Fitnessmodel und Diversity-Aktivist trotz MS – «Jetzt erst recht!»
Die Community fordere nach aussen Toleranz und sei selbst intolerant, so Christian Schmalstieg
Christian ist MS-Patient und selbsternannter «Herzblut-Aktivist». Im Interview mit MANNSCHAFT+ spricht er über sein Engagement und über den Umgang der LGBTIQ-Community mit behinderten Menschen.
Christian Schmalstieg ist 37 und wohnt mit seinem Mann und zwei Hunden in Dortmund. Er hat mehrere chronische Krankheiten, darunter Multiple Sklerose und Migräne. Dennoch verkriecht er sich nicht: Er geht auf politische Vertreter*innen zu und nutzt die sozialen Medien, um die Gesellschaft für Vielfalt und Offenheit zu sensibilisieren. Seit Kurzem ist Christian auch wieder zurück im Arbeitsleben: als Chief Inclusion & Diversity Ambassador einer IT-Firma.
Christian, in deiner Instagram-Story stand, dass du heute Morgen bereits im Gym warst. Das braucht ja schon für gesunde Menschen Überwindung – wie ist das für dich? Ich sag mal so: Wenn ich meinen Hintern einmal im Bus habe und dann im Fitnessstudio ankomme, ist es OK. Diese Disziplin aufrecht zu erhalten, muss einfach sein. Ich musste in letzter Zeit leider etwas pausieren, weil ich vor Kurzem meinen Ischiasnerv eingeklemmt hatte, mittlerweile kann ich aber wieder schmerzfrei trainieren.
Wird MS-Patient*innen Sport empfohlen oder kann das auch kontraproduktiv sein? Die in der Wissenschaft vorherrschende Meinung ist, dass Bewegung bei MS im Allgemeinen gut ist. Das trifft auch auf mich persönlich zu. Nach meiner Diagnose 2017 ging ich am Stock, war kurz vor dem Rollator und auch in einer tiefen Depression. Unter anderem wegen einiger Trauerfällen in meiner Familie und der MS-Diagnose an sich. Ich habe dann langsam angefangen mit fünfminütigen Spaziergängen, habe zwei Labradore bei mir zuhause aufgenommen, mit denen man natürlich täglich raus muss. Dadurch geht es mir nicht nur körperlich, sondern auch mental besser. Heute kann ich ohne Hilfe gehen – nicht ganz so rund wie andere Leute, aber immerhin. Aufgeben ist keine Option.
Mit mühelosem Gehen gibst du dich allerdings nicht zufrieden: In einem Interview stand, dass du das «erste queere, schwerbehinderte sowie chronisch kranke Fitnessmodel Deutschlands» werden möchtest. Genau, obwohl ich ja eigentlich den Ausdruck «Fitnessmodel» nicht so passend finde. Mein Ziel ist es einfach, eine Person des öffentlichen Lebens zu werden. Und das will ich nicht, weil ich ein dickes Ego habe, sondern weil ich überzeugt bin, dass ich gleich mehrere wichtige Themen verkörpere, die viel mehr Sichtbarkeit brauchen und stärker im gesellschaftlichen Diskurs präsent sein sollten. Ausserdem möchte ich ein Vorbild sein und eine motivierende Message rüberbringen: «Wenn ich das als behinderter, bald 40-jähriger Rentner mit drei chronischen Krankheiten schaffe, dann schaffst du das auch!» Nicht zuletzt habe ich den Anspruch an mich selbst, fit auszusehen – jetzt erst recht!
Das Äusserliche spielt in der Community bekanntlich eine grosse Rolle: Sind LGBTIQ-Menschen zu oberflächlich? Wie gehen sie mit behinderten Menschen um? Ich werde auf Instagram oft von Männern angeschrieben. Wenn ich dann sage, dass ich vergeben sei, schwindet das Interesse. Erwähne ich mein Engagement als MS-Betroffener, sind sie sofort weg. Intersektionalität, also die Gleichzeitigkeit verschiedener Formen von Diskriminierung, wird in der Community völlig vernachlässigt. Wir fordern Toleranz nach aussen, aber sind nach innen so ziemlich das intoleranteste Volk, das es gibt. Das ist schade.
So gesehen war es gut, dass du deinen heutigen Mann schon vor deiner Diagnose kennengelernt hast. Ja, wobei es mit ihm auch nicht immer ganz einfach ist und selbst er mit seinem Verständnis manchmal an seine Grenzen kommt. Meine Erschöpfungszustände können innerhalb von Sekunden auftreten; dann bin ich total erschöpft, kann aber zugleich nicht schlafen. Er sagt zum Beispiel: «Eben konntest du noch staubsaugen und jetzt willst du plötzlich zu müde fürs Café sein!» Für andere Menschen, die mich nicht so gut kennen wie er, ist das alles natürlich noch viel schwieriger zu verstehen.
Was sollten mehr Leute über Multiple Sklerose wissen? Dass jeder Mensch einen einzigartigen Verlauf und individuelle Symptome hat. Das macht MS so komplex. Wichtig ist, dass man offen darüber spricht und auch Fragen beantwortet, wenn es welche gibt.
Auf deinem Instagram-Kanal kommunizierst du sehr positiv über deine Krankheiten. Ich habe festgestellt, dass Drama in den sozialen Medien nix bringt. Wenn man jammert, kriegt man kurz den Kopf getätschelt, das war’s. Wer will schon die ganze Zeit einem Jammerlappen zuhören? Die Akzeptanz der Krankheit ist der erste Schritt in die richtige Richtung, das musste auch ich erst lernen.
Deine erfolgreiche Tätigkeit auf Social Media hat dir jetzt einen neuen Job eingebracht! Kannst du dazu etwas erzählen? Das IT-Beratungs- und Softwareentwicklungsunternehmen Itemis AG ist auf mich zugekommen. Zuerst wusste ich nicht, was eine IT-Firma mit Diversität zu tun haben soll, aber das war natürlich doof von mir, denn Diversität betrifft ja alle – das Leben an sich ist divers! Wir hatten viele gute Gespräche und am Ende war es so, dass ich mir selber eine Jobbeschreibung und -Bezeichnung geben durfte: «Chief Inclusion & Diversity Ambassador». Dabei darf ich bis zwei Stunden pro Tag unter anderem inklusive und diverse Projekte erstellen und umsetzen, kommunikativ nach innen und aussen für Inklusion sowie Diversität einstehen und in einer Vorbildfunktion sportliche Förderung von marginalisierten Gruppen betreiben. Itemis gibt mir dabei absolute Freiheit – und dazu noch einen eigenen Personal Trainer, der mich in meinem sportlichen Bestreben unterstützt! Ich meine, wie geil ist das denn!
Und was möchtest du mit deinem Engagement noch erreichen? Ich habe ein grosses Ziel: Ich will an einer strukturellen Veränderung der Gesellschaft mitwirken, ich will massgeblich daran beteiligt sein, die Welt inklusiver, diverser und toleranter zu machen. Aktivismus heisst für mich, andere zu «aktivieren». Wenn durch mich nur zwei von hundert Menschen anders denken, können sich diese Botschaften durch den Multiplikatoreneffekt exponentiell verbreiten. Ich wünsche mir, dass am Ende alle – natürlich innerhalb der gesetzlichen Grenzen – so leben können, wie sie wollen.
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