Queer Art ist oft viel mehr als Pimmelkunst

Aber eine Definition ist schwierig

Symbolbild Statue mit Regenbogenfahnen im Hintergrund (Bild: Pixabay)
Symbolbild Statue mit Regenbogenfahnen im Hintergrund (Bild: Pixabay)

Gemälde, Filme, Romane, Theater und so weiter können Projektionsflächen für queere Kultur sein. Dabei ist die wichtigste Erkenntnis wohl diese: Ob ein Kunstwerk queer ist oder nicht, liegt allein im Auge der Betrachtenden.

Alle wissen, was mit «Queer Art» gemeint ist, doch nach einer genauen Definition gefragt, kommt der eine oder die andere in einen Erklärungsnotstand. Wann ist ein Werk queer? Müssen die Künstler*innen queer sein? Oder liegt es an den Inhalten, die als queer gelesen werden? Wie grenzt sich Queer Art von «Hetero Art» ab und ist es überhaupt sinnvoll, in solchen Kategorien zu denken?



Die eigentliche Spurensuche beginnt beim Wort «queer» selbst. Bei diesem Begriff handelt es sich um eine sogenannte Wiederaneignung (engl. re-appropiation): In den 1980er-Jahren begann die US-amerikanische LGBTIQ-Community das bislang abwertende und beleidigende «queer» (engl. für: merkwürdig, seltsam, komisch) zu benutzen, um sich selbst zu beschreiben. Dies in erster Linie als Reaktion auf die verstärkt auftretende Homophobie, die durch die in jenem Jahrzehnt aufkommende Aidskrise ausgelöst wurde und von der schwule Männer überproportional betroffen waren.

Was ist Queer Art? «Queer Art ist Kunst im queeren Kontext», erklärt Constantin Hartenstein, künstlerischer Mitarbeiter am Filminstitut der Universität der Künste Berlin. Er meint damit präzisierend, dass sich hinter den offensichtlichen Ästhetiken geheime Zeichen und gelebte Realitäten queerer Menschen verbergen. Auch heute noch sei die Darstellung und die künstlerische Repräsentation von Identitäten vorherrschend heteronormativ geprägt. Auch wenn die Akzeptanz queerer Inhalte im Schutzraum von Kunstinstitutionen wachse, so ziehe die Darstellung und die Veröffentlichung queerer Themen immer noch gesellschaftliche Kritik auf sich.

Die Definition von Queer Art sei schwierig, findet auch Kunsthistoriker und Kurator Raphael Gygax. Er sagt: «Der Begriff ‹queer› widersetzt sich bewusst einer klaren Definition. Deshalb umfasst Queer Art unterschiedlichste Positionen, die sich im Feld des Nichtnormativen befinden, und sie positioniert sich in Abgrenzung zu einer Cisgender-Heteronormativität.»



Heute hat sich «queer» als Anglizismus auch im deutschen Sprachalltag etabliert und umschreibt grosso modo alle Erfahrungen, die Schwule, Lesben, Bisexuelle, trans und inter Personen betreffen. Also auch Kunst.

Kunst mit und ohne Sex Auch wenn die exakte Definition von Queer Art schwierig ist (siehe nebenstehende Box), eines ist klar: Queer Art ist so alt wie die Kunst an sich. Vasenmalereien aus dem antiken Griechenland zeigen den Geschlechtsakt zwischen zwei Männern und es gibt zahlreiche Gedichte, die die erotisch-sexuell konnotierte Liebe eines älteren Mannes zu einem Jungen in der Pubertät zum Inhalt haben.

Achilles und Patroclus
Achilles und Patroclus

Queer Art ist also keine Erscheinung unserer Zeit und sie hat auch nicht immer einen sexuellen Beiklang, findet zumindest Kunsthistoriker und Kurator Raphael Gygax. Es gibt auch «abstrakte» Queer Art wie das rosa Dreieck von «Act-Up», ein in den 1980er-Jahren entstandener Interessensverband zur Aufklärung von HIV/Aids. Dieses wurde meistens mit dem Slogan «Silence = Death» publiziert. Ein anderes Beispiel: das Symbol des Regenbogens, heute am bekanntesten in seiner Fahnenform.

Queer Codes gibt es nicht nur im künstlerischen Umfeld: Im San Francisco der 1970er-Jahre war der Hanky Code als geheimer visueller Code für sexuelle Vorlieben populär. Fashion, Anstecker mit teilweise politischer Message wie zum Beispiel das Tattoo des Nautischen Sterns in lesbischen Communitys, das Lambda Symbol der Gay Activist Alliance der früher 1970er-Jahre als Symbol für «Energie» in der Wissenschaft. Ein weiterer Queer Code ist das lavendelfarbene Nashorn, das zur selben Zeit im Raum Boston Stärke und Widerstand gegen Unterdrückung symbolisierte.

Edmund Dulac
Edmund Dulac

Insider-Sprache: Queer Codes Der schwule britische Maler Simeon Solomon (1840–1905) malte 1864 ein Bild, das Sappho und Erinna in einem Garten auf Mytilene zeigt. Das Bild ist inspiriert von Sapphos Gedichten, die im 4. vorchristlichen Jahrhundert entstanden sind und in denen sie die griechische Liebesgöttin Aphrodite um Hilfe in ihrer gleichgeschlechtlichen Beziehung bittet.

Raphael Gygax erklärt, dass die lesbische Liebe in der Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts häufiger dargestellt wurde als die zwischen Männern. War es zu Simeon Solomons Zeit undenkbar, zwei sich küssende Männer abzubilden, fand der Maler mit zwei sich liebenden Frauen einen Weg, gleichgeschlechtliches Begehren zu zeigen.

Simeon Salomons eigene sexuellen Vorlieben – er wurde 1873 mit einem anderen Mann auf einer öffentlichen Toilette erwischt und zu 18 Monaten Zwangsarbeit verurteilt – wurden dem Künstler zum Verhängnis: Er verstarb verarmt, alkoholkrank und von der Gesellschaft geächtet.

The Silence = Death Project
The Silence = Death Project

Anstatt offen queere Sujets zu malen, bedienten sich Kunstschaffende oft sogenannten Queer Codes. Constantin Hartenstein, künstlerischer Mitarbeiter am Filminstitut der Universität der Künste Berlin, erklärt: «In der Kunst deuten gewisse Symboliken und Sprachen auf Queerness hin, die auf verborgene Identitäten verweisen. Bekannt ist die grüne Nelke um den Social Circle Oscar Wildes, die als Symbol für geheime Sexualitäten gehandelt wurde. Diese Blumen wurden sogar explizit grün eingefärbt und waren nur in einem bestimmten Geschäft in London erhältlich.»

Simeon und Solomon
Simeon und Solomon

Zur selben Zeit ist auch ein weiterer Queer Code hinzugekommen: die Pfauenfeder. «Hier ist es wichtig, dass der männliche Pfau die flamboyanten Federn hat und nicht etwa das Weibchen. Die Pfauenfeder taucht oft in Gemälden der Kunstgeschichte auf, sogar in Zusammenhang mit katholischer Ikonographie». So malte Edmund Dulac (1822–1953) die beiden Männer Charles Ricketts und Charles Shannon als mittelalterliche Heilige mit einer Pfauenfeder in der Hand. Die beiden Männer lebten beinahe das ganze Leben zusammen, äusserten sich aber nie zu ihrer Beziehung.

Constantin Hartenstein sagt: «Queer Codes in der Kunst mutierten zu einer visuellen Insider-Sprache: Einige Betrachtende konnten die Zeichen lesen, an anderen gingen sie vorbei.» Heute sei die Verwendung queerer Codes in der Kunst nahezu obsolet geworden, da sie in ihrer damaligen Funktion zum Schutz der Community nicht mehr im gleichen Umfang nötig seien.

Film: Schwule waren die Sissys Queer Art im Film oder Queer Cinema lässt sich gemäss Constantin Hartenstein schwer in ein einzigartiges Konstrukt pressen. Schliesslich umfasse das Queer Cinema ein breites Spektrum von Fiktion und Dokumentation, Animation und Experiment. «Allenfalls kann man sagen, dass das Queer Cinema nicht versucht, heteronormative Modelle zu wiederholen, sondern sich als Ausdruck von Freiheit versteht.» Ein queerer Film, der den Künstler besonders beeindruckt hat, ist «Un chant d’damour» von Jean Genet aus dem Jahr 1950. «Als einer der berühmtesten und ersten queeren Underground-Filme zeigt er nicht nur auf, dass sich trotz Verboten in Frankreich der Film eigenständig und unter Hand verbreitet hat, sondern vermittelt auch eine tiefe Zärtlichkeit zwischen den Protagonisten, die in Gefängniszellen ohne Dialoge ihre Romanze herbeifantasieren», erklärt er.

Chévalier d’Éon
Chévalier d’Éon

Historisch gesehen, stammt der älteste queere Film aus dem Jahr 1895. Im Stummfilm «The Gay Brothers» kam es zum ersten Mal zu einer gleichgeschlechtlichen Repräsentation. Constantin Hartenstein ergänzt: «1923 wurde Homosexualität als komisches Mittel in Stan Laurels Stummfilm ‹The Soilers› verwendet. Dies erinnert an die Tatsache, dass ein voreingenommener homosexueller Archetyp des frühen Kinos die ‹Sissy› war.» Für ein heteronormatives Publikum sei diese Figur eine, die Spötterei und Gelächter provoziere. Laut dem US-amerikanischen Filmhistoriker und LGBTIQ-Aktivisten Vito Russo hat diese Figur zur Beruhigung gedient, da sie keine Vertreterin der «Bedrohung» durch Homosexualität war, sondern oft feinfühlig und weich.

Theater: Spiel mit dem Geschlecht Die ältesten ihm bekannten Theaterstücke mit queerem Inhalt stammen aus dem 17. Jahrhundert und aus der Feder von Shakespeare, sagt Jörg Wiesel, Theaterwissenschaftler und Studiengangleiter Bachelor Mode-Design an der Fachhochschule Nordwestschweiz. «In vielen Stücken Shakespeares kommen queere Figuren und Dramaturgien vor. Zum Beispiel männlich gelesene Schauspieler, die weibliche Figuren spielen», sagt er. Spontan zählt er «Was ihr wollt», «Der Sturm» und «Hamlet» auf. Während zu Shakespeares Zeit eine gewisse Homoerotik auf der Bühne akzeptiert wurde, räumte das aufklärerische 18. Jahrhundert mit den Geschlechterverwirrungen gründlich auf: Das Ideal war fortan eine heteronormative Lebensführung und das sollte auch auf der Bühne so gezeigt werden. In der Weimarer Republik (1918–1933) und ab den Sechzigerjahren lockerten sich diese strengen Normen wieder und es war im Regietheater möglich, offen queere Charaktere zu sehen.



Und was findet der Theaterwissenschaftler zur Frage, ob heterosexuelle Schauspieler und Schauspielerinnen queere Charaktere spielen dürfen? «Ein schwieriges Thema, aber ja, das sollte möglich sein», meint er. Die Frage komme auch in anderen Kontexten auf. Darf zum Beispiel die Nichtjüdin Helen Mirren die Jüdin und israelische Politikerin Golda Meir spielen? «Es geht bei der Schauspielerei um Theater. Man mimt eine Rolle, nimmt spielerisch Identitäten an. Genauso wie eine heterosexuelle Frau eine Lesbe spielen kann, kann eine Lesbe auch eine heterosexuelle Frau spielen», findet Jörg Wiesel. Sein persönliches queeres Theaterhighlight erkennt er in den Inszenierungen (und Filmen) von Rainer Werner Fassbinder. «Bei allen Schwierigkeiten und der psychologischen Unerträglichkeit, etwa wie Fassbinder mit dem Ensemble umgegangen ist, so hat er als schwuler Regisseur die queere Thematik doch immer wieder gewinnbringend in seine Stücke eingebaut.»

Mode ist (keine) Kunst Kürzlich gewann der schwule Schweizer Modedesigner Yannick Zamboni (Label: maison blanche) die US-Reality-TV-Show «Making the Cut» (zum Interview mit MANNSCHAFT+). Für Jörg Wiesel ein schönes Beispiel: «Mit seiner genderfluiden Kollektion hat er die Queerness der Mode nochmals gequeert.» Für Jörg Wiesel ist klar, dass queere Mode in der einen oder anderen Art immer mit den Geschlechterstereotypen spielt. Während die Männermode ab dem 19. Jahrhundert zwar stets uniformer wurde und die Damen bunter und aufwändiger angezogen waren – man konnte es sich schliesslich leisten, eine Frau zu dekorieren – war die Modewelt schon immer voller Queerness.

«Coco Channel kleidete Marlene Dietrich im Hosenanzug nicht einfach wie einen Mann, sondern wie einen Mann, der sich als Dandy anzog», erklärt Jörg Wiesel. Und ja, ganz klar: Crossdresser sind queer. Einer der bekanntesten Crossdresser der Geschichte ist der Chévalier d’Éon (1728–1810). Der französische Diplomat, Soldat, Freimaurer, Schriftsteller und Degenfechter lebte weite Teile seines Lebens als Frau und erst die Leichenschau räumte die Zweifel über sein tatsächliches körperliches Geschlecht aus.

Ob allerdings Crossdresser und somit die Mode an sich überhaupt zu Queer Art gezählt werden können, ist unklar und umstritten. Jörg Wiesel lacht: «Yves Saint Laurent hätte nein gesagt. Für ihn war Mode ein Handwerk und keine Kunst.»

Museen für Queer Art

Wien Queer Museum Vienna @queermuseumvienna www.queermuseumvienna.com

Berlin Schwules Museum @schwulesmuseum www.schwulesmuseum.de

London Queer Britain @queerbritain www.queerbritain.org.uk



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