«Bill musste seine Queerness viele Jahre geheim halten»
Regisseur Michael Schmitt im exklusiven Interview über die Kaulitz-Brüder
Mit «Kaulitz & Kaulitz» präsentiert Netflix ein erfrischend neues Reality-Format. Die achtteilige Produktion entstand unter der Regie des Dokumentarfilmers Michael Schmitt.
Der Wahlberliner überzeugte in der Vergangenheit bereits mit brillanten Dokumentationen wie «Shiny_Flakes – The Teenage Drug Lord», einer genial inszenierten Auseinandersetzung mit dem Fall Maximilian Schmidt, «Geheimsache Katar», einem kritischen Blick auf die Fussball-WM 2022, der für ordentlich Wirbel sorgte, oder der intimen Reportage «Marikas Missio», in der Michael Schmitt seine Schwägerin begleitet, die wegen ihrer Homosexualität von der Kirche diskriminiert wird und ihre Zulassung als Religionslehrerin verliert.
Uns gewährte der 40-Jährige einen exklusiven Einblick in seine Arbeit mit den Kaulitz-Zwillingen. Start von «Kaulitz & Kaulitz» bei Netflix: 25. Juni.
Micha, was hat dich an dem Projekt «Kaulitz & Kaulitz» gereizt? Ich kenne wenige deutsche Biografien, die so berührend, bewegend und zugleich polarisierend sind wie die der Kaulitz-Zwillinge. Aus einem Dorf bei Magdeburg wurden sie als Teenager auf die Bühnen der Welt gespült, begleitet von überwältigender Liebe und unbegreiflichem Hass.
Dann die Flucht nach Los Angeles und die Entdeckung immer neuer Talente in den letzten Jahren. Dazu zwei Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten und sich doch so ähnlich sind. Und natürlich die Tatsache, dass sich die beiden zum ersten Mal auf das Experiment einer Reality-Doku-Serie eingelassen haben.
Inwiefern passt «Kaulitz & Kaulitz» zu deinen bisherigen Arbeiten? Mein Filmemacherherz schlägt für das dokumentarische Erzählen. Ich liebe es einfach, Menschen und ihren unterschiedlichen Biografien näher zu kommen. Dokus sollen aber auch spannend, emotional und unterhaltsam sein wie Spielfilme. In meinen Filmen integriere ich oft genreübergreifende Stilmittel wie Spielszenen oder Nachstellungen.
Bei «Kaulitz & Kaulitz» bestand die Herausforderung darin, klassische dokumentarische Elemente mit Reality-TV zu verbinden. Und da ich gerne mit neuen Erzählformen experimentiere, war das Format ein logischer nächster Schritt in meiner Filmografie.
Wodurch unterscheidet sich «Kaulitz & Kaulitz» von anderen Reality-TV-Formaten? Reality-Formate sind häufig auf kurzweilige Unterhaltung ausgelegt. Hier und da wird dann eher punktuell Tiefgang eingebaut, der oft konstruiert wirkt. Hinzu kommt, dass viele Reality-Formate eher kurze Drehphasen haben und dann im Schnitt aus kleinen Verwerfungen grosse Dramen gemacht werden müssen.
Bei «Kaulitz & Kaulitz» hatte ich den Luxus, Bill und Tom über ein halbes Jahr kennenzulernen und begleiten zu dürfen und nicht sofort mit jeder Tür ins Haus fallen zu müssen. Herausgekommen ist dabei ein eher dokumentarisches Ausgangsmaterial und unzählige Stunden an Interviews, die dann mit einer unterhaltsamen Prise Reality kombiniert wurden. Ich glaube, uns ist ein sehr schöner Hybrid gelungen, den man so noch nicht gesehen hat.
Wie erklärst du dir das Bedürfnis der Menschen, das Privatleben der Stars zu beobachten? Ich glaube, es geht vor allem um Nähe. Darum, dass man eine Verbindung zu seinen Idolen und Lieblingen aufbauen kann. Zu sehen, dass Menschen, die man sonst nur aus aussergewöhnlichen Kontexten wie Shows oder von der Bühne kennt, privat ganz ähnliche Konflikte, Wünsche und Ängste haben wie man selbst.
Und natürlich auch die interessanten Aspekte eines «Star»-, «Luxus»-, «Privilegien»-, «Karriere»-Lebens beobachten zu können, das von der eigenen Lebensrealität weiter entfernt ist. Persönlich hatte ich nie eine starke Affinität zu Starkult oder Fantum. Mich interessiert die persönliche Geschichte der jeweiligen Protagonist*innen, ganz egal, ob sie berühmt oder völlig unbekannt sind. Aus Sicht des Filmemachers kann eine internationale Karriere oder ein aussergewöhnliches Talent natürlich trotzdem ein sehr spannendes Puzzleteil sein, das eine Geschichte zu tragen vermag.
Bills Sexualität wird in den Medien immer wieder diskutiert. Welchen Blick wirft «Kaulitz & Kaulitz» auf diese und andere queere Aspekte? Bills Sexualität, sein Auftreten und seine grosse Leidenschaft für Mode waren seit Beginn der Karriere von Tokio Hotel immer wieder Thema in den Medien und leider auch Grund für Anfeindungen. Viele Jahre musste Bill seine Queerness geheim halten. Diesem Druck in der Öffentlichkeit standzuhalten, muss sehr anstrengend gewesen sein, auch wenn Bill privat schon lange zu sich steht.
In der Serie erzählen Bill und Tom von dieser schwierigen Zeit und auch davon, wie Bill in den letzten Jahren durch seinen Podcast, seine Autobiografie und nun auch durch die Netflix-Serie gelernt hat, immer offener, selbstbewusster und selbstverständlicher mit dem Thema Sexualität umzugehen. In unserer Serie ist diese Emanzipationsreise eines der Hauptthemen, mit dem CSD in Berlin als einem der Höhepunkte in der Mitte der ersten Staffel.
Auch das Problem von homophobem Hass im Netz wird aufgegriffen. Dazu fällt mir eine starke Aussage von Bill aus der fünften Folge der Serie ein. Er sagt, dass er so laut und bunt lebt, wie er will, und dass seine Positivität in der Öffentlichkeit stärker ist, als die Geste, auf einen einzelnen Hasskommentar zu reagieren. Ich finde diese Stärke und Entschlossenheit trotz des häufigen Gegenwinds sehr inspirierend.
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