Blues-Ikone Gladys Bentley: «Ich bin wieder eine Frau»
Portrait einer queeren Künstlerin im 20. Jahrhundert
Erst trug sie Anzüge, dann nur noch Kleider. Offen lesbisch, dann bekennend heterosexuell. Die zwei Seiten der Gladys Bentley.
Mary Mote hatte für einen Sohn gebetet. An einem Montag im Jahr 1907 presste sie ihre Tochter Gladys Bentley auf die Welt. Enttäuschung. Sechs Monate wollte sie das Kind nicht berühren. Die Grossmutter zog es mit der Flasche auf. «Die meiste Zeit meiner Kindheit war ich allein», schrieb Gladys Bentley Jahrzehnte später im Ebony Magazine.
Gladys Bentley wuchs in Philadelphia auf. Sie hatte drei Geschwister. Doch sie hasste ihre Brüder, und vom Vater rannte sie davon. «Ich denke der Grund war, dass sie bewundert wurden, und ich verachtet», schrieb sie. Mit neun trug sie zum ersten Mal einen Anzug in der Schule. Mitschüler*innen schikanierten sie, Lehrer*innen schickten sie heim. Zuhause nur Streit. «Ich war das Sorgenkind.» Mit 16 riss sie aus, ging nach New York. Sie wollte singen
Gladys Bentley zog ins Stadtviertel Harlem. Seit fünf Jahren war Alkohol im ganzen Land verboten. Prohibition. In Harlem aber scherte das niemanden. Hier erblühte, nachts und im Geheimen, eine Kneipen-Szene. In Harlem fand man alles, was verboten und anders war. Und Gladys Bentley, das offen lesbische, mollige Mädchen, das in Männerklamotten über Analsex sang, war anders. 20 Jahre später wird sie Kleider tragen, sich weibliche Hormone spritzen, und in aller Öffentlichkeit verkünden, sie sei von der Homosexualität geheilt. Eine Frau hadert mit der eigenen Identität. Wer war Gladys Bentley?
Wie viele Erfolgsgeschichten begann auch die von Gladys mit etwas Glück. In New York angekommen, ergatterte sie alsgleich ein Vorsprechen bei einem Broadway-Agenten. «Er war begeistert vom Rhythmus und den feurigen Nummern, die ich spielte», schrieb sie. Sie bekam einen Plattenvertrag und vierhundert Dollar – zur damaligen Zeit eine enorme Summe. «Ich war sehr aufgeregt.»
Ihre Platte verkaufte sich gut. «Aber ich merkte bald, dass man als neuer Plattenkünstler nicht einfach nur stolz herumsitzen kann», schrieb Gladys Bentley. Also begann das Mädchen in Bars aufzutreten. Sie hatte kein festes Arrangement als Sängerin, sprang nur in den Pausen ein, um etwas Trinkgeld abzugreifen. Eines Abends erzählte ihr ein Freund, dass der Club «Mad House» einen neuen Pianisten suche. «Aber sie wollen nur einen Jungen», sagte er.
«Es gibt keinen besseren Zeitpunkt für Sie, ein Mädchen zu wählen», antwortete Gladys Bentley und zog los. Im «Mad House» zögerte der Chef zunächst, doch liess sie vorspielen. «Meine Hände flogen förmlich über die Tasten. Als ich die Nummer beendet hatte, war der Applaus grossartig», schrieb Gladys Bentley. Der Chef bot ihr 35 Dollar die Woche. «Ich begann sofort mit der Arbeit.»
Ich brauch keinen Mann, dem ich mein Geld geben muss.
Aus 35 wurden 125 Dollar. Gladys Bentley trug weisse Hemden, Fliegen, Röcke, ihre kurzen Haare nach hinten gekämmt. «Ich brauch keinen Mann, dem ich mein Geld geben muss», sang sie in tiefer Stimme, schenkte den Frauen tiefe Blicke. Ihre Show zog Schaaren in den Club. Bald bekam sie Angebote aus der Park Avenue. Liess Harlem und die Röcke hinter sich. Trug nun Smoking, Zylinder, Lackschuhe. Ihr Gehstock in der einen Hand, in anderen das Mikrofon. Es folgten Tourneen, Platten, eine eigene Radioshow. Sie hatte ein teures Auto, ein teures Apartment, teure Freunde. «Während ich grosse Geldsummen verdiente, weinte ich in meinem geheimen Herzen», schrieb Gladys. Was war der Applaus wert, kam er von Menschen, die sie nicht verstanden. «Die Leute lobten mich als Künstlerin und verurteilten gleichzeitig meine persönliche Lebensweise aufs Schärfste.»
Ihre schlüpfrigen Texte, das Flirten mit Frauen, nachts hinter geschlossenen Türen war das aufregend. Doch tags und in den Strassen wollte das niemand sehen. 1933, acht Jahre nachdem Gladys Bentley in Harlem angekommen war, schafften sie die Prohibition ab. Mit der Aufhebung des Alkoholverbots hob sich gleichzeitig das Interesse für Gladys Bentley auf; schwang im Laufe der Jahre sogar in Missbilligung um. Homosexualität, so glaubte man, sei ein hormonelles Ungleichgewicht, eine Krankheit. Homosexuelle, eine Randgruppe, die Amerika dem Kommunismus ausliefern will. Gladys Bentley sang weiter, doch nun in Frauenkleidern.
1952 erzählte sie ihre Geschichte im Ebony Magazine. Die Überschrift: «I am a woman again» (Ich bin wieder eine Frau). Auf den Bildern kocht sie und bezieht das Ehebett. Sie hat geheiratet – einen Mann. Er hiess Don und war Matrose. «Er hörte mir zu, als würde er jedes Wort verstehen», schrieb Gladys Bentley. Für ihn wollte sie ihr Lesbisch-Sein ablegen. Sie liess sich weibliche Hormone spritzen – drei Dosen wöchentlich, für ein halbes Jahr. «Teuer, aber jeden Penny wert», schrieb sie. In ihrem letzten Fernsehauftritt trug sie Perlenketten und Seidenkleid. Sie sah glücklich aus. An einem Montag 1960 starb Gladys Bentley unerwartet. Sie wurde neben Mary Mote beigesetzt. Der Mutter, die für einen Sohn gebetet hatte.
Unterstütze LGBTIQ-Journalismus
Unsere Inhalte sind für dich gemacht, aber wir sind auf deinen Support angewiesen. Mit einem Abo erhältst du Zugang zu allen Artikeln – und hilfst uns dabei, weiterhin unabhängige Berichterstattung zu liefern. Werde jetzt Teil der MANNSCHAFT!
Das könnte dich auch interessieren
Deutschland
Basketballerin Deeshyra Thomas: «Am Ende ist alles Liebe»
Hochzeit, Babyglück, Meisterschaft: Bei Deeshyra Thomas ist in den vergangenen zwei Jahren viel passiert. Sportlich wie privat könnte die lesbische Berliner Basketballerin kaum glücklicher sein.
Von Carolin Paul
MANNSCHAFT+
News
Kultur
Alter Ego: Der Sirenengesang der Schokolade
Von Mirko Beetschen
International
Joe Biden über Queers: «Sie haben mehr Mut als die meisten Menschen»
US-Präsident Joe Biden gewährte dem LGBTIQ-Magazin The Washington Blade ein Interview. Darin würdigte er die queere Community und ihre historische Rolle im Kampf gegen Gewalt und Diskriminierung.
Von Newsdesk
News
Kultur
Troye Sivan: «Ich muss nicht durchs Land touren, um Sex zu haben»
Troye Sivan wehrt sich gegen die Behauptung in einer Klatschkolumne, er sei nur auf US-Tournee, um sich unterwegs bei Grindr zu vergnügen und Sex zu haben.
Von Newsdesk
Community