«Die Geflüchteten tragen europäische Werte heim in die Ukraine»
Sascha hofft, dass seine Heimat bald tolerantere Gesetze erhält
Sascha hat vor einem Jahr seine ukrainische Familie bei sich in Berlin aufgenommen und musste sein Schwulsein plötzlich wieder verstecken. Nun erzählt er, wie die Geschichte weiterging. (MANNSCHAFT+)
Schon vor mehr als einem Jahrzehnt hat Sascha die Ukraine verlassen und kam nach Deutschland, wo er offen als Schwuler leben konnte. Vor einem Jahr dann wurde seine Heimat von Russland angegriffen (MANNSCHAFT berichtete).
Sascha zögerte nicht: Er reiste am 1. März 2022 an die polnisch-ukrainische Grenze und holte seine Mutter sowie die Frau und die Tochter seines Bruders ab. Zu viert wohnten sie ab dann in seiner Einzimmerwohnung in Berlin.
Für Sascha bedeutete dies zugleich, dass er sein Schwulsein plötzlich wieder verstecken musste: Keine Partys, keine Dates, die gewagten Outfits zuhinterst in den Schrank. Manchmal hoffte er, seine Mutter würde sie dort finden und es wäre alles geklärt. Vielleicht vermutete sie aber ohnehin etwas…
Im letzten Sommer hatte Sascha seine Geschichte MANNSCHAFT erzählt (hier geht’s zum Beitrag). Im Folgenden schildert er uns, wie es weiterging, weshalb seine Mutter in die Ukraine zurückgekehrt ist – und weshalb es gut ist, dass seine Nichte auf den Strassen Berlins ab und zu einen Mann im Rock sieht.
Sascha: Das Datum 24. Februar 2022 kennen alle Ukrainer*innen. Und für alle ist es eine sehr emotionale Zeit. Ein Jahr lang Schmerz, der nicht aufhört. Ein Jahr lang Tränen in den Augen. Ohne dass man weiss, was morgen passiert. Ohne dass man sein Leben planen kann. Das Leben voller Angst und Ungewissheit.
Vor einem Jahr hat sich der Krieg, der seit 2014 andauert, auf das ganze Land ausgeweitet. Die Zeit voller Erinnerungen. Alles wie in einem Film, doch es ist Realität. Auch für meine Familie.
Kein Ende in Sicht Meine Nichte wird in diesen Tagen neun Jahre alt. Letztes Jahr konnte sie ihren Geburtstag nicht feiern. Heute lädt sie ihre deutschen Freund*innen in Berlin ein und kann ihre Kindheit geniessen. Genau das ist der Grund, warum Karina und ihre Mutter (meine Schwägerin) in Berlin geblieben sind.
Hier geht sie mittlerweile in eine deutsche Schule mit den Kindern, die Deutsch als Muttersprache haben. Wow, wie schnell sie die Sprache gelernt hat! Das bewundere ich jedes Mal, wenn ich sie sehe. Sie ist sehr zielstrebig und will nicht nachlassen. Sie sagt oft, wenn wir uns sehen: «Sascha, lass und ab sofort nur Deutsch sprechen und schau, wie viele neue Wörter ich gelernt habe!» Faszinierend! Olha, ihre Mutter, sagt, dass sie unbedingt weiter Deutsch lernen wolle, wenn sie wieder zurückkehren. Sobald der Krieg vorbei ist. Doch aktuell ist kein Ende in Sicht. Olha hat erfolgreich ihre erste deutsche Prüfung bestanden. Wer hätte das gedacht. Vor einem Jahr dachten wir, sie wären für einige Wochen hier. Höchstens für einige Monate…
Meine Mum ist im Sommer in die Ukraine zurückgekehrt. Sie ist unglaublich dankbar dafür, wie gut die Ukrainer*innen aufgenommen wurden. Sie hat alles bekommen, was sie zum Leben braucht. Doch etwas fehlte ihr: ihr Zuhause. Auch wenn das Risiko hoch ist, hat sie es in Kauf genommen und ist zurückgefahren. Sie will nicht ein neues Leben anfangen. Sie will einfach ihr altes Leben zurück: ihre Wohnung, ihre Arbeit, ihre Freund*innen und Verwandten. So geht es vielen, Tausende Menschen sind schon zurückgekehrt.
Wie froh war sie, ihren zweiten Sohn dort wieder zu sehen! Am Anfang durfte er das Land nicht verlassen. Jetzt hat sich das geändert. Aus gesundheitlichen Gründen darf er nämlich nicht dienen. Also ging er im Herbst nach Deutschland. «Aber nur für eine Woche», sagte er. «Ich will meine Tochter und meine Frau sehen. Dann will ich zurück. Mein Land braucht mich. Wenn alle weg sind, dann gibt es bald keine Ukraine mehr!»
Andere ermuntern und freiwillig Menschen in Not helfen und einfach zusammenhalten. Jede*r kann etwas für den Sieg tun. Egal, wo man ist.
Deswegen gehen ich, meine Familie und einige Freunde von mir regelmässig zu den Demos in Berlin. Ich helfe da, wo ich kann. Ich kann nicht anders, sonst fühlt man sich so nutzlos. Zu wissen, was in der Ukraine passiert, macht es schwierig, das Leben normal weiterzuführen. Doch genau das will Russland. Also mache ich das Gegenteil!
Die Sache mit dem Schwulsein Letztes Jahr, Ende März, hatte ich ein Online-Interview, ein Vorstellungsgespräch für einen neuen Job. Nicht mal ein Monat später nach dem Krieg. Zu fünft in einer 1-Zimmer-Wohnung. Doch ich wollte für meine Familie sorgen und sie finanziell unterstützen. Also alle Kräfte sammeln und Gas geben!
Ich habe die Zusage bekommen. Und zwei Monate nachdem meine Familie zu mir gekommen war, ging ich das erste Mal wieder aus. Wie gut es mir getan hat! Wie gut ich von all dem Wahnsinn abschalten konnte! Also habe ich angefangen, manchmal auf Partys zu gehen. Das gab mir Energie. Wenn ich morgens nach Hause kam, war meine Familie ein paar Stunden später wach. In einer kleinen Wohnung ist es jedoch so: Wenn jemand wach ist, sind alle wach. Auch ich. Aber das hab’ ich in Kauf genommen! Ich hab’ das gebraucht.
Meine Familie hat einige Freunde von mir kennengelernt. Wissen sie eigentlich, dass die schwul sind? Wissen sie mittlerweile, dass ich schwul bin? Ich traue mich nicht, das Thema anzusprechen. Aber ich denke, sie wissen es mittlerweile.
Männer in Röcken Sie haben ja in Berlin einiges auf den Strassen gesehen. «Guck mal, Sascha, ein Mann in einem Rock!», hat meine Nichte ganz am Anfang gesagt. Heute ist das völlig normal für sie. Ein positiver Effekt vom Aufenthalt in Deutschland. Diese Werte tragen die Ukrainer*innen aus ganz Europa mit in die Heimat. Es wird auch in der Ukraine immer mehr toleriert. Es gab sogar im Sommer eine Petition für die Homo-Ehe. Im Kriegszustand wäre eine eingetragene Lebenspartnerschaft denkbar, meinte unser Präsident. Allein der Gedanke ist schon mal ein grosser Schritt in die richtige Richtung!
Letztlich kämpfen auch viele aus der LGBTIQ-Community. Kämpfen an allen Fronten.
Und man darf nicht aufhören. Weitergehen! Nicht unterkriegen lassen! Man darf nicht nachlassen! Das wäre der Anfang vom Ende. Doch jeder Ukrainer und jede Ukrainerin schöpft täglich Energie. Jeder Kriegstag macht uns stärker und unseren Willen zum Sieg grösser. Russland wird uns niemals besiegen können! Alle Ukrainer*innen werden bis zum letzten Atemzug für die Freiheit kämpfen. Dieses Volk kann man nicht unterkriegen. Wie der Stahl von dem Feuer gehärtet wird, so wird die Ukraine jeden Tag im Krieg stärker.
Russia can destroy our houses, but not our freedom.
(Sascha ist auf Instagram unter einem Pseudonym zu finden: @aleksandro_con_gusto)
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