Kim de l’Horizon ist nicht auf Krawall aus

Der Literaturstar hat erstmals in seiner Heimat Bern gelesen

Kim de l’Horizon bei einer Lesung in Bern (Archivbild: Denise Liebchen)
Kim de l’Horizon bei einer Lesung in Bern (Archivbild: Denise Liebchen)

Entwaffnender Auftritt: Kim de l’Horizon liest im Stadttheater aus dem prämierten «Blutbuch» sowie aus dem neuesten Wurf «Fäuste und Küsse».

Es braucht zusätzliche Stühle, damit sich alle setzen können, die gekommen sind zu der Lesung von Kim de l’Horizon. Der nicht-binäre Shootingstar der Literaturszene betritt das Foyer des Berner Stadttheaters und setzt sich auf einen rotsamtigen Stuhl.

Bis das Publikum das erste Mal lacht, dauert es nicht lange. Der Grund: Gleich zu Beginn offenbart Kim, Lesungen schwierig zu finden. Kim selbst könne anderen Vorlesenden nicht länger als zehn Minuten folgen und wolle hier niemanden langweilen. Das Publikum an diesem Mittwochabend kann länger als zehn Minuten und will es offensichtlich auch – gerührt und amüsiert von den Passagen aus Kims prämierten Erstling «Blutbuch» und dem neusten Text «Fäuste und Küsse».

Über «Wunden, die wir alle tragen» «Fäuste und Küsse» ist ein Artikel von Kim, den die Neue Zürcher Zeitung im Oktober veröffentlicht hatte und der nun als schmales Büchlein erhältlich ist. Ein Text, der sich um den 30. September 2022 dreht. Der Tag, an dem zwei Männer Kim angegriffen haben: ein Unbekannter mit Fäusten in der Berliner U-Bahn und ein Schweizer Bundesrat mit Worten in einer Pressekonferenz. Kim wendet sich in diesen Zeilen an die beiden Männer, die unterschiedlicher nicht sein könnten, sich aber vereinen in ihrem Hass gegen das, was Kim verkörpert.

Dabei stellt sich Kim moralisch nicht über die beiden Männer, sondern gibt zu, selbst in der Schule ein Mädchen verprügelt zu haben. Kim ist nicht auf Krawall aus, sondern zeigt Verständnis für «die Wunden, die wir alle tragen». Die Antwort im Text ist eine der Versöhnung. Und genau diese Haltung verleiht Kim das Potenzial zu einer wichtigen öffentlichen Figur des Dialogs zu werden – in einer polarisierten Gesellschaft, die nur profitieren kann von der Empathie, um die es in «Blutbuch» (MANNSCHAFT berichtete) und «Fäuste und Küsse» geht.

Wie Kim über die neue Rolle in der Öffentlichkeit denkt, erfährst du in diesem persönlichen Interview, das MANNSCHAFT vor der Lesung geführt hat.

Kim auf den Zahn gefühlt Der Abend war ein Heimspiel für den neuen Literaturstar: Nicht nur, weil Kim wenige Kilometer entfernt vom Stadttheater aufwuchs, in Ostermundigen. Sondern auch, weil Kim ein Jahr lang als Hausautor*in bei den Bühnen Bern arbeitete, etwa mit der Chefdramaturgin Schauspiel Bern, Felicitas Zürcher.

Dieses Mal treffen sich die beiden auf der Bühne und die Chefdramaturgin fühlt Kim auf den Zahn. Kim spricht über den Schreibprozess, der zehn Jahr vordauerte, bis das «Blutbuch» besiegelt war und hunderte Versionen hervorbrachte, über die tiefe Bedeutung von Familie und Hexerei. Zwischendurch erhebt sich Kim vom Stuhl und singt ein englischsprachiges Lied, ohne dies näher zu erklären. Ein Verhalten, das vermuten lässt, wie Kim durch den Tag und das Leben geht: intuitiv und vertrauend.

Mit dem Erstling «Blutbuch» hatte Kim de l’Horizon Mitte Oktober den Deutschen Buchpreis gewonnen (MANNSCHAFT berichtete), kurz darauf folgte der Schweizer Buchpreis. Seitdem füllt das «Blutbuch» meterhohe Regale in den Buchläden.

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