«Es war nicht selbstverständlich, zu sagen: Ich bin schwul»
Rio Reiser – sein Vermächtnis, seine Songs, seine Suppen
Das Geburtstagskonzert 50 Jahre Ton Steine Scherben an diesem Samstag – verschoben, wegen der Corona-Pandemie. Die Neubenennung des Berliner Heinrichplatzes nach Rio Reiser, dem Sänger der Scherben, verschoben (MANNSCHAFT berichtete). Man konnte es schon ahnen und befürchten im Juni, als wir mit der Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (GRÜNE) über Rio Reiser sprachen. Sie hat die Band früher «gemanagt»– aber das erzählt sie besser selbst.
Frau Roth, Sie waren früher Managerin von Ton Steine Scherben – wobei das Wort verpönt war. Es war verboten! Es war ein Synonym für Kapitalismus und Ausbeutungsstrategien. Daher wussten wir nie so recht, wie man mich eigentlich nennen soll. Auf einer Platte steht: Organisation – und dazu: Schneewittchen.
… und die sieben Scherben? (lacht) Genau: Schneewittchen und die anderen, die sieben Scherben.
Wie gross war denn die Band? Die Band war riesig gross und die Zusammensetzung hat sich oft geändert. Im Kern bestand sie aus Rio als Leadsänger, der auch Gitarre und Klavier spielen konnte. Dann R.P.S. Lanrue, der viele Stücke komponiert hat und ein Wahnsinnsgitarrist ist. Kai Sichtermann, der Bassist, ich fand ihn immer ganz grossartig. Funky K. Götzner an den Drums. Gitarristen habe ich mehrere erlebt. Und dann war da noch Martin Paul an den Keyboards …
Die können Sie alle nach 35 Jahren noch runterbeten? Wahrscheinlich kann man Sie nachts dafür wecken! Ja, klar, das war ja auch meine Familie. Und ich habe wahnsinnig viel erlebt und gelernt in der Zeit. Es hat mich insgesamt sehr geprägt, bis heute. Ich habe Rio kennengelernt, als ich in Dortmund am Theater war – nach einem erfolgreichen Studium von zwei Semestern (lacht). 1974 nach meinem Abi, ging’s für kurze Zeit zum Theaterstudium nach München. Schnell landete ich im Schauspiel in der Dramaturgie. Dortmund war und ist ein Dreispartenhaus plus Kinder- und Jugendtheater, der Leiter des Kinder- und Jugendtheaters war Peter Möbius, der älteste Bruder von Rio. Wir waren als Gruppe und Freunde zwei Spielzeiten zusammen in Dortmund. Einmal pro Spielzeit gab es ein Stück mit Musik, jedes Mal war Rio involviert. Da habe ich ihn kennengelernt … ganz schön lange her!
Marianne Rosenberg war damals verliebt in Rio Reiser (MANNSCHAFT berichtete) – Sie auch? Nee, verliebt war ich nicht in Rio, aber fasziniert. Rio war der erste Mann in der Öffentlichkeit, der erste Sänger, der offen schwul war und offen schwul gelebt hat. Ich kannte viele grossartige Frauen, die Rio angehimmelt haben, aber mir war immer klar: Da brauch ich gar nicht anzufangen. Rio und ich – es war eine andere Form der Liebe, keine sexuelle. Da war er sehr, sehr klar.
Es war zu der Zeit gar nicht selbstverständlich, dass ein Mann sagte, ich bin schwul. Es gab auch viel Kritik; manche Fans fanden, die Scherben sollten Revolution machen oder zumindest dazu aufrufen, das Private interessierte sie einfach nicht. Aber Rio sah das anders, ob er einen Mann liebt oder raus aus dem Ghetto will; dass die Art, wie ich lebe und liebe, und der Kampf dafür, dass ich lieben kann, wen ich will, extrem politisch ist. Das habe ich gelernt von Rio.
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Es gab, glaube ich, niemanden, der nicht fasziniert von ihm war. Er war unglaublich emotional. Ich kenne keinen Sänger, vielleicht noch Freddie Mercury, wenn mir der Vergleich erlaubt sei, der auf der Bühne so viel darstellen konnte: Der so unendlich litt, sich so unendlich freute, auch unendlich wütend war. Der mit seiner Kunst über die Bühne hinausging. Ich habe ihn sehr bewundert. Übrigens auch dafür, dass er mit Abstand der beste Suppenkoch war, den ich in meinem Leben kennengelernt habe.
Was für Suppen konnte er denn besonders gut? Naja, Rio kam ja aus Süddeutschland, also war da natürlich die Fleischbrüh’ mit Knödeln drin, er konnte aber auch wunderbare Gemüsesuppen machen. Er war der Suppenkönig. Und da wir eh nie Geld hatten, lag man mit einer Suppe ganz weit vorne. Ich lag übrigens auch weit vorn, weil ich Käs’spätzle gemacht hab. Es gibt häufig Vorstellungen, wie es in einer Kommune zugeht, bei uns war es anders. Wir lebten in einem Haus auf einem alten Bauernhof in Fresenhagen. Rio hat immer darauf geachtet, dass der Tisch schön gedeckt war – wir haben jeden Abend miteinander gegessen. Es lag da immer eine Tischdecke, sofern eine gewaschen war, und es standen Blümchen auf dem Tisch. Das war für ihn total wichtig, er war ein sehr ästhetischer Mensch.
Welche Erinnerungen haben Sie noch an Rio? Was ich von ihm gelernt habe und es hilft mir noch heute: seine unfassbaren Texte, die zeitlos sind. Texte fallen ja nicht einfach vom Himmel. Rio hatte immer eine Kladde dabei, so ein Büchlein, da schrieb er rein, was ihm aufgefallen oder durch den Kopf gegangen ist. An manchen Texten hat er Wochen, Monate, vielleicht Jahre gearbeitet – das ist schwere Arbeit. Ich kann auch eine Rede nicht einfach so raushauen.
Noch heute, wenn ich eine wichtige Rede halte oder einen schweren Text schreiben muss, höre ich mir Musik von den Scherben an oder schaue in das Notenbuch. Die Texte sind unglaublich gut, die ersten sind von 1970/71. Sie haben auch heute noch eine grosse Bedeutung. Rio hat Liebeslieder geschrieben, die sind heute so richtig wie damals. «Für immer und dich» oder traurige Lieder wie «Junimond» über das Ende einer Beziehung. Das kennt auch noch die dritte Generation nach den ersten Scherben-Fans, durch das Cover von Echt.
Sie haben mal gesagt, dass es neben den Texten auch auf die Performance, die Maske, das Kostüm ankommt. Auch das haben Sie von ihm gelernt. Ja natürlich. Nun kam ich ja vom Theater. Auch Rio hat sehr drauf geachtet, was er für ein bestimmtes Konzert anzog. Er hatte wunderbare rote Samtjacken, darunter eine Art Smoking; auch eine alte Jacke von meinem Opa, die hab ich ihm mal gegeben, darin sah er supertoll aus. Er sah immer unfassbar locker aus, aber es war alles wohl überlegt. Oft ist Kleidung auch für dich selber eine Art Schutz, manchmal braucht man einfach den eigenen Kampfmantel oder etwas an dir, das dich beschützt und glücklich macht. Du ziehst es an als Kraftspender.
Als ich beispielsweise 1994 den Bericht zu gleichen Rechten für Schwule und Lesben im Europäischen Parlament gemacht habe, trug ich mein Kampf-Outfit. Der Bericht wurde auf eine Montagnachtsitzung verschoben, weil das Thema einigen im Parlament nicht geheuer war, sie wollten möglichst verhindern, dass es an die Öffentlichkeit kommt. Aber dank der Schwulenbewegung aus den Niederlanden waren die Ränge im Europäischen Parlament voll, spät nachts. Es war ein unfassbarer Kampf. Einige sahen mich als leibhaftigen Teufel, wie es Ian Paisley aus Nordirland damals ausdrückte. Natürlich habe ich damals überlegt: Was ziehe ich da an?!
Und ich entschied mich für ein Kostüm, hellblaues Hemd und eine Krawatte. Ich weiss ehrlich gesagt gar nicht mehr, warum. Vielleicht wollte ich provozieren, und es hat auch funktioniert. In den Reden fielen dann auch Sätze wie: Naja, wenn jemand wie die das macht oder wie der – man sprach mich dann mit Herr Roth» an, das war total gaga!
Rio ist 1996 gestorben, er wäre dieses Jahr 70 geworden. Im September jährt sich erste Auftritt der Roten Steine, wie die Scherben anfangs hiessen, und der Berliner Heinrichplatz wird umbenannt – wenn auch etwas später. Wie würde Rio das wohl finden: einen eigenen Platz? (überlegt) Er würde so tun, als wäre es übertrieben. Aber gewiss würde er sich sehr freuen – er war gar nicht eitel. Wahrscheinlich würde er dann ein tolles Konzert geben und es würden viele Freunde kommen. Er würde darauf bestehen, dass da ein Flügel steht, alles super ausgeleuchtet ist, und dann würde er „Somewhere over the Rainbow singen».
Eigentlich gilt in Kreuzberg: Strassen oder Plätzen, die umbenannt werden, bekommen erstmal Frauennahmen. Dass für Rio eine Ausnahme gemacht wird, ist okay? Ich weiss nicht, ob es viele schwule Namenspatronen für Strassen oder Plätze gibt. Ich bin sehr dafür, dass Frauen sichtbar gemacht und gewürdigt werden, und es ist ebenso überfällig, dass ein schwuler Mann gewürdigt wird, der viel Mut aufgebracht, der rausgeschrien hat: Ich will ich sein, ich will leben, wie ich leben will, ich will lieben, wen ich lieben will. Er war ein Kämpfer, der vielen Mut gemacht, ihnen Kraft gegeben hat. Rio war nicht nur der Sänger von Ton Steine Scherben, sondern auch ein Vorreiter für gleiche Rechte.
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Sie sind nach den Scherben zu den GRÜNEN gegangen, waren dann Parteichefin und sind jetzt Bundestagsvizepräsidentin. 1985 hat die Band mehrheitlich beschlossen, sich aufzulösen und keinen Vertrag mit einer Plattenfirma zu machen. Ich war für die Plattenfirma, die Mehrzahl war aber der Meinung, dass man sich nicht korrumpieren lassen dürfe; die Scherben wollten immer unabhängig sein. Und für mich war super klar: Ich will nicht zu einer anderen Band, auch nicht zurück ans Theater. Dann haben wir die letzte LIVE LP gemacht und sie in der taz beworben. Das Belegexemplar von der taz wurde uns nach Fresenhagen geschickt, und neben der Anzeige von den Scherben stand die Anzeige: Grüne im Bundestag suchen Pressesprecherin.
Die Band hat sich das angeguckt und Lanrue sagte: Claudia, das ist dein Job! Kai hat das Pendel rausgeholt, gependelt und siehe da: Claudia, 100 %, dein Job! In der Anzeige stand allerdings was von Studium und Berufserfahrung und so weiter. Das einzige, was ich erfüllt habe, war, dass ich eine Frau bin. Die Band beschloss dennoch, dass ich mich bewerbe. Und wir haben ernsthaft überlegt: Brauche ich Zeugnisse? Muss mir Rio eins schreiben?
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Hat er das gemacht? Nein! Was für eine irre Idee, mir von Rio ein Zeugnis schreiben zu lassen. Ich habe einen 10-seitigen Brief geschrieben, handschriftlich. Ich hatte beispielsweise Ideen, wie man die Performance bei Grünen-Veranstaltungen verbessern kann. Dann bin ich eingeladen worden, und es stellte sich die Frage: Was zieht man da an? Der Realo-Teil der Band sagte, ich müsse Birkenstock tragen und einen meiner übergrossen selbstgestrickten grässlichen Pullis. Ich hatte allerdings gerade meine schwarze Lederphase, mit Strass, Nieten und hohen Schuhen. So bin ich da hin und wurde Pressesprecherin.
Rio ist 1990 der PDS beigetreten, die später zur LINKE wurde … Claudia Roth verzieht das Gesicht. … und hat auch Wahlkampf für die PDS gemacht. Hat Sie das enttäuscht?
Rio hatte viele Fans in der DDR. Es kamen immer wieder Briefe, Hilferufe: Spielt doch mal bei uns! Ich habe es damals über Jahre versucht, habe auch dauernd Platten in den Osten geschickt – ich weiss gar nicht, wie viele jemals angekommen sind … Jedenfalls haben wir nie die Auftrittsmöglichkeit bekommen. Und dann gab es das Jazz nad Odra Festival in Wroclaw, Breslau. Es war die Idee von Fans aus der DDR, dass wir in Polen auftreten, damit sie alle dorthin kommen können. Es war ein Drama, die Grenzer haben uns 12 Stunden an der Grenze festgehalten, und wir sind viel zu spät angekommen, hatten unseren Auftritt verpasst. Zum Glück haben wir am Tag drauf noch spielen können.
Rio war ein Romantiker, er hatte diese Sehnsucht oder Vorstellung, dass man die Menschen bei der Wiedervereinigung wirklich vereinigt, nicht einfach annektiert. Ich glaube, er fand Gregor Gysi auch spannend und lernte Musiker aus der ehemaligen DDR kennen, mit denen er Musik machte, und deswegen ist er auch für die PDS aufgetreten. Es gab keinen Bruch, und auf lange Sicht, glaube ich, hätte sich das wieder eingependelt (lacht). Ich will ihn nicht vereinnahmen, denn er war nicht zu vereinnahmen.
Was bleibt von Rio? Er ist leider viel zu früh gestorben, fürchterlich. Er ist in einer Zeit gestorben, wo er wieder produziert hat und sehr kreativ war. Es ist ein schwerer Verlust, er würde auch heute noch total gebraucht, gerade, wenn ich mir die heutigen Entwicklungen anschaue, Rassismus und Rechtsextremismus, Ewiggestrige, junge und alte Nazis in den Parlamenten. Es gäbe so viele Gründe, dass die Band wieder auftritt und in ihrer Originalbesetzung spielt. Ja, wenn es die Band von damals wieder gäbe und sie mich wieder haben wollen würden: Ich würde mir überlegen, wieder hinzugehen.
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