«Homosexuelle Paare wurden schon im 13. Jahrhundert gesegnet»

Judentum, Christentum, Islam an einem Tisch: Wie queer darf’s sein?

Gute Stimmung in der MANNSCHAFT-Runde: Weit liegen die Religionen nicht auseinander (Bild: Sven Serkis)
Gute Stimmung in der MANNSCHAFT-Runde: Weit liegen die Religionen nicht auseinander (Bild: Sven Serkis)

Judentum, Christentum, Islam. Wie weit liegen die drei Religionen auseinander und was verbindet sie? Und: Wie viel Queersein ist erlaubt? Wir haben drei queere Vertreter*innen zum Gespräch gebeten:

Bertold Höcker (65) war von 2009 bis zum Sommer 2023 Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Berlin Stadtmitte. Seyran Ates (60) hat 2017 die liberale, LGBTIQ-freundliche Ibn-Rushd-Goethe Moschee in Berlin gegründet. Helene Braun (26) aus Berlin ist angehende Rabbinerin und studiert im 5. Jahr am Abraham Geiger Kolleg in Potsdam.

Bertold, du warst 14 Jahre Superintendent in Berlin. Unter deiner Leitung nahmen der Kirchenkreis und die evangelische Kirche 2017 erstmals an der CSD-Parade teil… Bertold: Da fahren wir zusammen auf dem Wagen der Religionen: jüdische, christliche und muslimische Menschen. Eine ganz tolle Errungenschaft, finde ich. Wir laden auch immer die Buddhist*innen mit ein, Voraussetzung ist aber: Die müssen finanziell was dazu geben, aber das wollen sie nie. So ein Wagen kostet immerhin 25 000 Euro.

Wir hatten mal vor, Kondome zu verteilen mit dem Luther-Zitat: «Hier stehe ich, ich kann nicht anders» – aber dann haben wir uns für Armbändchen mit «Liebe tut der Seele gut» entschieden.

Ausserdem feiert ihr in der Marienkirche immer einen Gottesdienst vor dem Christopher Street Day. Bertold: Es ist der einzige CSD-Gottesdienst, der multireligiös ist. Bisher sind die anderen CSD-Gottesdienste in Deutschland ausschliesslich christliche; bei uns ist es eben multireligiös. Wir bilden so ein bisschen die Spitze von dem, was möglich ist.

Und wir als Kirchenkreis kümmern uns schwerpunktmässig um queere Geflüchtete aus der Ukraine. Trans Personen aus Russland oder Tschetschenien: Was die von Folter erzählten, das ist so schrecklich. Sie kommen in Notwohnungen, damit sie in der Flüchtlingsunterkunft nicht weiter diskriminiert oder verprügelt werden. Da bin ich froh, evangelisch zu sein. Wir arbeiten aber auch sehr gut mit dem Staat zusammen.

Du pflegst engen Kontakt mit der Ibn-Rushd-Goethe Moschee von Seyran Ates, die auch den CSD-Gottesdienst mitgestaltet. Seyran: Die Moschee hätte es ohne Bertold nicht gegeben. Er hat uns damals den ersten Raum vermittelt. Als ich mich in der Kirchengemeinde vorstellte, fragte jemand, ganz freundlich: Es gibt so viel Leerstand. Andere Moscheegemeinden mieten Gewerbeeinheiten – warum wollen Sie zu uns? Ich sagte: «Weil Gott schon da ist.» Und damit habe ich die Herzen gewonnen. Mein Ziel war eine Moschee für alle – egal ob sie an denselben Gott, an einen anderen Gott, an viele Götter oder gar nicht an Gott glauben. Agnostiker*innen kommen übrigens gerne zu uns, weil sie mit uns über den Sinn des Lebens, über Moral, über Seele, Himmel und Hölle am besten diskutieren können.

Helene ist angehende Rabbinerin. Inwieweit ist Interreligiosität ein Thema in der Ausbildung? Helene: Immer wieder, zum Beispiel wenn sich Menschen verlieben und es zu interreligiösen Hochzeiten kommt. Das ist einfach unglaublich kompliziert. Aber das liebe ich. Mit LGBTIQ, einer Vielzahl von Geschlechtern und Sexualitäten, gibt es ja immer noch mehr Möglichkeiten, wer wen heiraten will und kann.

Ich bekam total absurde Vorstellungen davon, wie man aussehen müsste, je nachdem welche Sexualität man lebt.

Ich bin in Hannover aufgewachsen, meine Familie und meine Synagoge sind liberal. Sexualität spielte gar keine Rolle, im positiven Sinn. Mir wurden auch immer feministische Werte vorgelebt. Das heisst nicht, dass alles einfach war. Ich habe damals auch vor Google gesessen oder irgendwelche Quizze in der Bravo gemacht.

Das führte zu total absurden Vorstellungen davon, wie man aussehen müsste, je nachdem welche Sexualität man lebt. Darum ist es super, dass es heute so viele Onlineangebote gibt und Stellen, an die man sich wenden kann.

Seyran, ihr habt letztes Jahr als erste Moschee überhaupt eine Regenbogenflagge gehisst. Dafür wurdet Ihr vielfach angefeindet und bedroht. Von politischer Seite gab und gibt es viel Unterstützung. Seyran: Kai Wegner war dabei und er kam dieses Jahr als Regierender Bürgermeister wieder (MANNSCHAFT berichtete). Auch Klaus Lederer nahm letztes Jahr teil, als Kultursenator. Er sagte zu mir, sinngemäss: «Ich kriege so viele Einladungen zu Hissungen von Regenbogenfahnen, das ist für uns schon wieder eine gewisse Normalität. Aber es war für mich klar, dass ich zu euch in die Moschee komme. Denn ihr riskiert noch was.»

Regenbogenflaggen an einer Synagoge gab es noch nicht, oder? Helene: Nicht in der Form. Viele Synagogen sind ja vielleicht auch froh, wenn sie nicht so sichtbar sind und keine Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Es reicht vielen ja schon, wenn man die Synagogen an der Polizei davor erkennt.

Bertold, hast du für deine Initiativen Anfeindungen erlebt? Bertold: Ich war immer der Hassgegner von Idea, einer eher konservativen christlichen Zeitung. Für die war ich der Schlimmste überhaupt, besonders als Oberkirchenrat. Damals hatte ich noch eine Professur und habe die Forschung zu gleichgeschlechtlichen Segnungen des Hochmittelalters vorangetrieben. Das fanden die ganz furchtbar.

Der Verdacht war immer: Aha, weil er schwul ist, macht der das so. Mein damaliger Bischof, ein sehr konservativer Mann, hat mir die Zuständigkeit für das Thema entzogen. Ich bin vor das Kirchengericht gegangen und sagte: Aber der Bischof sagt doch auch was zur Ehe – und ist betroffen. Dem schloss sich das Gericht an, und ich bekam die Zuständigkeit wieder. Wenn Betroffenheit ein Argument ist, dann kann man ja gleich aufhören.



Helene, du setzt dich für die Rechte von LGBTIQ ein und bist Gründungsmitglied des deutschen Vereins Keshet (Hebräisch für Regenbogen) für jüdische Queers. Helene: Ich habe mir das gar nicht so sehr auf die Fahne geschrieben, aber durch die Aufmerksamkeit finden Leute den Weg zu mir, für die das wichtig ist. In vielen Gemeinden weiss man immer noch nicht, was denn diese Buchstaben LGBTIQ heissen?

Das Schönste sind die vielen kleinen Momente, wenn wir als Keshet irgendwo einen Stand haben und ein 12-jähriges Kind kommt und sagt: «Ich bin so froh, dass es euch gibt» und von seinen Problemen zuhause oder in der Schule erzählt. Dafür lohnt sich die Arbeit, für dieses eine Kind.

Seyran (nickt): Junge Menschen sagen: Was soll ich denn machen? Warum soll ich mich entscheiden zwischen Gott und meinem Mann, meiner Frau, meiner Liebe? Mein Neffe Tugay etwa ist heute LGBTIQ-Koordinator in der Moschee. Aber vor der Eröffnung war er eigentlich abgedriftet in die Radikalität. Als Teenager hatte er gegoogelt: Islam und Homosexualität. Da ist er nur auf Ablehnung gestossen. Du musst dich gesund beten, hiess es da. Also versuchte er sich gesund zu beten, damit er nicht mehr schwul ist. Wie viele andere auch. Seit es uns gibt, findest du im Netz unfassbar viel Hilfe und positive Berichte über muslimisch und queer sein.

Seyran Ateş
Seyran Ateş

Dadurch bekommt ihr Zuschriften aus der ganzen Welt. Seyran: Da ist eine Frau in Mexiko. Sie ist zum Islam konvertiert und geht in die nächstgelegene Moschee, eine sehr konservative Gemeinde. Sie möchte inzwischen lieber ein Teil unserer Gemeinde sein, weil die Moscheen in Mexiko City sehr homophob sind, da will sie nicht hin. Denn ihr Bruder ist schwul. Das ist so rührend, da kriege ich Gänsehaut.

In Moskau haben wir ein lesbisches muslimisches Paar getraut. Einer unserer Imame ist arabischer Muttersprachler aus Ägypten und hat die Trauung online gemacht. Die beiden Frauen gehören jetzt zu unserer Gemeinde.

Ihr habt vermutlich alle gehadert bei eurem Coming-out. Erstmal wird es einem als Gegensatz vermittelt: Religion und Homosexualität. Aber ihr habt dann sogar eure Religion zum Beruf gemacht. Helene: Ich musste irgendwann feststellen, dass meine liberale Erziehung überhaupt nicht widerspiegelte, wie die Welt ist, eben nicht so liberal. Das war auch einer der Hauptgründe, mich bei Keshet zu engagieren. Denn für andere ist es eben vielleicht nicht so einfach, in der Gemeinde oder im Elternhaus, zu sagen: queer und jüdisch, passt zusammen.

Seyran: Ich bin bisexuell: Ich liebe Männer, ich liebe Frauen. Wenn die Leute das hören wollen, sage ich es ihnen gerne. Aber wen interessiert, mit wem ich ins Bett gehe? Das hat mir immer Kopfzerbrechen gemacht. Hört auf euch einzumischen in die intimste Sphäre eines Menschen!

Bertold: Aus meiner Sicht ist das eine Frage der Berufung, und gegen die kann man auf Dauer nicht angehen. Das muss man durchsetzen, egal was es kostet. Da hilft auch wieder die Religion, sich selbstsicher zu behaupten und zu wissen: Gott hat mich so geschaffen. Die Psalmen sind voll von solchen Aussagen. Deswegen kann es nicht falsch sein.

Bertold Höcker
Bertold Höcker

Warst du von Anfang an offen schwul? Bertold: Ja. Ich war fünf Jahre Erster Vorsitzender der Aids-Hilfe Kiel. In einer Zeit, in der es noch keine Medikamente gab. Da habe ich in einem Jahr 30 Menschen beerdigt, die jünger waren als ich. Weil alle wollten, dass ich sie bestatte. Ich war da gerade Vikar, nach dem ersten theologischen Examen.

Und wie war es in der Kirche? Bertold: Ich bin ein sogenannter Spätberufener. Damals wurde man als schwuler Mann wenigstens nicht mehr entlassen. Und es gab die Toleranten unter den Personalverantwortlichen, die haben einen dann nicht aufs Land geschickt. Inzwischen spielt das keine Rolle mehr.

Es hat sich so sehr verändert. Es gab bei uns einen richtigen Quantensprung, und das innerhalb einer Generation. Wenn man bedenkt, wie langsam sonst religiöse Entwicklungen verlaufen, dann ist die ganze Debatte und die Gleichstellung von queeren Lebensentwürfen im Rekordtempo gelaufen.

Bertold Höcker

Leider nicht bei der katholischen Kirche. Bertold: Nein. Der Papst ist weiterhin reaktionär und sagt, er will nichts ändern. Da können die hier in Deutschland viel beschliessen, das interessiert den Vatikan nicht, auch nicht die katholische Weltgemeinschaft. Aber man muss das durchkämpfen. Auch wenn man weiss, man wird es für die eigene Generation nicht mehr erreichen.

Seyran: Uns wurde nach der Moschee-Eröffnung oft gesagt: Nicht mal die katholische Kirche ist so weit! Es hiess immer, ich sei zu fordernd und eine Provokation für die Mehrheit der Muslim*innen. Ich müsse doch verstehen, dass «nicht mal die Katholiken» so weit sind. Wie könne ich denn eigentlich mit meiner Gemeinde meinen, so modern zu sein, was Gleichberechtigung für Frauen, Anerkennung von LGBTIQ angeht!

Bei den Katholik*innen sind es die Männer, die den Ton angeben. Im Islam auch. Wie ist das im Judentum organisiert? Helene: Man muss Judentum ein bisschen getrennt betrachten: Jüdischsein ist ja nicht allein Religion. Jüdische Menschen haben ihre Identität und ihre Tradition, Kultur, Essen, Tanz und Musik und all das. Egal ob Gott und Religiosität eine Rolle spielt – sie sind jüdisch.

Sowas wie einen Chef oder Papst gibt es bei uns nicht. Rabbiner*innen stehen auf derselben Ebene wie alle anderen Menschen, jedenfalls nach meinem Verständnis vom Judentum. Wir haben das «Beit Din» – ein Gericht, das sich immer aus drei Rabbiner*innen zusammensetzt. Das ist dann verantwortlich für Fragen wie Scheidung oder Konversion zum Judentum. Da es sich divers zusammensetzen kann, bedeutet das: Eine Frau in einem Land X, die sich von ihrem Mann scheiden lassen will, kann sich zum Beispiel in Berlin ein «Beit Din» suchen, um Unterstützung zu finden.

Seyran: Das machen wir im Islam auch. Weil sich viele Gemeinden weigern, den Scheidungsantrag von Frauen anzunehmen, machen wir das für sie. Im Islam gibt es diese flache Hierarchie genauso, ohne irgendeine Institution zwischen Mensch und Gott.

Juli 2023: Die Ibn-Rushd-Goethe Moschee hisst die Regenbogenflagge, mit Berlins Reg. Bürgermeister Kai Wegner (4.v.l.). (Bild: Kriss Rudolph)
Juli 2023: Die Ibn-Rushd-Goethe Moschee hisst die Regenbogenflagge, mit Berlins Reg. Bürgermeister Kai Wegner (4.v.l.). (Bild: Kriss Rudolph)

Die grossen Fragen, etwa Ehe für alle, «Konversionstherapie», das entscheiden doch weiter Männer. Seyran: Seit der Entstehungsgeschichte des Islams haben sich in jedem einzelnen Land neue Traditionen entwickelt, angepasst an die dort existierenden Traditionen und die Gesellschaft. Es kamen einzelne Rechtsschulen auf, immer beeinflusst von Machtstreben in patriarchalen Strukturen.

Da kann sonstwas im Koran stehen – am Ende entscheidet die toxische Männlichkeit. Die Grundlage für eine Weltgemeinschaft der Muslime hat aufgehört im 7. Jahrhundert, nach dem Tod des Propheten. Alles, was danach gekommen ist, ist länderspezifisch, ob in Marokko, Iran oder der Türkei.

Länderübergreifend scheint doch im Islam Einigkeit darüber zu bestehen, dass homosexuelle Liebe gar nicht geht. Bertold: Man ist homophob, da kann man sich schnell drauf einigen. Das ist auch bei evangelikalen Fundamentalist*innen so.

Seyran: Es gab im Islam auch immer schon liberalen Kräfte, die sich einig waren, auch schon im 8. oder 9. Jahrhundert. Dass es Schwule, Lesben, trans und inter Personen gibt, dazu findest du genug Literatur, nicht nur Gedichte und Lyrik, auch wissenschaftliche Literatur. Menschen haben einfach gelebt und geliebt, wie sie wollten, ohne dass es religiös bewertet oder verboten wurde.

Es ist ein allgemeiner Trend, dass sich Menschen von religiösen Institutionen lösen.

Bertold: Es gab auch schon im 13. Jahrhundert Segnungen gleichgeschlechtlicher Paare in den nach der Teilung des Karolinger Reichs entstanden Gebieten, das wären heute Frankreich, Italien, Deutschland, Teile von Spanien und England.

Helene Braun
Helene Braun

Gibt es im Judentum eine offizielle Lehrmeinung etwazur Ehe für alle? Helene: Nein. Am Ende entscheidet jeder Rabbiner, jede Rabbinerin für sich: Ich mache diese Trauung oder eben nicht. Es kann allerdings sein, dass er oder sie dadurch aus bestimmten Kreisen ausgeschlossen wird. Keiner steht über irgendeinem anderen. Und es gilt: Die Tradition ist die Uneinigkeit.

Seyran: Was uns von den Menschen oft entgegengeschleudert wird, ist die Geschichte von Lot. Homosexualität sei verboten, wegen Sodom und Gomorra. Das ist ganz oberflächlich und natürlich Quatsch. Wir sagen dann: Hast du das richtig gelesen, was steht denn da wirklich?

Bertold: Es wird oft nicht unterschieden zwischen dem, was in den heiligen Texten steht, und der kulturellen Überlieferung. Damit fing in der Evangelischen Kirche der ganze Paradigmenwechsel an, dass unterschieden wurde zwischen dem, was da wortwörtlich steht – und der kulturellen Überlieferung. Die Überlieferung ist viel homophober. Da stellte die theologische Forschung dann fest: In den Texten steht das gar nicht drin!

Nun erreicht die Zahl der Kirchenaustritte jedes Jahr neue Rekorde. Kann man das auch in jüdischen Gemeinden beobachten? Helene: Es gibt unglaublich viele Menschen, die nicht in einer Gemeinde sind. Wir haben zwar auch Gemeindezahlen, aber es ist sehr, sehr schwierig, jüdische Menschen in Deutschland zu zählen. Was die Zahl der Gemeindemitglieder betrifft: Die geht jedes Jahr runter, gerade auch in Berlin sehr stark.

Bertold: Es ist ein allgemeiner Trend, dass sich Menschen von religiösen Institutionen lösen. Das hat mit dem Glauben gar nichts zu tun, sondern mit einem bestimmten Verständnis von Mitgliedschaft. Das ist heute nur noch Affective Belonging. Das heisst: etwas Gefühltes. Ich bin so lange dabei, wie es mir was bringt.

Seyran: Darum habe ich die Moschee als gemeinnützige GmbH gegründet, nicht als Verein. Man muss sich nicht als Mitglied registrieren oder monatlich einen Betrag zahlen. Das ist mein Ansatz: Menschen sollen kommen, die einen Ort für ihre Spiritualität suchen.

Es gibt aber gerade bei den christlichen Kirchen durch die Missbrauchsfälle noch einen konkreten Grund für die Austritte. Bertold: Klar ist: Missbrauch darf nicht sein. Missbrauch ist immer schrecklich. Ich würde aber mal sagen, bei den institutionalisierten Grosskirchen hat man auch ganz anders hingeguckt. Wenn man in dem Masse bei den Sportvereinen hinschauen würde, würde man genauso viel finden.

Auch muslimische Autoritäten missbrauchen ihre Position für sexuelle Übergriffe, und zwar weltweit.

Seyran: In Deutschland gibt es eine politische Übereinkunft, dass man bei Muslim*innen nicht zu kritisch ist. Man will keine Islamfeindlichkeit oder Ausländerfeindlichkeit schüren. Die Fälle werden bekannt, weil es hin und wieder Strafanzeigen gibt, aber das wird unter den Teppich gekehrt. In den islamischen Ländern gelangen durchaus Fälle an die Öffentlichkeit, es existieren absolut identische Probleme mit muslimischen Autoritäten, die ihre Position für sexuelle Übergriffe missbrauchen, und zwar weltweit.

Selbstverständlich existiert auch unter Muslimen ein struktureller Sexismus: Machtmissbrauch, sexueller Missbrauch und Vergewaltigung – unter Moschee-Leitern in Deutschland, den Hodschas, die Koranschulen leiten, unter den Mullahs im Iran oder den Imamen in der Türkei oder den Sheiks anderswo.



Wenn man sich die Zahl der Kirchenaustritte ansieht: Liegt es auch daran, dass die Leute sich weniger für Religion interessieren? Bertold: Es gibt eindeutige Studien, die dem widersprechen. Laut dem aktuellen Religionsmonitor 2023 der Bertelsmann Stiftung finden 59 Prozent aller Befragten in Deutschland, Religion passt in die Moderne. Nur ein Drittel der Bevölkerung hat keinen Bezug zur Religion. Demnach ist religiöses Verhalten überhaupt nicht rückläufig, wohl aber das institutionell gebundene Verhalten. Die Menschen fragen sich: Was hat mein Leben für einen Sinn, warum bin ich überhaupt da? – und das wird weiterhin auch religiös beantwortet. Aber immer unkritischer und intuitiv, das hält in der Krise nicht stand.

Seyran: Es wird spiritueller. Menschen sagen: Ich glaube nicht an Religion, ich glaube an Gott. Ich selber mag Orte, wo es Spiritualität gibt. Ich geh gerne in Kirchen, gerne in Synagogen, aber ungern in Moscheen. Warum? Weil mir in traditionellen Moscheen als Frau gesagt wird, ich darf mich nicht im schönen Hauptraum aufhalten und beten, wo auch die Männer sich aufhalten und beten.

Helene: Es ist wichtig, dass es eine Institution gibt, die sich Gemeinde nennt, da können die Menschen zusammenkommen. Egal ob das zum Beten oder zum Backen ist. Wenn Leute austreten, wo treffen sie sich dann? In Berlin gibt es ein grosses Angebot an Vereinen, Clubs und anderen Organisationen, auf den Dörfern und in kleineren Städten nicht. Dort sind die Leute halt jüdisch, gehen aber nirgends hin, und ich glaube nicht, dass es gut ist. Menschen brauchen einander. Ich habe keine Lösung, da die Herausforderungen gross sind, aber ich möchte mich für eine jüdische Zukunft, überall in Deutschland, einsetzen.

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