Wenn plötzlich alle heiraten und Babys machen

Anna Rosenwasser über die etwas andere zweite Welle

Foto: Kelly Sikkema/Unsplash
Foto: Kelly Sikkema/Unsplash

Ab einem bestimmten Alter rollt bei den Heteros die zweite Welle der Heteronorm an. Kann man immer noch von Freiheit und Individualität sprechen, wenn alle ihr Leben gleich gestalten? Das fragt sich Anna Rosenwasser in ihrem Samstagskommentar*.

Ich bin auf einer Hochzeit, von Annina und Remo. Annina war eine enge Freundin in der Sekundarschule, und Remo ist ein wirklich cooler Typ, den ich vom ersten Moment an mochte. Gekommen sind Leute aus meinem Dorf und aus meiner Kleinstadt, offene, liebe Leute, auf deren Wiedersehen ich mich freue.

Als mein Blick durch die Menge schweift, merke ich: Es sind einige der anwesenden Frauen schwanger. Nach einer weiteren Minute fällt mir auf, dass ich die einzige Frau bin, die eine Hose trägt. Während meine Freudentränen über die Vermählung noch nicht ganz getrocknet sind, bleibt mir kurz die Luft weg. Ich bin 30, und ich bin sowas von 30. Denn jetzt bäumt sie sich vor mir auf: Die zweite Welle Heteronorm.

Ich wäre keine Queer-Aktivistin, wenn ich Liebe nicht gern abfeiern würde. Und ich wäre keine Feministin, wenn ich die Entscheidung, zu heiraten und Kinder zu kriegen, nicht voll und ganz respektieren würde. Ich kämpfe nicht gegen die Ehe und gegen Babys. Ich kämpfe für die Freiheit, selbst zu entscheiden, wie man das eigene Leben gestaltet.

Ein wunderschönes Bewältigen der ersten Welle Heteronorm

Wie so manche bisexuelle Person hab ich in meinen frühen Zwanzigern realisiert, dass meine sexuelle Orientierung nicht der Norm entspricht. Das war nicht leicht – umso schöner war es, Leute um mich zu scharen, die mich lieben, nicht obwohl ich queer bin, sondern mitsamt meinem Queersein. Das war ein wunderschönes Bewältigen der ersten Welle Heteronorm. Ich befürchte, ich hatte unterschätzt, dass eine zweite Welle auf mich wartete.

Über dieses Thema zu schreiben, fällt mir schwer. Dass die Heteronorm denjenigen schadet, die ihr nicht entsprechen, das ist mir klar; es ist mein Job, das zu benennen. Gleichzeitig aber habe ich absolut keinen Bock, diejenigen Leute zu shamen, die sich dafür entscheiden, dieser Norm zu entsprechen. Wie gesagt, ich bin nicht Feministin geworden, um gegen die Ehe und Babys zu kämpfen.

Und trotzdem: Es gibt ein Alter – bei mir ist es 30 –, da Leute um dich rum mit einer irritierenden Gleichzeitigkeit beginnen, zu heiraten, Familien zu gründen und das zu feiern. Als Frau, die ihre Partnerin nicht heiraten darf – in der Schweiz jedenfalls (noch) nicht – und nicht vor hat, Babys zu haben – was gesetzlich ebenfalls schwerer wäre, weil wir ein gleichgeschlechtliches Paar sind –, fällt das auf. Auf eine schmerzhafte Art.

Es ist bizarr. Ich will keiner heiratenden Schwangeren ans Bein pissen, und gleichzeitig fühl ich mich von ihrer Entscheidung ans Bein gepisst. Das ist gegenüber denjenigen unfair, deren Glück zufällig das andere Geschlecht, eine Vermählung und das Produzieren von Babys beinhält. Die Heteronorm macht etwas mit uns Queers, was ich niemandem wünsche: Wir werden verletzt von Menschen, die absolut nichts falsch gemacht haben. Genau das ist der Grund, warum nicht nur wir Queers gegen die Norm kämpfen sollten. Sondern alle. Du kannst einer Norm entsprechen und gleichzeitig anerkennen, dass sie nicht die Norm sein solltest. Der Gedanke tröstet mich in meinem Dilemma. Und hilft mir, mich auf die nächste Hochzeit zu freuen.

*Die Meinung der Autor*innen von Kolumnen, Kommentaren oder Gastbeiträgen spiegelt nicht zwangsläufig die Meinung der Redaktion wider.

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