Die Systemsprengerinnen: Wann ist eine Frau eine Frau?

Warum eine Person, die sich als trans identifiziert, nicht pauschal nach geplanten Operationen oder Hormontherapien gefragt werden sollte

Bailey Stiles zeigt auf ihrem Instragramprofil, wie herrlich unkonventionell der Alltag in L.A. sein kann. (Bild: Like Gilford)
Bailey Stiles zeigt auf ihrem Instragramprofil, wie herrlich unkonventionell der Alltag in L.A. sein kann. (Bild: Like Gilford)

Wem steht es zu, über die Körperwelten von Mann und Frau zu urteilen? Luka Machado und Bailey Stiles sind zwei trans Frauen, die sich grundlegend mit ihrer Geschlechtsidentität auseinandergesetzt haben.

2021 verkündete der beliebte dänische Spielzeughersteller Lego, dass er seine Produkte zukünftig geschlechtsneutral vermarkten werde (MANNSCHAFT berichtete). Vorbei sei die Zeit, in der man geltende Geschlechterstereotype nutzen wolle, um die Kassen klingeln zu lassen. Ein modernes Statement, das Raum für das Entdecken der eigenen Identität fern allzu festgefahrener Wege lässt. Schon in unserer frühsten Kindheit werden wir mit unzähligen, meist starren Rollenbildern konfrontiert, die uns die Norm vorzeigen. Nur wählen wir diese selten selbst aus, sondern werden sie vielmehr von aussen an uns herangetragen. Seien es Ideen unseres sozialen Umfelds oder propagierte Rollenbilder einer Gesellschaft, die auch heute noch auf einem überwiegend binären System fusst, das die Rubriken «weiblich» und «männlich» als feste Differenzierungsgrössen heranzieht.

Sich erkennen Die Künstlerin, Produzentin, Sprachforscherin und Aktivistin Luka Machado kommt aus Três Coroas, Brasilien, und arbeitet aktuell an einem ambitionierten Filmprojekt. «INTRANSITIVO: um documentário sobre narrativas trans» zeigt Ausschnitte aus dem Alltag von acht trans Menschen und beschäftigt sich mit Transitions-, Identitäts- und Diskriminierungsaspekten. Dass sie genau die Richtige ist, einen solchen Film zu realisieren, liegt in der Geschichte der 23-Jährigen begründet. «Seit 2019 bin ich in einer romantischen Beziehung mit einer trans maskulinen Person. Zuvor sah und identifizierte ich mich als schwuler cis Mann. Aufgrund unserer Verbindung begann ich aber, mich selbst zu erkennen», erinnert sich Luka.

«Nachdem ich viel recherchiert hatte und mir zunehmend bewusster wurde, nicht mit dem mir zugewiesenen Geschlecht übereinzustimmen, stolperte ich irgendwann über trans Menschen, die mit festgelegten cis Schönheits- und Ästhetikstandards brechen. Das war sehr wichtig, um mich als diejenige zu bestätigen, die ich heute bin.» Luka trägt ihren Bart mit Stolz und hat nicht vor, sich Operationen oder hormonellen Eingriffen zu unterziehen, um ihrem Frausein optisch weiter Ausdruck zu verleihen.

Über 7200 Kilometer weiter nördlich entdeckte auch die aus Missouri stammende und heute in Los Angeles ansässige Bailey Stiles, dass ein männliches Geschlechtslabel nicht mit dem vereinbar war, was ihr Gefühl ihr zu vermitteln versuchte. «Mein ganzes Leben lang wusste ich von der Frau, die ich bin, nur wusste ich lange nicht, dass diese Empfindung etwas war, das Wirklichkeit werden konnte», erklärt die Haarstylistin. Anders als Luka entschied sich Bailey für angleichende Eingriffe, eine Hormontherapie, und zelebriert ihre neu gewonnene Weiblichkeit nun in vollen Zügen. Zum Beispiel in dem Video zum Song «Kerosene!» des Musikers Yves Tumor. Darin verführt sie den Protagonisten auf sinnliche Weise, enthüllt ihre Kurven und beeindruckt durch ihr selbstsicheres Auftreten.

Es sollte in Unterhaltungen vermieden werden, eine Person, die sich als trans identifiziert, pauschal nach geplanten Operationen oder Hormontherapien zu fragen.

Verklärte Stereotype «Es gibt verschiedene Mythen über trans Personen, die als absolute Wahrheiten angesehen werden», mahnt Luka. Zum Beispiel werde jeder trans Frau und jedem trans Mann automatisch unterstellt, den eigenen Körper zu hassen. Zwar gebe es tatsächlich viele, die unter ihrer Physiologie litten, was man in der Psychologie als Geschlechts- oder Genderdysphorie bezeichne, nur sei dies eben kein universelles Mass, um zu beurteilen, ob jemand trans sei. Die öffentliche Zurschaustellung idealisierter trans Körper und die gleichzeitige Bewertung chirurgischer und hormoneller Eingriffe als Patentlösung gegen Zerrissenheitsempfindungen mache zusätzlich Druck.

«Insgesamt sind zu wenig diverse Auffassungen im öffentlichen Diskurs verfügbar und cisnormatives Aussehen spielt nach wie vor eine übergeordnete Rolle. Ich möchte dieses System durchbrechen. Ferner sollten wir es in Unterhaltungen vermeiden, eine Person, die sich als trans identifiziert, pauschal nach geplanten Operationen oder Hormontherapien zu fragen. Das ist stigmatisierend. Cis Menschen lassen sich ebenfalls chirurgisch oder hormonell behandeln und werden nicht danach befragt.»

«Alle sollten ihrem eigenen Körper und Geist folgen dürfen», sagt Bailey. «Ich selbst habe nie gezögert, sondern mich stattdessen schlau gemacht. Gespräche, aber auch klinische Fragebögen können helfen, die richtigen Entscheidungen für sich zu treffen. Wir alle befinden uns stetig in Transitionsprozessen, in Übergangs- und Entwicklungsphasen. Sie sind nie abgeschlossen, auch nicht mit einer OP.» Doch ist es manchmal eben genau diese, die dafür sorgt, dass sich eine Zufriedenheit einstellen kann, die vorher unerreichbar schien. Dank der modernen Medizin ist es möglich, Brüste, Penisse oder Vulven zu formen, wo die Natur andere genetische Ausprägungen vorgesehen hat. Stimmenfarben und das äusserliche Erscheinungsbild lassen sich derart modifizieren, dass man dem inneren Selbstbild näher denn je kommen kann. Dass das manchmal zu einer gewissen Neugier oder sogar Schaulust anderer führt, weiss auch Bailey zu berichten: «Ein paar Leute werden wie von dir besessen sein, andere Leute nehmen hingegen Abstand und deine wahren Freund*innen bleiben dieselben, die sie auch vorher schon waren.»

Aus der medizinischen Praxis Oliver Markovsky, Chefarzt am Transgenderzentrum der Dr. Lubos Kliniken München Bogenhausen und Pasing, führt mit seinen Kolleg*innen jährlich etwa 1000 geschlechtsangleichende Eingriffe durch. Dazu gehören auch circa 150 Penoidaufbauoperationen und 200 OPs zur Bildung einer Neovagina. Aus Sicht des Experten sind der definitive Wunsch der Patient*innen, die psychiatrisch oder psychologisch gesicherte Diagnose der Geschlechtsdysphorie und die chirurgische Durchführbarkeit – denn nicht jeder Körper oder jedes Körperteil sei anatomisch geeignet – zwingende Voraussetzungen für entsprechende Eingriffe. Wichtig seien ferner aber auch realistische Vorstellungen in Bezug auf das potenziell zu erreichende Ergebnis, denn allzu oft erwiesen sich die Erwartungen der Klient*innen als zu gross. Dies stelle dann wiederum eine mögliche Kontraindikation, also ein potenzielles Gegenargument für eine Behandlung dar. Genauso wie Unsicherheiten, was die Operationen betrifft, oder seelische Umstände und Erkrankungen, die eine Behandlung unmöglich machen können. Die Kosten für Hormontherapien und die geschlechtsangleichenden Operationen tragen sowohl in Deutschland als auch in Österreich und der Schweiz die Krankenkassen.

oliver markovsky
oliver markovsky

Allerdings gibt es bestimmte Schritte, die im Voraus durchlaufen werden müssen. Zum Beispiel bedarf es einer Stellungnahme durch qualifiziertes Fachpersonal, in der entsprechende Eingriffe ausdrücklich empfohlen werden. Meist gründen solcherlei Einschätzungen auf psychotherapeutischen Sitzungen, teilweise auch inklusive des so genannten Alltagstests, bei dem Betroffene über einen festgesetzten Zeitraum ihr psychisch empfundenes Geschlecht in verschiedensten Situationen austesten sollen. Auf die Frage, wie zeitgemäss dieses von Transverbänden oft kritisierte Vorgehen noch sei, antwortet Markovsky: «Eine Psychotherapie zur Behandlung oder vermeintlichen Heilung der Genderdysphorie ist sicher fehl am Platz. Die psychologische Begleitung und Exploration zur Sicherung der Diagnose und zum Ausschluss anderer Gründe, die den Wunsch nach geschlechtsangleichenden Operationen nach sich ziehen, sind aus meiner Sicht aber essenziell.»

++ Das fehlende Puzzleteil – Wie Epithesen trans Männern helfen (MANNSCHAFT+) ++

Den besagten Alltagstest pauschal zu verlangen, schätze er hingegen als schwierig ein, weil er nicht für jede*n realistisch umsetzbar sei. «Meiner Meinung nach hat es trotzdem eine Daseinsberechtigung, die gewünschte Geschlechterrolle im sozialen und beruflichen Umfeld vor irreversiblen operativen Eingriffen zu erproben, auch wenn manchmal Einzelfallentscheidungen davon abweichen.» Nicht zu vernachlässigen seien schliesslich auch medizinische und psychologische Weiterbehandlungen, die sich an durchgeführte Eingriffe anschliessen. Zu diesen zählten Gesprächsangebote, aber auch Nachuntersuchungen durch die Operateur*innen oder entsprechende Fachärzte (Urologie, Gynäkologie, plastische Chirurgie, Endokrinologie).

Ein Weg zurück? Immer wieder kursieren Gerüchte, viele Betroffene bereuten Eingriffe wie die von Markovsky durchgeführten im Anschluss. Auch grosse Tageszeitungen titelten in jüngster Vergangenheit mit entsprechenden Schlagzeilen. Aber wie zahlreich sind diese Fälle? «Leider gibt es sogenannte ‹Regretter› tatsächlich. Manchmal sind dann auch rückführende Operationen notwendig», räumt Markovsky ein. «Zum Glück ist dies meiner Erfahrung nach aber sehr selten.» Studien wie die von Friedemann Pfafflin bestätigen, dass es sich um wenige Einzelfälle (zwischen 1-1,5 %) handelt und dass diese meist in Zusammenhang damit stehen, dass die oben geschilderten Vorabschritte unzureichend durchgeführt wurden.

(Trans-)Frausein im Kontext der Zeit Was bedeutet es, sich als trans Frau in einer patriarchal geprägten Gesellschaft zu bewegen? Während Bailey betont, dass es dafür Kraft brauche, was mal leichter und dann wieder schwerer sei – man denke nur an die zweifelhaften Reglungen und Beschränkungen unter der Trump-Administration in ihrer Heimat -, findet Luka folgende Worte: «Sich in einer sexistischen und frauenfeindlichen Welt als weiblich zu identifizieren, heisst, dass man jeden Tag dafür kämpfen muss, so zu sein, wie man ist. Die französische Feministin und Gesellschaftstheoretikerin Simone de Beauvoir sagte einst, dass man nicht als Frau geboren sei, sondern erst zu einer werde. Ich glaube, dass es wichtig ist, darüber nachzudenken, was eine Frau zu einer Frau macht. Es gibt kein Muster, keine Regel, keine Formel, keine Wissenschaft oder Biologie. Die Frau ist ein kollektives Konstrukt», argumentiert Luka weiter und unterstreicht, dass Konstrukte modulierbar seien.

Beschämende Realität Was sich weltoffen und plausibel anhört, gerät in der Wirklichkeit leider allzu schnell unter Beschuss. «Täglich werde ich verletzt. Im Internet und überall sonst», beklagt Luka. Respektiert zu werden, sei schwer, wenn man als Frau ein eher maskulin gelesenes Äusseres mit sich bringe. «Die Leute fragen dich nicht, wie du dich identifizierst. Sie sehen dich an, wählen ein Körperteil an dir aus, definieren, ob es weiblich oder männlich ist, und wählen das Pronomen, das sie für dich verwenden wollen. Die Gesellschaft als Ganzes denkt wenig über trans Menschen nach, weil sie hauptsächlich cisgeschlechtlich ist.» Oft wünsche sich Luka, sie könnte all die Blicke ignorieren, die sie jeden Tag kassiere, aber so einfach sei dies nicht. «Stellt euch vor, wie es um die geistige und emotionale Gesundheit von Menschen bestellt ist, die ständig Ziel von Angriffen auf ihre Existenz sind. Fragt euch, ob es möglich ist, das zu ignorieren.»

Leider geben die Zahlen Luka recht. Die Forscher*innen Timmins, Rimes und Rahman fanden heraus, dass trans Personen signifikant stärker unter Stress leiden und mehr psychische Belastungen aufweisen als vergleichbare cis Gruppen. Auch sind laut Marshall et al. die Depressions- und Suizidraten unter trans Frauen und Männern deutlich erhöht. «Meine Lebenserwartung in Brasilien liegt bei 35 Jahren, da es ein Land ist, in dem Menschen wie ich ermordet werden. Ich hatte immer grosse Angst vor der Zukunft, vor allem wegen des Verlustes von Menschen, die ich liebe», stellt Luka traurig fest. «Meine Sorgen gelten vor allem den trans People of Color», ergänzt Bailey. «Viele erleben Gewalt oder werden sogar getötet. Wie schön wäre es, wenn die Gesellschaft endlich beginnen würde, alle so leben zu lassen, wie sie das möchten.»

Wege in die Zukunft Wären wir losgelöst von unserer Geschichte, dann spielte es vielleicht gar keine Rolle, wer oder was wir sind. Es gäbe vielleicht nicht einmal kategoriale Ausdrücke, die die einen von den anderen trennen. Nur neigen Menschen dazu, in Schubladen zu denken und sich so eine vermeintliche Sicherheit, eine Berechenbarkeit ihrer Umwelt zu bauen. Solange wir hinnehmen, dass prominenten Persönlichkeiten wie der Autorin Joanne K. Rowling eine Bühne für transphobe Äusserungen gegeben wird, solange trans Menschen ihr Sprachrohr entzogen wird, solange werden sich cis Menschen damit auseinandersetzen müssen, dass auch sie Teil des Problems sind.

«Um uns zu unterstützen, müssen vor allem cis Personen erkennen, dass sie Formen von Gewalt reproduzieren, auch wenn diese manchmal als Zuneigung oder Sorge getarnt sind. Sich zu informieren und den Kontakt zu suchen, kann helfen. Je mehr trans Menschen man kennenlernt, desto weniger Transphobie wird in einem keimen», sagt Luka. Was ihr Hoffnung schenke, sei die Beobachtung, dass ihr Netzwerk an trans Freund*innen zunehmend wachse. Dass mehr und mehr Stimmen dazu aufriefen, eingefahrene Strukturen zu durchbrechen. Vielleicht sehen wir es irgendwann kritisch, dass es noch immer externe Personen sind, die mit Schriftstücken über die Identität, das intimste Gut einer Person, mitentscheiden müssen, nicht dürfen. Und eventuell gelangen wir sogar zu der Einsicht, dass Aussehen keine Identität macht. Dass weiblich zu sein nicht mit geschminkten Lippen, Brüsten und einer hellen Stimme und Männlichkeit mit Penis und Bartwuchs einhergehen muss, es aber durchaus kann, wenn die Person selbst sich damit wohlfühlt.

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