«Ich habe mich immer hässlich gefunden – bis Paul kam»
Der Regisseur Axel Ranisch über die Magie von Oper, seine Ausgrenzungserfahrungen in der LGBTIQ-Szene und die grosse Liebe, die erst auf Umwegen kam
Axel Ranisch wurde 1983 in Ost-Berlin geboren. Er machte 2011 mit seinem Diplomfilm «Dicke Mädchen» auf sich aufmerksam. Er steht oft vor und hinter der Kamera, drehte 2016 einen berüchtigten «Tatort», schreibt Bücher und führt seit neuestem sehr erfolgreich Regie an internationalen Opernhäusern. Im neuen Rosa-von-Praunheim-Film über «Operndiven – Operntunten» ist Ranisch einer der Protagonisten, zusammen mit MANNSCHAFT-Autor Kevin Clarke. Die beiden trafen sich vorab zu einem Gespräch über die Opernszene und darüber, welche Ausgrenzungserfahrungen Ranisch in der LGBTIQ-Szene als Nerd und «übergewichtige Tunte» (Eigenbeschreibung) gemacht hat.
Alle reden von Inklusion und davon, dass weisse Cis-Männer so privilegiert seien, auch Schwule. Wie war es für dich als junger Mann in der LGBTIQ-Szene? Ich habe mich lange nach sexueller Erfahrung gesehnt, diese aber nicht bekommen. Auch, weil ich mich nicht getraut habe. Ich hab‘ es in Chat-Gruppen versucht, was mit Negativerlebnissen belastet war, weil das mit meinem Gayromeo-Profil total in die Hose ging. Ich bekam lauter dämliche Kommentare, u. a. Aufforderungen die Seite zu verlassen, weil die nicht gemacht sei für jemanden, der so dick ist wie ich. Real in eine Schwulenbar zu gehen, habe ich daraufhin gar nicht erst gewagt.
«Casta Diva»: Der erste schwule Opernführer der Welt
Wie bist du jenseits von Dating-Portalen mit deiner Homosexualität umgegangen? Ich hab‘ lange mit der Tatsache gehadert, dass ich schwul bin. Ich habe das zwar mitgekriegt, aber nicht für möglich gehalten. Ich kannte Ende der 1990er-Jahre keine Schwulen in Berlin-Lichtenberg, in meiner Schule hat sich niemand geoutet. Als ich merkte, dass ich viel mehr Verzückung bei den Jungs in meiner Klasse verspürte als bei Mädchen, wusste ich nicht, ob sonst irgendwer so fühlt. Schwule, die ich aus dem Fernsehen kannte, haben mir eher Angst gemacht, weil die grell und bunt und laut und schrill waren. Und ich auf keinen Fall auffallen wollte. (lacht)
Und dann trafst du Rosa von Praunheim! Mit 20 habe ich angefangen an der Filmhochschule zu studieren, da wurde Rosa mein Professor. Und alles änderte sich schlagartig. (lacht) Bis dahin war ich ein Mauerblümchen. Und auf einmal hat Rosa gesagt: «Das kann ja nicht sein, dass du keine Schwulen kennst! Du kommst jetzt mit zu mir!» Bei den verschiedenen Filmpartys und Geburtstagsfeiern von Rosa wurde ich dann immer vorgestellt als «der geniale Student, der noch nie Sex hatte». Plötzlich war ich in einer Szene, wo ich zumindest schon mal Kontakte zu anderen Homosexuellen hatte. (lacht) Bei Rosa waren nie Leute, die mich ablehnten oder abwerteten.
Wie ging’s weiter? Etwas schwieriger wurde es, als meine Eltern irgendwann meinen schrillen Professor zu Gesicht bekamen. Er kam zum Hausbesuch, weil er meine Eltern kennenlernen wollte. Er fragte vorher, ob er einen Kameramann mitbringen dürfe. Nach Biolek und Hape Kerkeling dachte ich: «Jetzt bin ich dran mit einem Outing!» (lacht) Ich habe Rosa am Bahnhof abgeholt und sass schweissgebadet zuhause auf dem Sofa. Ich lauschte dem Smalltalk zwischen ihm, meiner Oma und meinen Eltern. Rosa schwärmte die ganze Zeit davon, was für ein begabter Student ich sei. Und dass sie mich unterstützen sollten. Dann war er weg – ohne Outing.
Hast du dich selbst geoutet? Das hat noch einen Moment gedauert. Ich wollte warten, bis ich einen Freund hatte, den ich meinen Eltern vorstellen konnte. Aber das passierte nicht. Zwei Jahre später war ich so unglücklich verliebt in einen stockheterosexuellen Jungen und hatte solchen Liebeskummer, dass meine Mutter es bemerkte. Beim Frühstücksgespräch lieferte sie mir quasi eine Steigvorlage. Und dann kam’s raus.
Wurde es danach einfacher, einen Freund zu finden? Ich habe mich immer hässlich gefunden und mit meiner Körperlichkeit und hohen Stimme gekämpft. Weil ich überhaupt nicht maskulin bin, sondern weich wie ein Teddybär. Deswegen fand ich die Ablehnung bei Gayromeo nicht überraschend. Ich habe das einfach hingenommen. Attraktiv habe ich mich erst gefühlt, als ich meinen jetzigen Ehemann traf. Der mich so geliebt hat, wie ich bin.
Ihr habt euch sicher nicht über Gayromeo kennengelernt? Nein. (lacht) Rosa hat mit mir Mantra-artige Übungen gemacht und mir ein Buch geschenkt, in das ich reinschreiben sollte, wie der Mann aussehen müsste, den ich liebe: in Form von Gedichten und Liedern. Wenn das Buch voll sei, würde dieser Mann an meiner Tür klingeln, meinte Rosa. (lacht) Und als das Buch voll war, klingelte unverhofft ein ehemaliger Mitschüler aus der Grundschule bei meiner Mutter in der Physiotherapie. Ich sass damals mit ihr bei einem Wein und sie sagte, sie wusste schon, dass ich schwul sei, als ich 11 war. Darauf antwortete ich, dass ich mit 11 in meinem Mitschüler Paul verliebt war, der aber mit allen Mädchen knutschte. Und eben dieser Paul war am Tag nach dem Weinabend bei meiner Mutter in der Praxis und hat seine Telefonnummer hinterlassen. Das war irgendwie schräg und magisch.
Liebe auf den zweiten Blick? Ich habe etwas Mut gebraucht, um ihm eine SMS zu schicken, nachdem ich ihn 15 Jahre nicht gesehen hatte. Wir schrieben uns dann wochenlang hin und her. Schliesslich lud ich ihn zum Essen ein. Als er hierherkam interessierte er sich enorm für den Pierre-et-Gilles-Katalog auf meinem Sideboard. Da dachte ich: «Okay, er ist auch schwul, den erobere ich jetzt.» Das hat ein halbes Jahr gedauert. Jetzt sind wir seit 11 Jahren zusammen und seit drei Jahren verpartnert.
Hast du deine Erlebnisse künstlerisch verarbeitet? Es gibt den Film «Ich bin Disco», da ist die Geschichte drin. Ich habe den Roman «Nackt über Berlin» geschrieben, wo das Thema vorkommt. Den will ich nächstes Jahr als Serie verfilmen: Es geht um einen dicken schwulen Teenie, der ein Klassik-Nerd ist und sich in einen Ausländer verliebt. Ausserdem haben wir zusammen ein Hörspiel gemacht für den NDR, «Anton und Pepe». Pepe ist bipolar und Anton muss lernen, damit umgehen.
Siehst du eine neue Offenheit für Themen wie Körperideale, Bipolarität, Klassik-Nerd? Nein. Ich habe eher das Gefühl, dass wir noch oberflächlicher werden. Dadurch, dass inzwischen jeder anonym seine Meinung sagen kann, wird alles viel beleidigender als vorher.
Wie merkst du das? Da muss ich mir bloss die Kommentare bei Youtube zu meinen Filmtrailern durchlesen. Youtube ist ein harter Ort für ungefilterte Kritik. Facebook ist nicht viel besser. Der Tonfall wird rauer. Als ich einen «Tatort» drehte, war das Facebook-Bashing geradezu extrem. Da fragt sich niemand mehr, ob das, was er da schreibt, irgendwie verletzend sein könnte. Es wird einfach rausgehauen.
«Call Me by Your Name» – Die Fortsetzung kommt!
Gilt das auch für den Opernbetrieb? Da erlebe ich solche Reaktionen nicht. Zwar denke ich manchmal gegenüber all den übermännlichen Bühnentechnikern, ich sei die nutzloseste und handwerklich untalentierteste Tucke der Welt. Aber bisher hat da niemand komisch reagiert, gerade die Techniker sind sogar extrem hilfsbereit. Verglichen mit der Filmszene ist das eine tolle Erfahrung. In der Filmwelt rennen sehr viele Leute rum, die nichts können und eine grosse Klappe haben. In der Oper rennen nur Menschen rum, die was auf dem Kasten haben.
Wie bist du zur Opernmusik gekommen? Mit sechs oder sieben Jahren hat’s mich erwischt mit der klassischen Musik. Ich hab‘ mich immer so aufgehoben gefühlt in den grossen Emotionen dieser Stücke, in den gewaltigen Klängen. Das sind ja Melodramen und Tragödien. Und das wumst. Mit einem Popsong kommst du meist nicht auf mehr als drei Minuten. Den müsstest du in Endlosschleife hören, um was Vergleichbares zu erleben. Das ist ja furchtbar. (lacht) Dann war ich mit meinem Vater in Wien auf einer Reise, da wollte in abends unbedingt ins Opernhaus. Allein. Es gab den «Liebestrank» von Donizetti, das war mein Musiktheater-Erweckungserlebnis.
Was war so toll? Der grosse Zauber der Oper liegt in der Zeitlupe: Gefühle werden angehalten und man bekommt die Erlaubnis, darin zu baden, für unwahrscheinlich lange Zeit. Was andere belächeln an der Kunstform, dass da jemand fünf Minuten «Ich liebe dich» singt, das war für mich genau das, worin ich aufging. Auf der anderen Seite passieren Dinge, die eigentlich zwei Jahre dauern, in einem Nebensatz. (lacht) Das ist völlig unrealistisch, etwas das wir aus dem normalen Leben nicht kennen. Das zog mich an, weil ich damit aus der Realität heraustreten konnte.
Was waren deine Lieblingsopern? Donizettis «Lucia di Lammermoor» und «Lakmé» von Delibes in Aufnahmen mit der australischen Diva Joan Sutherland. Besonders die spektakulären Koloraturen in ihrer berühmten Glöckchenarie schienen mir damals atemberaubend schön. Nicht von dieser Welt. Überirdisch.
Ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass man auf den dunklen Stehplätzen im obersten Opernrang sexuelle Abenteuer erleben könnte.
In deinen eigenen Operninszenierungen hast du öfter schwule Elemente eingebaut … Manchmal kommen anschliessend ältere schwule Opernfans zu mir und sagen, wie schön sie es finden, dass so etwas heutzutage auf der Bühne möglich ist, dass man das nicht mehr verstecken muss.
Früher versteckten sich Operntunten in der Masse der Kultureliten – und nutzten die Opernbesuche auch zum Sex. Als Opernneuling war ich vollkommen naiv; ich wäre nie auf die Idee gekommen, dass man auf den dunklen Stehplätzen im obersten Rang sexuelle Abenteuer erleben könnte. Das ist natürlich toll, wenn Wagner in endlose Wiederholungen geht, kann man sich die Zeit vertreiben. (lacht)
Und jetzt macht Rosa einen Film, der genau das beschreibt.
Das ist für manche ein Schock. Denn: Sie gehen ja gerade deshalb in die Oper, weil das nicht anrüchig ist. Rosa reisst quasi ihr schönes Alibi ein.
«Operndiven – Operntunten» ist verfügbar in der arte-Mediathek ab 18. April
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