«Danke Gustav» – Cruising in Trümmern und die Aids-Katastrophe

Ein schwules Leben auf 370 Seiten

Symbolbild: Kylo/Unsplash
Symbolbild: Kylo/Unsplash

Harm-Peter Dietrich, geboren kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs, ist ein Zeitzeuge schwuler Geschichte. In «Danke Gustav» verbindet er Persönlich-Biografisches klug und humorvoll mit Ereignissen der Weltgeschichte.

Harm-Peter Dietrich, 1936 nahe Köln geboren, hat nach seinem Medizin-Studium an Kliniken in München und San Francisco gearbeitet und war später für ein grosses Pharmaunternehmen in Südafrika und Südostasien tätig. Er hat viel gesehen und erlebt. Heute lebt er in Berlin, geniesst seinen verdienten Ruhestand und erzählt in «Danke Gustav» aus seinem Leben: Das ist spannende, auch dramatische schwule Geschichte von fast 90 Jahren.



Der Autor wuchs damals in der biederen Welt des Adenauer-Nachkriegsdeutschlands und des Wirtschaftswunders auf. Zu den Wundern, die man beim Lesen erlebt, gehört die Cruising-Episode, wie Dietrich sie damals in Trümmergrundstücken erleben konnte. Dort erzählte ihm ein Junge nach dem Sex:

«Wenn man das, was wir gerne täten, als ‹unnatürlich› bezeichnet, dann hat der liebe Gott bei uns ja einen Fehler gemacht. Der liebe Gott macht aber keine Fehler! Von der Evolution wissen wir aber, dass sie schon viele Fehler gemacht hat. Sie ist oft in der Sackgasse gelandet und hat ganz von vorne wieder anfangen müssen, bis schliesslich so was Hübsches wie du und ich!» Wer hätte sich eine solch empowernde Begegnung in den 1950er Jahren vorstellen können?

Der Punkt auf der Stirn Mit seiner Homosexualität haderte der junge Dietrich nicht lange. Grösser war schnell seine Sorge, wie er andere Schwule erkennen sollte – wenn er nicht gerade zum Cruisen unterwegs war. «So dachte ich, es wäre doch nett, wenn die alle vielleicht einen kleinen Punkt auf der Stirn hätten, den natürlich andere nicht sehen könnten. Es hat aber nur wenige Jahre gedauert, da habe ich alle verzauberten Jungs und bald darauf auch alle diese bezaubernden Männer ganz schnell von allein erkannt. Der Punkt war nicht mehr nötig. Wäre ja auch schrecklich! Man stelle sich so etwas in Berlin von heute vor… man würde nur noch schauen, wer denn wohl keinen Punkt auf der Stirn hat.»

Nicht alle konnten sich damals im repressiven, zutiefst homofeindlichen Deutschland mit ihrer sexuellen Orientierung arrangieren. Eine Zufallsbekanntschaft, die Dietrich mit 15 in Reuschenberg, rund 40 km von Köln entfernt, begegnet war, beging Selbstmord: Der Junge war mit einem anderen Jungen erwischt worden, seine katholischen Eltern machten ihm daraufhin schwere Vorwürfe.

Mit den Jahren wechselten auch die ursprünglich grau-weissen Zebrastreifen zu Regenbogenfarben.

Dietrich selbst lebte zunehmend selbstbewusst als junger Schwuler in der deutschen Nachkriegsgesellschaft. Als die US-Emanzipationsbewegung den Homosexuellen in aller Welt gleichermassen Freiheit und Gleichberechtigung verhiess, entschloss sich Dietrich auszuwandern und erlebte in San Francisco eine lustvolle und experimentierfreudige Zeit. Natürlich wohnte er im Castro, wo er die «vielleicht schwulste Strassenecke der Welt» beschreibt: «Beim Farbwechsel der Ampel kreuzen Hunderte von schwulen Jungs und Männern jeder Couleur und Nationalität die Zebrastreifen in jede Richtung. Mit den Jahren wechselten auch die ursprünglich grau-weissen Zebrastreifen zu Regenbogenfarben.»

Dann tat sich etwas Entscheidendes in seiner deutschen Heimat: 1969 wurde von Bundespräsident Gustav Heinemann (SPD) die grundlegende Reform des §175 angestossen: Einvernehmlicher Sex zwischen Erwachsenen, unabhängig von Geschlecht und Orientierung, wurde straffrei. Es ist eben jener Gustav, dem Dietrich im Titel seines Buch dankt.

«Danke Gustav»
«Danke Gustav»

Mit Beginn der 80er Jahre musste Dietrich als Arzt und Freund ansehen, was zur allgemeinen Katastrophe wurde: Durch Aids wurden Hunderttausende dahingerafft. Die Frau seines damaligen Chefs in San Francisco führte eine internistische Intensivstation, die «plötzlich voll eigentlich junger, begabter, freundlicher und hoffnungsvoller todkranker Schwuler» war. Das sprach sich bis nach Deutschland herum. Dietrich erinnert an einen Spiegel-Artikel vom Juni 1983, der «eher Panik auf eine sensationsgierige und fahrlässige Weise» verbreitete. Auch die Rolle der Politik und der katholischen Kirche war alles andere als rühmlich. Dietrich verlor in der Epidemie den grössten Teil seiner Freunde.

«Mein eigenes glückliches Überleben macht mich zu einem dankbaren Zeitzeugen jener traurigen, emotional stark belastenden und besonders herausfordernden Zeit», schliesst er das Kapitel zum Thema Aids. Seine Freunde Horst und Don vermisst er noch heute schmerzlich. Doch fügt er hinzu: «Dieses Erinnern hat meiner Seele gutgetan.»

Der Verlag nennt Harm-Peter Dietrich «einen der wichtigen Zeitzeugen schwuler Geschichte» – und das ist keine Übertreibung. Es handelt sich um ein grosses Erzähltalent, das auf rund 370 Seiten klug, detailreich und mit viel Humor auf sein Leben und die neuere deutsche Geschichte zurückblickt. Nur schade, dass wir erst jetzt von ihm hören und lesen dürfen.

«Danke Gustav» erscheint am 5. Sepember im Vergangenheitsverlag und kann hier bestellt werden.

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