«Menschen glauben, ich könne nicht schwul sein, weil ich behindert bin!»

Sind Menschen mit Behinderung automatisch asexuell? Natürlich nicht, aber viele glauben das. Der schwule TikTok-Aktivist Stephen Thomas Smith setzt sich für einen anderen Umgang der LGBTIQ-Community mit Personen ein mit körperlichen und geistigen Einschränkungen

LGBTIQ-Aktivist Stephen Thomas Smith mit Blick über die Dächer von London (Foto: Instagram / @lifeofapalsy)
LGBTIQ-Aktivist Stephen Thomas Smith mit Blick über die Dächer von London (Foto: Instagram / @lifeofapalsy)

Selbstverständlich können auch Menschen mit Behinderung homosexuell sein. Aber wie geht die LGBTIQ-Community mit ihnen um, trotz diverser «Chartas der Vielfalt», die im Umlauf sind. Darüber sprach TikTok-Star Stephen Thomas Smith mit der BBC und klagte, dass viele glaubten, er könne gar nicht schwul sein, weil behindert. Das setzten sie mit «asexuell» gleich. Weil es ihnen unbequeme Fragen erspart?

Sein Instagram-Profil nennt der 24-Jährige «Life of a Palsy», also «Leben eines Menschen mit infantiler Zerebralparese». Dabei handelt es sich um eine Bewegungsstörung, die auf eine frühkindliche Hirnschädigung zurückgeht. Was zu spastisch wirkender Motorik führt. Ausserdem steht im Profiltext: «I’m out here as a loud, proud, disabled, gay man. Here to celebrate everything queer and disabled.»

Auf TikTok hat Smith ein 8-Sekunden-Video veröffentlicht, das eine Antwort darauf ist, wenn «Leute annehmen ich sei hetero, weil ich behindert bin»: Er schreit dreimal laut in die Kamera «I am gaaaaaaaaaaaaay! I am gaaaaaaaaaaaaay! I am gaaaaaaaaaaaaay!»

Smith nutzt TikTok als Aktivist, um auf die Situation von queeren Menschen mit Behinderung hinzuweisen. Erzählt der BBC aber auch, dass er sich oft gar nicht Teil der queeren Community fühle, weil ihm da permanent Diskriminierung in Form von «Ableism» (Behindertenfeindlichkeit) entgegenschlüge. «Wenn ich nach einer Pride-Parade in eine Bar oder einen Club gehen will, dann lässt man mich nicht rein. Angeblich, weil ich ‹zu betrunken› bin. Dabei bin ich völlig nüchtern. Oder man glaubt, ich sei auf Drogen», so Smith. (MANNSCHAFT berichtete über die peinliche Ausgrenzung von Behinderten in der LGBTIQ-Community.)

Stephen Thomas Smith
Stephen Thomas Smith

Verloren in einer Zwischenwelt – einem Nirgendwo Durch solche Ausgrenzungen sei bei ihm das Gefühl entstanden, er habe gar keine «Identität» innerhalb des LGBTIQ-Universums. «Es fühlt sich an, als wäre ich irgendwo in einer Zwischenwelt, einem Nirgendwo, weil ich behindert bin. So als sollte ich mich nur mit anderen Behinderten treffen.»

Aber er sei eben auch schwul, selbst wenn das niemand akzeptieren wolle. Und das sei «weird», was man hier vielleicht am besten mit «unangenehm seltsam» übersetzen könnte.

Bei seinem Coming-out im Familienrahmen sei niemand überrascht gewesen, erinnert er sich, weil er zwei ältere lesbische Schwestern habe. Aber in seiner Oberschule lief das anders, denn da sei er bis dahin nur «Die Person im Rollstuhl» gewesen. Und solche Personen hätten keine Sexualität zu haben – selbst wenn sie «camp as Christmas» seien, wie Smith sich selbst beschreibt, also auffallend tuntig.

Körperkult in der Community: Wohlfühlen in der eigenen Haut?

Inzwischen ist Smith von Manchester nach London gezogen, aber wenn er versucht sich für Dates zu verabreden, begegnet ihm nach wie vor viel Ablehnung. Das fühle sich «entmenschlichend» an, sagt Smith. Er hätte mal ein Date gehabt, wo sich der andere auf einen Kaffee hinsetzte und dann sagte: «Das ist ja wie die Sendung ‹Undatables›», also eine Episode auf der britischen TV-Sendung über Begegnungen mit Behinderten, die man nicht daten könne. «Ich sagte nur ‹Cool, das erste was dir an mir auffällt ist meine Behinderung, nicht mein Outfit.›» Smith verliess das Lokal.

Stephen Thomas Smith
Stephen Thomas Smith

Hilflose Wesen, die auf andere angewiesen sind? Einen Grund dafür, warum viele Menschen mit Behinderung als asexuell betrachten, sei laut Smith, wie sie in den Medien repräsentiert würden. «Man zeigt uns als hilflose Wesen, die auf andere angewiesen sind. So, als wären wir nur erschaffen worden, um von anderen bespasst zu werden.»

Auch würden viele Menschen mit Behinderung nicht in traditionelle Genderklischees passen: «Mann sein, heisst stark sein, auf eine bestimmte Weise zu laufen und zu sprechen. Und als Frau wird das entsprechend umgekehrt erwartet. Weil aber Menschen mit Behinderung diese Körpersprache nicht beherrschen, sieht man uns als geschlechtslos.»

Schwul und behindert – und von der Generation Grindr komplett ignoriert?

 

«Wir haben aber auch unsere sexuellen Sehnsüchte», so Smith. «Die Leute sollten aufhören, nur unsere körperliche Verfassung zu sehen und uns endlich als Menschen wahrnehmen.»

Die Leute sollten aufhören, nur unsere körperliche Verfassung zu sehen und uns endlich als Menschen wahrnehmen

Um das zu erreichen, nutzt Smith TikTok. Dort hat er in weniger als einem Jahr 48.000 Follower versammelt und 1,2 Millionen Likes bekommen. In seinen Videos setzt er Sarkasmus und witzige Übertreibungen ein, um ein Bewusstsein zu erzeugen, was es heisst, ein behinderter schwuler Mann zu sein.

Mit Humor gegen Hasskommentare «Lachen ist ein Einfallstor. Statt dass Leute über mich lachen, lachen sie jetzt mit mir. Ich finde das wichtig», so Smith. «Es erlaubt ihnen meine Behinderung besser zu verstehen, statt davon abgestossen zu werden.»

Er bekomme trotzdem noch viele Hasskommentare, erzählt er der BBC. Aber er versuche darauf mit Humor zu antworten. Als jemand seine Hände als «Spaghetti Hands» bezeichnete, machte er ein Video mit genau solchen Spaghetti-Fingern. Er versucht ansonsten, den Hass nicht an sich heranzulassen. Aber: Er bekommt auch viele positive Nachrichten. Zum Beispiel von Menschen, die erzählen, dass ihr Sohn die gleiche Behinderung habe und dass er mit seinen Videos dazu beigetragen habe, dass er mit der Situation besser umgeht.

«Mein Videos durchbrechen ein Stigma, weil sie Menschen Einblicke erlauben in die Welt von Behinderten, queeren Behinderten, aber auch queeren Körpern. Ich glaube diejenigen, die hasserfüllt sind, brauchen einfach nur mehr Aufklärung und müssen mit mehr Sichtbarkeit konfrontiert werden.»

Peinlich: Eine LGBTIQ-Community, die Menschen mit Behinderung ausgrenzt

Aufgrund seiner Behinderung benutzt Smith für längere Reisen und Wege einen Rollstuhl, zudem wird er von einem Pfleger betreut. Er fühle sich durch seine Behinderung jedoch nicht eingeschränkt, sagt er der BBC, und wurde gerade vom Royal Collage of Art in London für einen Studiengang Fotografie angenommen. Er arbeitet auch als Fashion-Fotomodell, wie man auf vielen seiner Instagram-Bilder sehen kann.

«Ich wünschte mir, es würde mehr Menschen mit Behinderung in den Mainstreammedien geben. Und ich würde gern mehr ‹bad-ass› Behinderte sehen, die aussergewöhnliche Sachen machen.»

Einen Anfang hat 2019 u. a. die wunderbare Netflix-Serie «Special – Ein besonderes Leben» des schwulen Amerikaners Ryan O’Connell gemacht, der auch selbst die Hauptrolle spielt (MANNSCHAFT berichtete). Aber es ist noch viel Luft nach oben.

Und zum Schluss: Natürlich können auch Menschen mit Behinderung asexuell und Asexuelle Menschen mit Behinderung sein. Aber das ist eine andere Geschichte, nicht die, von der Smith hier erzählt.

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