Glitzer, Gigolos & OnlyFans: Hinter den Kulissen von «Berlin Berlin»

Simon Stockinger macht bei der Zwanziger-Jahre-Revue im Admiralspalast mit

Simon Stockinger (Mitte) mit Ensemble in «Berlin Berlin» (Foto: Jens Hauer)
Simon Stockinger (Mitte) mit Ensemble in «Berlin Berlin» (Foto: Jens Hauer)

Am 30. November startet die XXL-Show «Berlin Berlin» neu in der deutschen Hauptstadt, mit vielen Gay Icons auf der Bühne. Mit dabei ist der aufstrebende Musicaldarsteller Simon Stockinger.

Der gebürtige Linzer studierte in Wien. Er wirkte an der Volksoper mit in Musicalklassikern wie «Der Zauberer von Oz» und «Gypsy», er war Brad in der «Rocky Horror Show», derzeit spielt er am Landestheater Salzburg den Claude im Tribal-Musical «Hair». Der Bayerische Rundfunk jubelte: «Nackte Rebellion gegen Putin» wegen der körperbetonten Anti-Kriegsbotschaft des Flower-Power-Stücks, in dem u.a. «Sodomie» und «The Age of Aquarius» besungen werden.

In «Berlin Berlin» ist Stockinger als Conférencier zu erleben, der durch die «lasterhafte Welt der Zwanziger Jahre» führt. MANNSCHAFT traf den 29-Jährigen per Skype in einer Probenpause, um mehr über die Show zu erfahren.

Was ist an der «Berlin Berlin»-Show für LGBTIQ-Zuschauer*innen besonders interessant? Wir nehmen das Publikum mit in die 1920er Jahre und haben uns ganz gross an die Brust geheftet, dass das eine sehr queere Zeit war. Wir haben zum Beispiel eine Figur auf der Bühne, die halb Mann, halb Frau ist, so wie das berühmte Foto von Wilhelm Bendow, der damals bei Erik Charell in den Revuen im Grossen Schauspielhaus neben Claire Waldoff als schwul-lesbische Doppel-Conférence auftrat. Wir haben auch eine Dragqueen, wie man heute sagen würde, damals sprach man von Travestiekünstler*in. Bei unseren Frauenfiguren sind queere Berühmtheiten wie Anita Berber dabei und – most famouslyMarlene Dietrich und Josephine Baker.

Der erste heterosexuelle Kuss, den’s in unserer Show gibt, lässt wirklich auf sich warten und ist dann auch nicht wirklich ernst gemeint. Denn: Da küsse ich, als Conférencier, Anita Berber zu «Let‘s Misbehave». Das ist, glaube ich, ein ganz guter Spiegel der Zwanziger Jahre in Berlin. Diese Queerness von damals ist für ein heutiges LGBTIQ-Publikum wahnsinnig spannend.

Hattet ihr als Darsteller*innen Einfluss auf die Auswahl der Musik? Wir sind mit der Produktion jetzt in der dritten Spielzeit. Die erste Tour war 2019 – ich selbst bin erst letztes Jahr dazugekommen. Damals wurde die Show überarbeitet, vieles in der zweiten Fassung noch mehr auf Berlin zugeschnitten. Am Anfang gibt’s ein fast 20-minütiges Berlin-Medley mit bekannten Schlagern, die jeder mitsingen kann.

Dieses Medley zusammenzustellen, war ein Prozess, bei dem wir als Darsteller*innen alle involviert waren. Denn wir sind «Typen», die nicht austauschbar sind. Das finde ich vom Casting toll. Da wurde genau geschaut, wer was am besten singen könnte.

Berlin Berlin
Berlin Berlin

Was für Songs kommen denn in dem Medley vor? Die feministische Kampfhymne «Raus mit den Männern aus dem Reichstag», die einst Claire Waldoff berühmt gemacht hat, Songs wie «Es gibt nur ein Berlin» oder «Ich hab‘ das Fräulein Helen baden sehn» («Da kann man Waden sehn, rund und schön im Wasser stehn»). Aber auch Titel wie «Schöner Gigolo» über Männer, die aus der Not heraus zu Sexarbeitern werden. Die Texte sind brillant und haben meist sexuelle Pointen in der letzten Strophe, oft auch homosexuelle Pointen.

Da waren deutsche Schlagertexter wie Fritz Grünbaum, Julius Brammer oder Fritz Löhner-Beda viel weiter als ihre US-amerikanischen Kollegen am puritanischen Broadway, wo man solche «gewagten» Anspielungen vermied. Man kann den deutschen Schlager da als emanzipierten Weltvorreiter betrachten.

Heutzutage ist es eher so, dass man deutsche Schlagertexte als peinigend banal empfindet. Wie ist es für dich, diese Bravourtexte aus den 20ern und frühen 30ern zu singen? Es ist wahnsinnig spassig! Weil ich sonst im Musicalbereich oft Übersetzungen singen muss, die versuchen, eine heutige Idee dessen zu vermitteln, was «klassische» US-Autor*innen früher gemeint haben könnten. Aber es hat einen anderen Geist, wenn etwas wirklich im Original auf Deutsch geschrieben wurde, zu einer Melodie, die dafür komponiert wurde. Das ist ein Genuss, wo’s keine holprigen Zeilen gibt. Die Texte sind ungeheuer modern, aber schon 100 Jahre alt. Sie können viel mehr als die meisten Herzschmerzschlager von heute. Wir haben auch Nummern von Paul Abraham drin, etwa «Es ist so schön am Abend bummeln zu geh’n» mit anzüglichen Bedeutungsebenen oder den «Känguru Fox», den ich besonders toll finde. Beides aus dem «Ball im Savoy», den Barrie Kosky in Berlin mit Adam Benzwi ausgegraben hat im Rahmen der queeren Operettenrevolution (MANNSCHAFT berichtete).

Was ist schon eine Inflation? Nichts als eine Pause zwischen zwei durchgefeierten Nächten

Kannst du dir erklären, warum die Weimarer Zeit momentan einen solchen Boom erlebt? Ich glaube, das liegt daran, dass die Parallelen zwischen damals und heute recht leicht zu ziehen sind. Sätze wie «Was ist schon eine Inflation? Nichts als eine Pause zwischen zwei durchgefeierten Nächten» haben wenig an Aktualität verloren. Als wir das letztes Jahr in der Show sagten, war’s noch nicht so aktuell wie jetzt. Dieses Tanz-auf-dem-Vulkan-Gefühl der 20er, wo man weiss, das kann nicht mehr lange so weitergehen, ist nah an dem, was viele heute denken in Bezug auf Klimakrise, das Ideal eines ewigen wirtschaftlichen Wachstums, Ukrainekrieg vor der Haustür, Pandemie. Die Gesellschaft ist mit so vielen Dingen konfrontiert, dass man sich oft einfach nur ablenken lassen möchte – ob das mit Netflix-Formaten ist oder mit Live-Theater wie bei uns. Die 20er Jahre in Berlin verkörpern diesen Wunsch nach Ablenkung perfekt.

Berlin Berlin
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Plus, Berlin hat sich wieder zu einem Ort entwickelt, wo viele hingehen, um sich vollständig ausleben zu können. Für mich ist es die offenste Stadt, die ich je erlebt habe. In einem Land, wo solche Offenheit – gerade in Bezug auf LGBTIQ – nicht überall selbstverständlich ist. Da hat Berlin eine Sonderstellung und sich nach 100 Jahren wieder dahin entwickelt, wo die Stadt schon einmal war, bevor die Nazis alles kaputt gemacht haben. Den Besucher*innen all das mit unserer Show im Admiralspalast bewusst machen zu dürfen, empfinde ich als ein Riesengeschenk. Auch in Ergänzung zum Musical «Ku’damm 56» im Theater des Westens, wo dem Publikum die stockkonservative und homophobe Nachkriegszeit gezeigt wird, inklusive der dramatischen Szenen rund um Wolfgang, der sich einer Konversionstherapie unterzieht, um nicht mehr schwul sein zu müssen. Sprich, da sieht das Publikum zwei Seiten der deutschen Geschichte.

Dass man diese Zeit und solche Einstellungen aus den 50ern überwunden hat und zurückgefunden hat zur Freiheit – darauf kann man schon ein bisschen stolz sein.

Berlin Berlin
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Ihr seid mit «Berlin Berlin» auf Tournee gegangen. Wie waren denn die Reaktionen auf dieses freizügige Berlin-Image anderswo? Bisher habe ich unsere Show nur in Berlin spielen dürfen, und da waren die Reaktionen durch die Bank euphorisch! Wir hätten letztes Jahr nach dem Gastspiel im Admiralspalast weiterziehen sollen, u.a. nach Frankfurt, München und Köln. Aber das musste wegen Corona abgesagt werden. Wir konnten in Berlin nur wenige Vorstellungen spielen, und so kann ich zu anderen Städten noch nicht viel sagen. Aber wir gehen im Sommer 2023 nach Baden Baden, Köln, Frankfurt, Hannover und dann nach Dresden.

Kann man die Verzweiflung von damals – angesichts von wirtschaftlicher Not, Inflation, Arbeitslosigkeit – in den Liedern spüren? Es gab damals schon eine krasse Schere zwischen arm und reich. Die Leute, die es sich leisten konnten in Shows zu gehen, standen denen gegenüber, die teils aus Not als Nackttänzer*innen und Showgirls bzw. -boys in den Revuen mitmachten bei Hermann Haller, James Klein oder Erik Charell. Viele haben das nur mit Alkohol und Kokain ausgehalten. Das wird in Liedern wie «Schöner Gigolo, armer Gigolo» beschrieben. Es erzählt vom Schicksal, das damals viele Soldaten und Aristokraten traf, die alles verloren und sich verkaufen mussten. Als sogenannte Eintänzer, aber eben auch als Sexarbeiter.

Berlin Berlin
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Was ist eigentlich mit Musicaldarsteller*innen, die in Zeiten von Corona-Lockdowns arbeitslos wurden: Haben da Leute, die du kennst, aus Not auch begonnen, als «Gigolos» zu arbeiten oder bei OnlyFans anzufangen? Ich glaube, die Pandemie war in unseren Breitengraden für niemanden derart existenzbedrohend, dass man dadurch zur Prostitution gezwungen wurde. Aber ich verstehe jeden, der sich durch neue Medien wie z.B. OnlyFans etwas dazuverdienen möchte. Die Inhalte auf diesen Plattformen müssen ja auch nicht zwingend sexueller Natur sein.



Das stimmt. Aber gefühlte 99,99 Prozent aller Schlagzeilen rund um OnlyFans betreffen nicht die musikalischen oder sonstigen Angebote, sondern die sexuellen/pornografischen Inhalte (MANNSCHAFT berichtete). Bei Hermann Haller, der in den 1920er Jahren die grossen Nacktrevuen am Admiralpalast herausbrachte, war die Grenze zwischen Show und Prostitution minimal. Im Wien der 1920er Jahre war das nicht anders. Direkt hinterm Theater an der Wien befand sich bis in die 1940er Jahre hinein ein Bordell … Genau! Wir thematisieren das in unserer Show. Denn der Admiralpalast war ein Ort, wo die Trennlinien verschwimmen zwischen Showbühne und Freudenhaus, das sich direkt darüber befand, sogar noch zu DDR-Zeiten.

Wird so etwas in der Musicalbranche eigentlich thematisiert, wenn du mit Kolleg*innen redest? Bestimmt mehr als in anderen Berufsgruppen. Wir stellen grundsätzlich etwas zur «Schau» – auch uns selbst. Und jeder zieht drum herum seine eigenen Grenzen. Das liebe ich an der Showwelt, dass sich da so viele unterschiedliche Leute tummeln, die jenseits der Bühne die unterschiedlichsten Lebensläufe mitbringen. In der Showbranche zu arbeiten, ist kein einfacher Beruf. Okay, in Österreich ist man als Schauspieler ziemlich gut angesehen. Ich wohne in Wien, da freut sich eine Vermieterin, jemanden aus dem Kunstbereich als Mieter zu haben. Der Beruf hat ein gewisses Renommee. Aber das ist definitiv nicht überall der Fall. Und da beginnen die Probleme.

Was reizt dich selbst, als Musicaldarsteller bei «Berlin Berlin» mitzumachen? Es ist eine Revue, das heisst, wir kommen mit unseren Nummern immer sofort zum Punkt. Wir wollen dem Publikum ein Gefühl für diese Wahnsinnszeit geben, und das natürlich mit dem richtigen Mass an Pailletten, Federn, Glitzer und tollen Kostümen. Für mich geht wirklich ein Traum in Erfüllung. Das ist einmalig, und ich kenne in Deutschland keine andere Revue, die das mit solcher Opulenz umsetzt.

Berlin Berlin
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Ziehen Pailletten, Federn und Showbusiness schwule Männer besonders an? Ich denke schon, ja. Weil meiner Meinung nach jeder, der sich mit der Suche nach Identität beschäftigt, mit «Verkleidung» in Berührung kommt, mit Dingen, die helfen, sich zu verändern. Wir haben sicher alle schon mal ausprobiert, Dinge zu tragen, die man sonst nicht öffentlich tragen würde, Federn inklusive. Umso schöner ist es, auf einer Bühne zu sehen, dass das als absolut normal und machbar für alle dargestellt wird. Ich geniesse das, wenn Kolleg*innen um mich herum ihre Persönlichkeit so ausleben. Und sie haben alle so wunderschöne Kostüme. (lacht) Wer wäre da nicht glücklich?

Das betrifft nicht nur LGBTIQ, aber die lassen es eher zu, sich in solchen Outfits wohlzufühlen und das zu zelebrieren. Mein Eindruck ist, dass vor allem Heteromänner gehemmter sind, etwas zu tragen, was nicht der generellen Erwartungshaltung entspricht. Sie sind oft gefangener im Korsett der Normativität.

Wir haben auch die Figur des Berliners «Kutte» (gespielt vom grossartigen Sebastian Prange), den hole ich mir als Sidekick ran. Der kommt als zuckersüsser Junge in diese Showwelt und ist erst erschrocken angesichts der Freizügigkeit, die er sieht. Aber er lässt sich irgendwann darauf ein. Er feiert mit uns das Leben und die Liberalität, merkt aber – wie alle –, dass draussen dunkle Wolken aufziehen, nämlich der Nationalsozialismus.

Wenn du in Berlin bist, besuchst du da auch LGBTIQ-Institutionen, z.B. das Schwule Museum? Als ich das letzte Mal dort hinwollte, war es gerade umgezogen. Aber ich war in San Francisco im GLBT-Museum, in Wien haben wir die Lila Villa, die in diese Richtung geht. Aber ich hoffe, diesmal schaffe ich’s, ins SMU zu gehen, auch wenn dort – wie ich hörte – aktuell keine Dauerausstellung zu sehen ist, die die Zwanziger Jahre thematisiert. Aber es gibt in der Bibliothek viel Material zu der Zeit, inklusive alle Ausgaben von Hirschfelds «Jahrbuch für sexuelle Zwischenstufen». Da schau ich bestimmt vorbei!

Hinweis: Im Unterschied zur ursprünglich veröffentlichten Version dieses Interviews wurde bei der OnlyFans-Antwort der Satz zu den «anderen Inhalten» wieder eingefügt, den wir gekürzt hatten, der Simon Stockinger jedoch wichtig für den Zusammenhang seiner Aussage ist. 

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