«Das Vermächtnis»: Sechs Stunden schwules Leiden und Lieben
Am Münchner Residenztheater wird der Gay Classic «The Inheritance» von Matthew Lopez als «Das Vermächtnis» erstaufgeführt
Das Residenztheater in München bringt diese Spielzeit zwei der grössten modernen Theaterklassiker auf die Bühne, die sich explizit mit Gay Culture beschäftigen. Bevor im Juni Simon Stone das Monumentalwerk «Angels in America» von Tony Kushner inszeniert, geht jetzt das ebenfalls monumentale «The Inheritance» von Matthew Lopez als «Das Vermächtnis» in Premiere: zwei Teile dauern sechs Stunden, fast wie ein queeres «Herr der Ringe».
Regie führt bei der deutschsprachigen Erstaufführung der bekannte Film- und Opernregisseur Philipp Stölzl («Nordwand», «Ich war noch niemals in New York», «Der Medicus», «Winnetou – Der Mythos lebt», «Schachnovelle»). MANNSCHAFT traf den 55-jährigen Starregisseur auf dem Weg zur Probe, um mit ihm darüber zu sprechen, was an dem Matthew-Lopez-Werk so aussergewöhnlich ist.
Es basiert in groben Zügen auf dem Handlungsgerüst des Romans «Howards End» (1910) von E. M. Forster (1879-1970) und verlegt die Familiengeschichte aus England Anfang des 20. Jahrhunderts in die jüngste Vergangenheit von New York, bevölkert mit fast ausschliesslich schwulen Charakteren.
Die Figuren rufen im Chaos ihres Liebes- und Beziehungslebens immer wieder den schwulen Autor E. M. Forster an, der als «Geist» erscheint und aus seiner ganz anderen historischen Perspektive kommentiert, wie sich die LGBTIQ-Community weiterentwickelt hat.
«Howards End» wurde einst prominent von Merchant/Ivory verfilmt mit Vanessa Redgrave. Die spielte auch bei der Uraufführung von «The Inheritance» 2018 am Young Vic in London mit und wurde – genau wie das Stück an sich – von der Presse gefeiert. The Telegraph nannte es «das vielleicht wichtigste amerikanische Theaterstück des Jahrhunderts». 2019 kam das zweiteilige Mammutwerk an den Broadway, musste aber mit Beginn der Corona-Krise den Spielbetrieb einstellen. Lopez wird derweil demnächst sein Debüt als Filmregisseur bei Amazon Studios geben mit einer Adaption des populären LGBTIQ-Romans «Red, White & Royal Blue» von Casey McQuiston, über den auch MANNSCHAFT schon geschwärmt hat (mehr dazu hier).
Wegen Corona musste auch in München die Premiere von «Das Vermächtnis» verschoben werden. Am 22. Januar wird eine öffentliche Voraufführung von Teil 1 und Teil 2 stattfinden. Am 30. Januar um 15 Uhr findet dann die Premiere statt, mit beiden Teilen des Werkes in direkter Folge.
Hallo, Herr Stölzl. Gab es von Matthew Lopez‘ «Das Vermächtnis» schon andere Produktionen in deutscher Sprache? Es ist tatsächlich die deutschsprachige Erstaufführung, die sich Intendant Andreas Beck fürs Münchner Residenztheater gesichert hat.
Ein echter Coup, oder? Ja, ich glaube ehrlich gesagt schon. In London war das Stück ein Riesenhit, in New York wurde es am Broadway gespielt. Alle meine Bekannten, die es gesehen haben, haben wahnsinnig geschwärmt und gesagt, was für ein tolles Werk das sei. Ich nehme an, dass es um die deutschsprachige Erstaufführung ein Hauen und Stechen gab. (lacht) Dadurch, dass das Stück mit seinen zwei Teilen so wahnsinnig lang ist, ist es natürlich auch eine Herausforderung für jedes Theater. Das kann nicht jeder stemmen. Trotzdem weiss ich von ein oder zwei anderen Bühnen, dass sie echt traurig waren, dass der Intendant des Residenztheaters Andreas Beck schneller war als sie.
Glauben Sie, dass viele weitere Theater «Das Vermächtnis» nach der Erstaufführung spielen werden? Es wird sicher seinen Weg durch die deutschsprachige Theaterszene machen, weil es einfach ein sehr, sehr tolles Stück ist!
Was fasziniert Sie denn an «Das Vermächtnis»? Es ist wahnsinnig berührend! Es ist eine so unglaublich emotionale Geschichte, die einen über diese ganz lange Spieldauer – von zwei Abenden oder als Doppelvorstellung an einem Tag – an der Nadel hängen lässt. Es kommen tolle Figuren vor, die rund und tief sind und die man gern über lange Zeit verfolgt, um mit ihnen zu lachen, zu lieben und zu leiden.
Es geht beim «Vermächtnis» ums Weitergeben von schwuler Kultur(geschichte), von der AIDS-Generation an eine jüngere queere Community. Ist das ein Thema, dass über LGBTIQ-Kreise hinaus auf Interesse stossen kann? Ja, ich glaube schon. In dem Stück gibt es Elemente, die community-spezifisch sind. Da geht es stark um schwule Themen und um verschiedene Generationen von schwulen Männern. Und um das Vermächtnis von Lebenshaltungen. Es ist aber darüber hinaus auch eine Riesengeschichte über Menschen, bei denen das Schwulsein nur ein Aspekt ist. Ich glaube, da liegt der Kern des grossen Erfolgs des Stücks. Deshalb glaube ich auch, dass es hier seinen Weg über die Staats- und Stadttheater machen wird, weil es als Werk sehr breit greift. Um es auf den Punkt zu bringen: Man muss nicht schwul sein, um das Stück faszinierend, berührend und lebensverändernd zu finden.
Man muss nicht schwul sein, um das Stück faszinierend, berührend und lebensverändernd zu finden
Aber wenn man schwul ist, findet man es wahrscheinlich noch viel berührender, weil es Szenen enthält, die den meisten schwulen Männern bekannt vorkommen werden. Absolut! Da stimme ich Ihnen hundertprozentig zu. Es ist das Faszinosum und das Tolle am Stück, dass es in beide Richtungen funktioniert und berührt, also in die Richtung eines queeren als auch eines nicht-queeren Publikums.
Als es in London lief und dann am Broadway, war ja jeweils eine Seite Lokalgeschichte abgedeckt: Zum einen ist da der prominente englische Autor E. M. Forster («Maurice», «Zimmer mit Aussicht», «Howards End») als historische Figur, die auftaucht, zum anderen spielt die restliche Geschichte im Hier und Heute von New York. Kann man in Deutschland zu diesen Figuren und Schauplätzen auch einen besonderen Bezug haben? Da könnte man auch fragen: Kann man hierzulande zu «Anna Karenina» einen besonderen Bezug haben? Es ist das Wesen von grosser Kunst, dass sie – obwohl sie einen entführt in eine spezifische Welt – einen total ins Herz trifft. Solche Werke haben eine gewissen Offenheit, die Abstraktion erlaubt. Interessant ist für mich, dass das Stück komplett in New York, Fire Island und den Hamptons spielt. Und lustigerweise war es in New York kein so grosser Erfolg wie in London, obwohl die Welt des Stücks den Zuschauern in New York ja viel näher hätte sein müssen. Aber vielleicht war sie ihnen zu nah?
Es könnte ja auch daran liegen, dass das Stück in London im Young Vic lief, also einer vergleichsweise kleinen Bühne. Dass Vanessa Redgrave mitspielte. Und dass die Eintrittspreise in London deutlich günstiger waren… In New York musste man für zwei Abende im sehr viel riesigeren Ethel Barrymore Theatre schon tief in die Tasche greifen, um Karten zu bekommen. Ja, das kann sein. Nach dem zu urteilen, was ich gehört habe, hat das Stück jedenfalls für Zuschauer aus Europa, die etwas weiter weg sind von der Geschichte, ein stärkeres Faszinosum. Weil sie mit fremderen und faszinierteren Augen auf die New Yorker Welt gucken, als es New Yorker selbst tun.
Werden Sie die Geschichte in Ihrer Münchner Inszenierung in New York belassen – oder planen Sie eine Verlegung nach Deutschland? Nein, das macht gar keinen Sinn. Wir erzählen die Geschichte so, wie sie im Textbuch steht. Es sind ja lauter englische Namen, ausserdem kommen all diese berühmten amerikanischen Schauplätze vor. Zudem bringt das Stück die verschiedensten sozialen Schichten aus Amerika auf die Bühne: vom Donald Trump unterstützenden Immobilienmilliardär bis runter zum Crack-süchtigen Stricher. Das ist wie ein Brennglas der amerikanischen Gesellschaft. (MANNSCHAFT berichtete darüber, dass die Hälfte aller queeren Jugendlichen in den USA während der Trump-Jahre an Selbstmord dachte.) Ansonsten gehen wir ja ständig ins Theater und gucken uns Shakespeare oder Tschechow an, schauen uns schwedische Stücke oder russische Klassiker an. Wir lassen uns entführen in andere Welten, die wir nicht aus unserem täglichen Leben kennen.
Es gab einen britischen Kritiker, der sagte das Stück sei «the most important American play of the century». Würden Sie dem «Vermächtnis» auch diese Bedeutung zugestehen? Ich bin immer vorsichtig mit Superlativen. Aber das ändert nichts daran, dass es ein unglaublich gutes Stück ist, das als emotionales Konstrukt total wirkungsvoll ist. Als Andreas Beck, der Intendant des Theaters, mir das Stück angeboten hat, musste ich erstmal viele, viele, viele Seiten lesen. (lacht) Aber als ich einmal anfing, konnte ich nicht mehr aufhören. Das Stück ist, was man auf Englisch einen «page turner» nennt. Man ist sofort drin in der Geschichte. Lopez benutzt eine sehr moderne Art des Erzählens. Im Prinzip läuft das Stück ab wie eine HBO-Serie, mit fast 80 Szenenwechseln.
Im Prinzip läuft das Stück ab wie eine HBO-Serie, mit fast 80 Szenenwechseln
Ist das etwas Positives? Ich würde das weder als positiv noch negativ bezeichnen. Es ist einfach eine bestimmte literarische Form. Es macht natürlich einen Unterschied, ob man eine klassische drei- oder fünfaktige Theaterform hat oder eben dieses fast filmische Erzählen. Da ergibt sich ein höherer Pulsschlag. Ich bin ja selbst Theater- und Filmschaffender und in beiden Erzählformen zu Hause. Die Art, wie «Das Vermächtnis» konstruiert und geplottet ist, wo die Twists sind und die Cliffhanger, das ist sehr, sehr nah dran, wie man heute in Serien erzählt. Insofern hat das eine Theatersprache, die ganz modern und ganz heutig ist.
Auf der anderen Seite bezieht es sich klar auf das amerikanische Menschentheater des 20. Jahrhunderts, auf Eugene O‘Neill («Trauer muss Elektra tragen», «Eines langen Tages Reise in die Nacht») oder Tennessee Williams («Die Katze auf dem heissen Blechdach», «Endstation Sehnsucht»), all diese Autoren, die versuchten, Figuren aus dem wahren Leben und aus realistischen Milieus auf die Bühne zu bringen und sie plastisch mit ihrem Leben, Wollen und ihren Verzweiflungen darzustellen. Das ist eine Art von Theater, die es bei uns in Deutschland wenig gibt.
Stephen Daldry, der die Uraufführung in London inszeniert hat, liess die Geschichte auf einer leeren Bühne spielen. Die Aufführung lebte von der Intensität der Darsteller*innen. Welche Darsteller*innen haben Sie in München, die so etwas umsetzen könnten? Wir machen es ein bisschen anders als Daldry. (lacht) Ich würde es mal als «teilabstrakt» bezeichnen. Daldry hat es auf leerer Bühne wie ein Shakespeares-Stück spielen lassen. Da waren einfach nur die Schauspieler*innen – und fertig. Das war ein bisschen dem Spielort Young Vic geschuldet. Ich wollte stattdessen einen eigenen Blick aufs Stück werfen. Das ist ja nicht wie bei «Cats» oder «Frozen», wo man die Vorlage eins-zu-eins kopieren muss. Ich wollte den Szenen und Figuren mehr Örtlichkeit geben. D.h. bei uns gibt es Requisiten und Möbel, die auftauchen und wieder verschwinden und Orte andeuten. Es macht einen Unterschied für Schauspieler*innen, ob sie sich mal an einen Tisch setzen können oder ob es ein Bett gibt, in das man sich reinlegen kann, statt immer auf dem Bühnenboden zu liegen. Wir haben uns entschieden, dem «Vermächtnis» ein bisschen mehr «realistisches Fleisch» zu geben.
Trauen Sie den deutschen Zuschauer*innen nicht so viel Kopfkino zu, dass sie sich das alles selbst ausmalen könnten? Ich glaube, dem deutschen Zuschauer kann man alles zumuten. Eher mehr als englischsprachigen Zuschauer*innen. Die Engländer sind, was Theater betrifft, ein bisschen konventionell in ihren Erzählweisen. Deutsche sind da viel eher experimentell und mögen die performativen Sachen, die auf hiesigen Bühnen stattfinden. Sie sind viel hartgesottener, ums mal so auszudrücken. Für mich war die Frage, wie ich diese Szenen aufgreife: in einem völlig leeren Raum kann man nur stehen, reden, auf dem Boden hocken oder auf dem Boden liegen. Das führt bei Szenen, die in Wohnungen, Büros oder Hotelzimmern spielen zwangsläufig zu Übersetzungsschwierigkeiten. Das war mir als Regisseur und Bühnenbildner dieses Stücks eine Spur zu verbogen. Ich wollte die Figuren konkreter an den Orten sehen, durch die sie reisen.
Das Stück wird oft verglichen mit Tony Kushners ebenfalls zweiteiligen Monumentalwerk «Angels in America», das auch diese epische Breite hat und sich teils mit ähnlichen Themen rund um AIDS/HIV beschäftigt. Wie würden Sie die beiden Stücke zueinander in Beziehung setzen? «Das Vermächtnis» ist eine Art Fortschreibung von «Angels in America» oder eine Übermalung. «Angels» spielt eine Generation vorher. Und jetzt geht die Geschichte weiter. «Angels» hat auch diese epische Länge, das stimmt. Aber das Stück ist greller, mit den Geistern, die auftauchen. Oder mit Figuren wie Roy Cohn, die etwas scharf Satirisches haben und ganz spitz geschrieben sind.
Kushner spricht davon, dass sein Stück eine «Gay Fantasia» ist, mit bewusst fantastischen Elementen. Trifft es auf Matthew Lopez auch zu? Bei Lopez sind die Figuren mehr aus dem Leben gegriffen. Und Lopez hat einen sehr warmherzigen Blick auf sie. Wenn man sich auf YouTube Ausschnitte der Londoner Aufführung anschaut, erkennt man, dass das extrem gefühlig umgesetzt wurde. Hart am Kitsch vorbeisegelnd. Das finde ich total grossartig: diesen Mut, grosses Emotionskino zu machen.
Ich selber gehe bei so was total mit und freue mich an der Rührung, die diese Liebesgeschichten auslösen. Und ich leide mit, wenn die Liebe und Träume zerbrechen. Im Vergleich dazu ist «Angels» verrückter. Und verwendet Figuren, die es teils real gegeben hat. Bei Lopez sind – bis auf den herbeizitierten E. M. Forster – alle fiktiv und aus der schwulen amerikanischen Mittelschicht genommen. Man hat das Gefühl, die könnten jeder von uns sein.
Gibt es von deutschen Autor*innen etwas Vergleichbares, was sich mit schwulem Leben oder der AIDS-Krise auseinandersetzt? Nicht mit dieser epischen Wucht! (MANNSCHAFT berichtete in einer vierteiligen Artikelserie über 40 Jahre AIDS.)
Können Sie sich das erklären? Ich glaube, diese Tradition von Theatererzählung gibt es bei uns nicht. Diese Form des Gegenwartsdramas, mit ganz klaren Figuren und einer vollkommen realistisch erzählten Geschichte. Das wird bei uns so nicht geschrieben
Schreckt die deutsche Hochkultur vor der queeren Subkultur zurück? Das glaube ich ehrlich gesagt nicht. Die gesellschaftlichen Strömungen, Themen rund um sogenannte Minderheiten, das spielt ja eigentlich im deutschsprachigen Theater eine Riesenrolle. Ich glaube, die staatlichen Subventionen fürs Theater machen die Künstler*innen hier eher freier.
Eigentlich ja, aber trotzdem passiert nichts in diese Richtung. Was ich wahrnehme ist, dass das Theater politisch extrem aufgeladen ist in Deutschland, gerade durch die jüngeren Generationen. Die gehen mit Themen wie Gender, Rassismus oder Diversität in ihrer Formensprache ziemlich wild um. Dass ein Community-Stück wie «Das Vermächtnis» jetzt in solch einer grossen Produktion bei uns auf die Bühne kommt, spricht eher dafür, dass deutsche Bühnen sich solchen Themen geöffnet haben.
Im englischsprachigen Theater, das im West End und am Broadway fast ohne Subventionen auskommt, müssen Stücke laufen, sonst sind sie nach einer Woche weg. Die müssen da viel mehr überlegen, was für Themen sie spielen, damit die Leute kommen und zahlen. An der künstlerischen Freiheit kann es beim deutschen Staat- und Stadttheater nicht liegen, dass so etwas hier bislang von niemandem geschrieben wurde.
Am Broadway lief 2019 auch «Slave Play» von Jeremy O. Harris (MANNSCHAFT berichtete). Eine ziemliche Provokation zum Thema Rassismus von einem schwulen afro-amerikanischen Autor. Das lief kommerziell erfolgreich, gewann viele Preise. Mir würde nichts Vergleichbares in Deutschland einfallen, wo so intelligent LGBTIQ-Aspekte in die Diskussion rund um sexuelles Begehren und Rassismus eingearbeitet würden. Keine Ahnung, warum ein Stück, das sich toll anhört, hier noch nirgends lief. Vielleicht wird das meine nächste Produktion! (lacht) Danke für den Tipp.
Ich würde Sie zum Schluss gern noch zur Identitätspolitikdebatte befragen. Das habe ich schon befürchtet… (lacht)
Es gibt heftige Diskussionen in Hollywood und anderswo, ob nur Schwule schwule Rollen spielen sollten, nur trans Personen trans Charaktere, nur Schwarze schwarze Charaktere usw. Wie gehen Sie damit um, wenn Sie ein Stück wie «Das Vermächtnis» auf die Bühne bringen? Ich bin absoluter Gegner solcher Identitätspolitik. Die letzte Pressemeldung, die riesiges Aufsehen erregte, war ja die von Amazon Studios, die gesagt haben, alle dürfen nur noch das spielen, was sie «sind». Ich glaube, das ist der Tod von Theater!
Ich bin ein grosser Fan von dem, was in England passiert, dass man «color blind» besetzt, wie etwa in «David Copperfield» oder «Bridgerton». Das finde ich total toll. Da müssen wir hin: Das ist die Freiheit von Kunst und die Freiheit von Darstellung! Oder soll man jetzt schon beim Casting sagen, welche sexuelle Orientierung man hat, damit man eine Rolle bekommt? Das finde ich völlig falsch. (In MANNSCHAFT kommentierte Jan Feddersen die Debatte.)
Sollen sich beim Casting erst alle outen bzgl. ihrer sexuellen Identität? Wäre so etwas realistisch oder wünschenswert? Oder nur eine neue Form von Diskriminierung? Bei «Inheritance» ist es so, dass wir bzgl. sexueller Orientierung ein total gemischtes Ensemble sind. In meiner Wahrnehmung als Regisseur ist das überhaupt nicht zu sehen. Es schlägt sich nicht nieder in mehr oder weniger Glaubhaftigkeit. Es gehört zum Wesen von Theater, dass man eine Fantasieleistung erbringt. Wenn man beispielsweise auf die Filmgeschichte schaut, etwas aufs Hollywood der 1940er- und 50er-Jahre, dann sind viele der grossen heterosexuellen Liebhaberrollen mit schwulen Schauspielern besetzt. Und die haben uns einige der tollsten Mann-Frauen-Liebesgeschichten aller Zeiten geschenkt. Blos, weil du heterosexuell bist, spielst du nicht unbedingt einen tolleren heterosexuellen Liebhaber. (MANNSCHAFT berichtete über Ryan Murphys Netflix-Serie «Hollywood», die sich mit dieser Thematik beschäftigt.)
Und umgekehrt auch nicht… Ich bin schon eine Weile in der Filmbranche unterwegs in Deutschland. Ich habe vielen schwule Schauspielerfreunde, und ich fände es absurd, wenn die nur noch Schwule spielen sollten. Warum? Ich habe da eine klare Haltung und finde, diese Form der Identitätspolitik ist ein falscher Weg. Was nicht heisst, dass man für den Fall, dass man einen Film über eine trans Figur machen will, nicht zuerst mal schauen sollte, ob es nicht eine entsprechende trans Schauspieler*in gäbe, die das spielen könnte. Und nicht einfach sagt: So, Scarlett Johansson spielt den nächsten trans Mann und holt sich dafür einen Oscar ab. (MANNSCHAFT berichtete über Eddie Redmayne, der seine trans Rolle in «The Danish Girl» rückblickend als «Fehler» bezeichnet.)
Ausserdem ist sexuelle Orientierung etwas, was sehr vielfältig und breit sein kann. Das wird ja nicht in den Pass reingeschrieben, damit man’s beim Vorsprechen vorlegen kann
Es geht darum, dass die Minderheiten-Communities auch über entsprechende Besetzungen eine Sichtbarkeit bekommen. Das ist total richtig. Aber es ist Quatsch, dass über «Verbotsregeln» lösen zu wollen. Ausserdem ist sexuelle Orientierung etwas, was sehr vielfältig und breit sein kann, ausgesprochen oder nicht ausgesprochen wird, ausgelebt wird oder nicht. Das wird ja nicht in den Pass reingeschrieben, damit man’s dann beim Vorsprechen gleich vorlegen kann. Dafür ist Sexualität viel zu changierend.
Wie kamen Sie zur Besetzung der Vanessa Redgrave-Rolle mit Nicole Heesters? Es ist eine Rolle, die in einer bestimmten Altersklasse besetzt werden muss, damit das im Reigen der übrigen Figuren funktioniert. Es ist zudem eine Rolle, die erst ganz am Schluss des Stücks auftaucht und einen grossen Monolog hat. Das muss man wollen und sich auch trauen, den ganzen Abend zu warten, um diesen einen Monolog zu spielen. Wir haben das jetzt mit der 84-jährigen Nicole Heesters besetzt, der Tochter von Johannes Heesters, eine grandiose Charakterdarstellerin.
Erwarten Sie Matthew Lopez zur Premiere? Ehrlich gesagt habe ich noch gar nicht nachgefragt, ob er eingeladen wurde. (lacht) Ich würde mich wahnsinnig freuen, wenn er käme, um ihm zu sagen, was für eine Freude er uns mit seinem Stück gemacht hat. Wir waren damit mehrere Monate beschäftigt. Und ich muss echt sagen, dass ich mich jeden Morgen auf die Proben gefreut habe. Ganz einfach, weil das Stück nur richtig tolle Szenen hat. Das ist von Lopez schon sehr, sehr meisterhaft geschrieben!
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