Ohne «XXX» kein Dating oder: Die Angst vorm Screenshot

Über den Reiz verfallender Fotos

Bild: iStockphoto
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Peter Fässlacher ist Moderator und Sendungsverantwortlicher bei ORF III und Stimme des Podcasts «Reden ist Gold» über Liebe und Leben von LGBTIQ. In seinem Kommentar* erklärt er, warum verfallende Fotos in Dating-Apps einen solchen Reiz haben. Der Text stammt aus der Herbst-Ausgabe der MANNSCHAFT.

Alle tun es. Oder haben es zumindest schon einmal getan. Relativ wenige geben es offen zu. Und wer es tatsächlich nicht tut, blickt oft moralisch triumphierend auf diejenigen, die es tun. Seit Ewigkeiten gibt es die sieben Todsünden. Hochmut, Geiz, Wollust, Zorn, Völlerei, Neid, Faulheit. Und seit Kurzem gibt es eine achte: Das Versenden von explizitem Bildmaterial privater Körperregionen im Internet.

Gerade im schwulen Onlinedating lässt sich immer häufiger ohne so genannte «xxx?» gar kein Treffen mehr arrangieren. Vorbei scheint die romantische Zeit des neugierigen Erforschens und Entdeckens vor Ort. Aus neugierig wurde gierig. Zu gross ist wohl die Angst vor einer Frustration. Oder vielleicht zu klein? Bevor man sich trifft, hat man schon alles gesehen. Man weiss zwar nichts über den anderen, glaubt aber trotzdem, alles zu kennen. Zumindest können keine Erwartungen mehr enttäuscht werden. Das glaubt man jedenfalls.

Dieser charmante Zeitgeist bringt manche in eine moralische Zwickmühle mit der Überschrift «Sowas tut man nicht!». Solche Fotos verschickt man nicht! Das gehört sich nicht! Das ist doch wirklich niveaulos! Und das bin ich nicht. Ich bin keiner von denen, die so etwas tun! Ausserdem ist das viel zu persönlich! Viel zu intim! Nein, ich verschicke solche Fotos sicher nicht! Sicher nicht? Immer, wenn die Lust mit der Moral kommt, kommen die Dating-Apps mit Angeboten. Wie gehe ich mit dem Dilemma um, es zu wollen, aber nicht zu sollen? Eine fast philosophische Frage, auf die es seit einiger Zeit eine fast unphilosophische Antwort gibt: Das verfallende Foto. Plötzlich gibt es die Möglichkeit, es zu tun. Und es gleichzeitig nicht zu tun. Endlich kann ich mit gutem Gewissen sündigen.

Ein normales Foto sagt: Sei vorsichtig, was du verschickst! Geh lieber kein Risiko ein! Wenn das in die falschen Hände gerät! Sowas hat schon manche Karriere beendet! Das verfallende Foto sagt: Trau dich! Wir sagen es auch keinem weiter! Mit mir bist du sicher! Und nicht nur das: Fotos mit eingebautem Verfallsdatum geben einem das Gefühl der Kontrolle zurück. Ich entscheide! Man kann damit die Tür einen Spalt weit öffnen. Aber dann schnell wieder schliessen. Es ist, als wäre nichts geschehen. Man sagt damit: Ich bin eher ein Vorsichtiger. Einer, der Wert auf Seriosität legt. Eine gute Partie. Aber selbst ich bin in schwachen Momenten auch nur ein Mann! Wie menschlich!

Das Öffnen des Fotos wird zu etwas Besonderem, das nur für meine Augen bestimmt ist. Und ich muss schnell hinschauen, denn gleich ist es wieder weg! Die Welt des Onlinedating teilt sich plötzlich in zwei Teile: In sichtbar und unsichtbar, offiziell und inoffiziell, erlaubt und verboten. Oder wie Freud es sagen würde: In «Ich» und «Es».

Die Freude über die immer liberaler werdende Gesellschaft ist bei allen – zu Recht – so gross, dass man dabei schnell etwas übersieht: Die Ehe für alle, Regenbogenfamilien und die immer grösser werdende Sichtbarkeit der LGBTIQ-Community nehmen einem die Lust am Verstecken. Ein Aspekt, der gerne vergessen und übersehen wird. Verstecken kann auch etwas sehr Reizvolles sein! Und das ist jetzt wieder möglich. Zumindest ein bisschen.

Verfallende Fotos geben dem schwulen Onlinedating das Verbotene zurück. Plötzlich gibt es wieder einen Bereich des Unsichtbaren. Es ist wieder möglich, die Lust im Verborgenen zu leben. Und damit kennen sich schwule Männer nun wirklich aus. Damals waren diese dunklen Orte die Parks. Heute sind es die Dating-Apps. Damals herrschte die Angst vor der Polizei. Heute ist es die Angst vor dem Screenshot.

*Jeden Samstag veröffentlichen wir auf MANNSCHAFT.com einen Kommentar oder eine Glosse zu einem aktuellen Thema, das die LGBTIQ-Community bewegt. Die Meinung der Autor*innen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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