe er Vertrauen in die kommenden Generationen. Auch er selbst habe ein paar Ideen, um den Wandel voranzutreiben, u.a. wolle er mit Freund*innen queere Projekte und kulturelle Events organisieren. «Ich will das, was London mir geschenkt hat, Rom weitergeben.»
Eleonora, die Nachdenkliche Eine dieser lesbischen Frauen, von denen Ahmed eben gesprochen hat, ist Eleonora. Als sie für ein Praktikum zu Riccio kam, sei sie sozusagen noch ein Kind gewesen. Ihre Mutter habe ihr den Ort empfohlen: «Da kommen lauter interessante Leute raus, schau es dir doch mal an.» Eleonora versteht heute, was ihre Mutter wohl damit meinte. «Sie hatte schon alles verstanden, noch bevor ich mir selbst darüber bewusst werden konnte», sagt sie etwas sarkastisch. Sie wird während des Gesprächs noch oft Sätze bilden, die einiges offenlassen – aber dank Mimik und Gestik trotzdem unmissverständlich sind. Typisch römisch halt.
Im Vergleich zu Ahmed fällt Eleonora schon mehr auf: Nasenpiercing, rot-schwarz kariertes Hemd, militärische Erkennungsmarke um den Hals, Tattoos. Sie wählt ihre Worte bedacht. «Alessandra ist meiner Meinung nach ein Monster ihres Fachs» antwortet sie auf die Frage, was ihr an ihrem Arbeitsplatz gefalle. Natürlich habe sie irgendwann auch gespürt, dass ihr das vorwiegend queere Umfeld entspreche: «Das erste Mal durch diese Türe zu gehen, ist mir ziemlich eingefahren. Ich begann zu verstehen, wie diese spezifische Welt aussieht.» Ihr eigenes Lesbischsein habe sie mit 18 realisiert, was anfangs nicht einfach gewesen sei. Nach einem Prozess der Selbstakzeptanz outete sie sich ohne grossen Gegenwind der Eltern. Es sollten allerdings noch Jahre vergehen, bis es auch Geschwister und Freund*innen erfahren würden. «Meine Frau und ich haben beide kleinere Brüder, die wir aus irgendeinem Grund schonen wollten, was sich schlussendlich als Paranoia herausstellte.» Sie hätten so cool reagiert, als hätten sie’s schon immer gewusst.
Zwei Freundinnen fallen weniger auf als zwei Freunde.
Hier bleiben und kämpfen Vor ihrem (gemeinsamen) Freundeskreis haben sie und ihre Frau, damals Freundin, es gut verstecken können: «Zwei Freundinnen, die sich nahestehen und nahekommen, fallen weniger auf als zwei Freunde. Da denkt man nicht sofort an Homosexualität.» Erst nach fast zehn Jahren Beziehung hätten sie die Bombe platzen lassen, und kündigten gleich noch ihre Hochzeit an.
Es brauche Orte wie das Riccio, nicht nur hier, sondern überall in Italien, um Horizonte zu erweitern. Denn die Gesellschaft sei für vieles noch nicht bereit, auch wenn es manchmal so wirke. Weshalb sie nie mit dem Gedanken gespielt habe, Rom zu verlassen? Sie sei hier zu fest verwurzelt. «Und zwischenmenschliche Beziehungen voll auszuleben und auszukosten ist für mich etwas vom Schönsten, das man erleben kann.»
Ausserdem müsse der Kampf hier gewonnen werden. Es sei einfach, nach Nordeuropa zu gehen, um ein gutes Leben zu führen; einige ihrer Freund*innen hätten das getan und seien daran, Kinder grosszuziehen, ohne wie in Italien darum kämpfen zu müssen. «Aber ausgerechnet jetzt das Schiff verlassen, so kurz vor dem Ziel?» Das wäre, wie sich geschlagen zu geben, und auch schade, zumal die neue, offene Generation eine grosse Hilfe sei. «Diese ist so viel weiter als die vorherige – heute sind irgendwie alle bisexuell, nicht-binär usw . . . eine echte Herausforderung für die Älteren, aber wunderbar. Es geht in die richtige Richtung.»
Ahmed, der Freundliche Im Vergleich zu anderen Persönlichkeiten, die im Salon ein und ausgehen, ist Ahmed eine eher unscheinbare, geradezu nüchterne Erscheinung: Fade Cut, schwarzes Shirt, Cargohosen, Sneakers, wie sie viele andere 22-Jährige tragen würden. Dies passt auch zu seinem eher introvertierten, freundlichen Blick, den er hat, wenn er mit einem spricht. Als er 16 war, verliess er Ägypten, wo seine Mutter und seine ältere Schwester noch leben – sein Vater ist gestorben, als Ahmed sechs war – um an der sizilianischen Küste anzukommen und in Italien ein neues, besseres Leben zu beginnen. «Zum letzten Mal gesehen habe ich meine Familie vor drei Jahren.» Und das nächste Mal? «So schnell wie möglich», sagt er und muss kurz strahlen.
Als er nach seiner Ankunft nach Rom gekommen sei, habe er erstmal drei Monate in einem Wohnheim verbracht. Den Betreuer*innen habe er bald eröffnet, dass er sich wünsche, Friseur zu werden. Diese hätten sich an die Arbeit gemacht und ihm schnell ein Angebot bei Riccio vermittelt, wo er seit mittlerweile sechs Jahren arbeitet. Dies für fünf Stunden am Tag, weil er daneben eine Sprachschule besucht. «Franco und Alessandra haben mich anfangs sehr unterstützt, ich schätze mich deshalb sehr glücklich. Sie sind auf eine Art meine italienische Familie, und auch das restliche Team fühlt sich mittlerweile danach an.» Ihm gefalle, dass alle so verschieden und ungewöhnlich seien – der eine trage gerne Röcke, die andere sei lesbisch. «Als Teenie fühlte sich das alles im ersten Moment schräg an, weil man diese Art Menschen bei uns in Ägypten nicht sieht.» Auf diesen inneren Konflikt und dessen Überwindung angesprochen, meint er knapp und nonchalant: «Solange Menschen mich gut behandeln, dürfen sie von mir aus machen, was sie wollen.»
In seiner Freizeit ist Ahmed oft auf einem Fussballfeld anzutreffen und hat, wie viele junge Migrant*innen, sowohl italienische wie ägyptische Freund*innen. Und auch diese seien tolerant anderen Identitäten und Lebensformen gegenüber, da sie sich an sie gewöhnt hätten. «Einzig eine Beziehung fehlt mir noch, weil ich mich kürzlich getrennt habe. Aber sobald die Richtige kommt . . . » Und da ist es wieder, das nette Lächeln, das nun auch etwas verschmitzt ist.
DDL Zan
«DDL Zan» setzt sich aus der italienischen Abkürzung für Gesetzesentwurf («disegno die legge») und des Nachnamens des italienischen Politikers Alessandro Zan zusammen. Der 48-Jährige vertritt die Mitte-links-Partei Partito Democratico in der grossen Kammer des italienischen Parlaments und ist Aushängeschild der LGBTIQ-Organisation Arcigay. Zan hatte ein Gesetz zur Bekämpfung von Diskriminierung und Gewalt aufgrund von Geschlecht, Geschlechtsidentität, sexueller Orientierung und einer Behinderung eingereicht. Die DDL Zan hatte im November 2020 in der Abgeordnetenkammer die nötige Stimmenmehrheit erhalten, scheiterte aber bei der Abstimmung im Senat im Oktober 2021.
Für viele LGBTIQ in Italien sind Gewalt und Diskriminierung alltäglich, so die Organisation «All Out». Gemäss ILGA Europe landet das Land auf dem letzten Platz im Ranking der Rechtslage in Westeuropa. Neben dem mangelnden Schutz vor Diskriminierung gibt es in Italien keine Ehegleichstellung und gleichgeschlechtliche Paare dürfen weder Kinder adoptieren noch die Fortpflanzungsmedizin beanspruchen.
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